Wie kann es sein, dass 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung wieder um sich greifen, fragt JOURNAL FRANKFURT-Chefredakteurin Ronja Merkel in ihrem Editorial.
Ronja Merkel /
Vor einem Jahr erschien unsere Ausgabe „Gesicht zeigen! Warum Antisemitismus und Rassismus in Frankfurt keinen Platz haben“. Acht mutige Frauen und Männer haben uns damals in ihre jeweilige (jüdische) Lebensrealität mitgenommen – sie haben „Gesicht gezeigt“ für eine Gesellschaft, in der es sich lohnt, zu leben. Ein Jahr später müssen wir feststellen, dass sich die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben. Ein Jahr später trauern wir um Walter Lübcke und sind erschüttert angesichts des Anschlags in Halle.
Wie kann es sein, dass 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung wieder um sich greifen, dass rechtsradikale Parolen erneut salonfähig werden und es bis in unsere gewählten Parlamente schaffen? Haben wir denn nichts gelernt? Und wie kann es sein, dass so viele von uns, die es doch „besser wissen“ müssten, bloß benommen schweigend dastehen, untätig und unfähig?
Blättert man dieser Tage durch die Zeitungen und Zeitschriften oder schaltet durch die Fernseh-Talkshows, sieht man sich allzu häufig einer vollkommen fehlinterpretierten politischen Korrektheit gegenüber, die nicht etwa diejenigen schützt, die tatsächlich über Jahrzehnte bis Jahrhunderte hinweg Opfer einer diskriminierenden Sprache wurden. Vielmehr werden Rechtspopulisten und Demagogen mit Samthandschuhen angefasst, mit der Begründung, sie seien „demokratisch gewählt“. Der Begriff Meinungsfreiheit wird in diesem Kontext auf geradezu perverse Art ad absurdum geführt. Hitler und die Nazis als einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte zu bezeichnen, ist kein Ausdruck von Meinungsfreiheit. Das ist schlichtweg Nazi-Jargon – und der muss für immer unsagbar bleiben.
Nie wieder dürfen wir zulassen, dass sich Menschen aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder ihrer sexuellen Orientierung bedroht fühlen. Nie wieder dürfen wir zulassen, dass Populisten unsere Demokratie zum Einstürzen bringen. Niemals dürfen wir zulassen, dass unsere Geschichte in Vergessenheit gerät. Vorurteile und Hass erwachsen vor allem aus Unwissenheit – und jede und jeder von uns ist aufgerufen, aktiv gegen das Vergessen, gegen Geschichtsrevisionismus und für eine offene, pluralistische, demokratische Gesellschaft einzustehen.
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin.