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Michel Friedman über Auschwitz, Muslime und Pegida
"Jeder Rassismus, der hingenommen wird, wird salonfähig"
Der Publizist Michel Friedman spricht im Interview über den zunehmenden Rassismus und Antisemitismus, die Pegida-Bewegung und erklärt, warum der Holocaust wieder passieren kann.
Journal Frankfurt: Herr Friedman, Sie kommen gerade von einer Recherchereise aus Krakau zurück, genauer: der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, die sich auf den 70. Jahrestag der Befreiung vorbereitet. Was hat sich dort seit ihrem letzten Besuch verändert?
Michel Friedman: Dort ist eine neue, eine junge Generation sichtbar, sowohl bei politischen Verantwortlichen der Gedenkstätte als auch bei den Besuchern. Sie haben eine andere Perspektive aufgrund ihrer persönlichen Biographie, die schuldlos und frei ist. Dadurch entsteht konstruktive Distanz. Mein Eindruck ist, dass sie allerdings interessierter, betroffener, nachdenklicher sind.
Früher sagte man: Auschwitz darf nicht wieder passieren. Heute hört man: Auschwitz kann nicht wieder passieren. Was ist ihr Eindruck?
Im Gegensatz zu allen Genoziden war das Todesurteil für die Juden unabhängig von geostrategischen, machtpolitischen oder ideologischen Fragen. Die Massentötung war Zweck und Ziel an sich und für sich. Ein Rettung war dabei nicht vorgesehen. Das Ende der Tötung sollte erst stattfinden, wenn der letzte Jude vernichtet war. Auschwitz und der Holocaust waren singulär, die industrielle, vom Staat organisierte Massenvernichtung von Menschen bis zu ihrem endgültigen Verschwinden, ohne dass sich ein Ausweg geboten hätte, hat es in der Geschichte vorher und nachher nicht gegeben. Da das Undenkbare möglich geworden ist, sollten wir tunlichst damit rechnen, dass es wieder passieren kann.
Wehret den Anfängen, heißt es oft …
… und es gab schon so viele Anfänge! Auschwitz war der Endpunkt der Gewalt. Es ist wohlfeil zu sagen, Auschwitz hätte es nicht geben dürfen. Aber vor Auschwitz gab es so viele Anfänge und sie wurden akzeptiert. An diesen Anfangspunkten muss man ansetzen. Die hätten auch nie sein dürfen. Hätte es sie nicht gegeben, hätte es den Endpunkt Auschwitz auch nicht gegeben.
Was können die Auschwitz-Tage am Schauspiel Frankfurt da leisten?
Sie klären auf, sie tragen die Geschichte in die Gegenwart, sie versuchen emotional und kognitiv die Zuschauer anzusprechen und Erinnerungsarbeit aus der Vergangenheit für das Handeln unserer Gegenwart abzufragen. Wie ist es heute mit den Anfängen? Ich bin zunächst einmal unendlich dankbar, dass es die Reihe am Schauspiel gibt. Vor einem Jahr war es nur ein Gespräch am Frühstückstisch mit Intendant Oliver Reese, bei dem ich fragte, ob der 70. Jahrestag der Befreiung eine Rolle im Theater spielen wird. Er war sofort engagiert und es ist seinem Team zu verdanken, dass nun ein so großartiges, so intensives, ernsthaftes Programm steht, bei dem es Stücke und Aufführungen gibt, Diskussionen und Debatten geben wird. Denn: Theater ist auch ein politischer Raum, ein Raum der Nachdenklichkeit und Reflexion.
Glauben Sie, dass die junge Generation aus der Geschichte lernt?
Ich bin grundsätzlich skeptisch, ob und wie der Mensch lernfähig ist und vor allen Dingen wie schnell. Das soll aber keine demotivierende Aussage sein, denn eines ist sicher: Wissen und Lernen wir nichts, wird es mit Sicherheit nicht besser. Also können wir nur gewinnen, wenn wir es wenigstens versuchen.
Es gibt die, die sich für Politik und Geschichte interessieren und damit auch aus der Geschichte lernen wollen. Nicht um mit Schuld behaftet zu sein, sondern um für die Gegenwart für sich selbst Antworten zu finden. Dann gibt es jene, die völlig geschichtslos sind, die auch von Bildungsinstitutionen nicht mehr erreicht werden. Es gab kürzlich im Spiegel eine Umfrage, laut der jeder fünfte Jugendliche mit dem Begriff Auschwitz nichts mehr anfangen kann. Und es gibt eine wachsende Zahl von jungen Menschen, die Rassisten, Antisemiten, Nazis sind, ob nun mit oder ohne Nadelstreifen. Wer in diesem Zusammenhang von Anfängen spricht, verharmlost die Realität.
