Im Rahmen der Reihe „37°“ läuft am Dienstag „Ererbtes Trauma. Julien und der Schmerz der Anderen“ im ZDF. Im Mittelpunkt der Dokumentation steht der 35-jährige Julien aus Frankfurt.
Detlef Kinsler /
„Grenzen überschreiten, Besonderes erleben, Krisen bewältigen: 37° ist die Körpertemperatur und hier beginnt das Fieber. In unseren Dokus erzählen Menschen ihre Geschichte: echt, ehrlich, intensiv.“ So stellt das ZDF seine dienstägliche Reihe vor. Am Dienstag, den 29. April, um 22.15 Uhr heißt es „Ererbtes Trauma. Julien und der Schmerz der Anderen“. Und die Realisatoren sind ein bewährtes Team, denn Autorin Tina Soliman, Torsten Lapp (Kamera) und Anna Demisch (Schnitt) stehen für eine besonders sensible Umsetzung auch schwerster Themen und zudem für eine besondere Ästhetik in der Umsetzung.
Es geht in diesem „37°“ um die Erfahrungen unserer Vorfahren und was sie mit uns machen. Es lässt sich erahnen, wie andere vergangene, aber auch gegenwärtige Krisen und Kriege über künftige Generationen traumatisch weiterleben können. Die kollektive Erfahrung allgegenwärtiger Gewalt und Gefahr endet dann nie.
Soliman: „Julien fiel auf, auch weil er eine andere Hautfarbe hatte“
Im Mittelpunkt der Doku steht der 35-jährige Julien. „Tatsächlich hat Julien den Kontakt zu mir aufgenommen, indem er einen gemeinsamen Bekannten (seinen Patenonkel) ansprach. Ich war vor zwei Jahren in Ruanda und hatte einige Fotos auf Facebook geteilt. Julien ließ über den Bekannten anfragen, ob ich noch mehr Bilder aus Ruanda hätte, da sein Vater aus Ruanda stammt, er aber leider noch nie dort gewesen sei“, erzählt Soliman.
„Und dann erinnerte ich mich an den kleinen hübschen Jungen, der immer etwas traurig aussah, wenn wir bei seiner Mutter zu einem Fest eingeladen waren. Ich kannte also seine Mutter. Sie war auch Journalistin. Julien fiel auf, auch weil er eine andere Hautfarbe hatte. Dass sein Vater aus Ruanda stammt, war mir damals nicht bekannt. Das ist 30 Jahre her. Wir verabredeten wir uns in Frankfurt und hatten sofort eine Verbindung.“
Das Thema „vererbte oder ererbte Traumata“ beziehungsweise „transgenerationale Weitergabe von Traumata“ hatte Soliman schon vor vielen Jahren in Dokumentationen, aber auch in ihren Büchern über den plötzlichen Kontaktabbruch in Familien bearbeitet. „Schließlich realisierte ich eine TV-Doku, in der ich mit Forschern darüber sprach, ob sich Traumata auch im Erbgut erkennen lassen. Der renommierte Genetiker Steve Horvath bejahte dies sofort. Traumata verändern das Erbgut. Was der Mensch erlebt, schlägt sich also auf seine Gene nieder. Traumata können sogar über mehrere Generationen weitergegeben werden.“
Diese leiden dann unter Symptomen und Ängsten, als hätten sie die traumatischen Erlebnisse selbst erlitten. „Julien erzählte mir von Alpträumen, in denen schreckliche Bilder auftauchten aus einem fremden Land, auch habe er das Gefühl, ständig Dinge erledigen zu müssen, aber wisse nicht welche und warum“, so Soliman weiter.