Und die gegenwärtigen Anfänge?
Eine Umfrage der EU sieht bei 10 bis 20 Prozent der Bürger antisemitische Vorurteile und Ressentiments. Und gerade wurde erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen eine Sondersitzung zum weltweit aufflammenden Antisemitismus abgehalten, der UN-Generalsekretär sprach davon, dass in Europa der Hass gegen Juden zunehme. Da sieht man, dass der Judenhass sein Gift immer noch spuckt.
Wenn man sich die Pegida-Bewegung anschaut, sind es derzeit auch die Muslime, die als Minderheit verfolgt werden.
Jeder Rassismus, der hingenommen wird, wird salonfähig und deswegen sehe ich es nicht nur als meine Pflicht, sondern als Pflicht der Gesellschaft sich aus vollem Herzen einer Bewegung entgegenzustellen, die die Islamfeindlichkeit schon in ihrem Titel trägt. Das moderne, aufgeklärte Selbstverständnis der Bundesrepublik gegen jede Form von Rassismus spiegelt sich im Grundgesetz wider. Ausländerfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit, Judenfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit. Rassisten sind Demokratiefeinde und verstoßen gegen das Grundgesetz. Deswegen setzen wir uns nicht der Minderheiten wegen alleine ein, sondern weil Rassismus jeden Menschen trifft und nicht nur die konkrete Gruppe, bei der er sich austobt.
In Frankreich tragen sich einige Juden mit dem Gedanken auszuwandern. Gibt es diese Diskussion in Deutschland, in Frankfurt auch?
Es ist eine neue Enthemmung spürbar, eine Veränderung des Koordinatensystems. Gewalt ist alltäglicher geworden. In Frankfurt wurde auf einer Demo während des Gazakrieges „Juden ins Gas“ skandiert, ein Jude, der sich als solcher mit Kippa zu erkennen gab, wurde angegriffen. Und natürlich werden solche Begebenheiten wie auch jene im Rest Europas überaus sensibel und mit einer Portion Angst diskutiert. Die Lage ist angespannt. Rassisten und Antisemiten sind keine Quantité négligeable mehr und man muss sich ihnen mit Macht entgegenstellen. Das alle Menschen gleich sind, ist der Grundpfeiler unserer Verfassung.
Interview: Nils Bremer
Mehr zum Thema lesen Sie im Journal Frankfurt vom 27. Januar 2015. Titelthema: Anne Frank.
Michel Friedman: Dort ist eine neue, eine junge Generation sichtbar, sowohl bei politischen Verantwortlichen der Gedenkstätte als auch bei den Besuchern. Sie haben eine andere Perspektive aufgrund ihrer persönlichen Biographie, die schuldlos und frei ist. Dadurch entsteht konstruktive Distanz. Mein Eindruck ist, dass sie allerdings interessierter, betroffener, nachdenklicher sind.
Früher sagte man: Auschwitz darf nicht wieder passieren. Heute hört man: Auschwitz kann nicht wieder passieren. Was ist ihr Eindruck?
Im Gegensatz zu allen Genoziden war das Todesurteil für die Juden unabhängig von geostrategischen, machtpolitischen oder ideologischen Fragen. Die Massentötung war Zweck und Ziel an sich und für sich. Ein Rettung war dabei nicht vorgesehen. Das Ende der Tötung sollte erst stattfinden, wenn der letzte Jude vernichtet war. Auschwitz und der Holocaust waren singulär, die industrielle, vom Staat organisierte Massenvernichtung von Menschen bis zu ihrem endgültigen Verschwinden, ohne dass sich ein Ausweg geboten hätte, hat es in der Geschichte vorher und nachher nicht gegeben. Da das Undenkbare möglich geworden ist, sollten wir tunlichst damit rechnen, dass es wieder passieren kann.
Wehret den Anfängen, heißt es oft …
… und es gab schon so viele Anfänge! Auschwitz war der Endpunkt der Gewalt. Es ist wohlfeil zu sagen, Auschwitz hätte es nicht geben dürfen. Aber vor Auschwitz gab es so viele Anfänge und sie wurden akzeptiert. An diesen Anfangspunkten muss man ansetzen. Die hätten auch nie sein dürfen. Hätte es sie nicht gegeben, hätte es den Endpunkt Auschwitz auch nicht gegeben.
Was können die Auschwitz-Tage am Schauspiel Frankfurt da leisten?
Sie klären auf, sie tragen die Geschichte in die Gegenwart, sie versuchen emotional und kognitiv die Zuschauer anzusprechen und Erinnerungsarbeit aus der Vergangenheit für das Handeln unserer Gegenwart abzufragen. Wie ist es heute mit den Anfängen? Ich bin zunächst einmal unendlich dankbar, dass es die Reihe am Schauspiel gibt. Vor einem Jahr war es nur ein Gespräch am Frühstückstisch mit Intendant Oliver Reese, bei dem ich fragte, ob der 70. Jahrestag der Befreiung eine Rolle im Theater spielen wird. Er war sofort engagiert und es ist seinem Team zu verdanken, dass nun ein so großartiges, so intensives, ernsthaftes Programm steht, bei dem es Stücke und Aufführungen gibt, Diskussionen und Debatten geben wird. Denn: Theater ist auch ein politischer Raum, ein Raum der Nachdenklichkeit und Reflexion.
Glauben Sie, dass die junge Generation aus der Geschichte lernt?
Ich bin grundsätzlich skeptisch, ob und wie der Mensch lernfähig ist und vor allen Dingen wie schnell. Das soll aber keine demotivierende Aussage sein, denn eines ist sicher: Wissen und Lernen wir nichts, wird es mit Sicherheit nicht besser. Also können wir nur gewinnen, wenn wir es wenigstens versuchen.
Es gibt die, die sich für Politik und Geschichte interessieren und damit auch aus der Geschichte lernen wollen. Nicht um mit Schuld behaftet zu sein, sondern um für die Gegenwart für sich selbst Antworten zu finden. Dann gibt es jene, die völlig geschichtslos sind, die auch von Bildungsinstitutionen nicht mehr erreicht werden. Es gab kürzlich im Spiegel eine Umfrage, laut der jeder fünfte Jugendliche mit dem Begriff Auschwitz nichts mehr anfangen kann. Und es gibt eine wachsende Zahl von jungen Menschen, die Rassisten, Antisemiten, Nazis sind, ob nun mit oder ohne Nadelstreifen. Wer in diesem Zusammenhang von Anfängen spricht, verharmlost die Realität.
Und die gegenwärtigen Anfänge?
Eine Umfrage der EU sieht bei 10 bis 20 Prozent der Bürger antisemitische Vorurteile und Ressentiments. Und gerade wurde erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen eine Sondersitzung zum weltweit aufflammenden Antisemitismus abgehalten, der UN-Generalsekretär sprach davon, dass in Europa der Hass gegen Juden zunehme. Da sieht man, dass der Judenhass sein Gift immer noch spuckt.
Wenn man sich die Pegida-Bewegung anschaut, sind es derzeit auch die Muslime, die als Minderheit verfolgt werden.
Jeder Rassismus, der hingenommen wird, wird salonfähig und deswegen sehe ich es nicht nur als meine Pflicht, sondern als Pflicht der Gesellschaft sich aus vollem Herzen einer Bewegung entgegenzustellen, die die Islamfeindlichkeit schon in ihrem Titel trägt. Das moderne, aufgeklärte Selbstverständnis der Bundesrepublik gegen jede Form von Rassismus spiegelt sich im Grundgesetz wider. Ausländerfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit, Judenfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit. Rassisten sind Demokratiefeinde und verstoßen gegen das Grundgesetz. Deswegen setzen wir uns nicht der Minderheiten wegen alleine ein, sondern weil Rassismus jeden Menschen trifft und nicht nur die konkrete Gruppe, bei der er sich austobt.
In Frankreich tragen sich einige Juden mit dem Gedanken auszuwandern. Gibt es diese Diskussion in Deutschland, in Frankfurt auch?
Es ist eine neue Enthemmung spürbar, eine Veränderung des Koordinatensystems. Gewalt ist alltäglicher geworden. In Frankfurt wurde auf einer Demo während des Gazakrieges „Juden ins Gas“ skandiert, ein Jude, der sich als solcher mit Kippa zu erkennen gab, wurde angegriffen. Und natürlich werden solche Begebenheiten wie auch jene im Rest Europas überaus sensibel und mit einer Portion Angst diskutiert. Die Lage ist angespannt. Rassisten und Antisemiten sind keine Quantité négligeable mehr und man muss sich ihnen mit Macht entgegenstellen. Das alle Menschen gleich sind, ist der Grundpfeiler unserer Verfassung.
Interview: Nils Bremer
Mehr zum Thema lesen Sie im Journal Frankfurt vom 27. Januar 2015. Titelthema: Anne Frank.
26. Januar 2015, 16.12 Uhr
nil
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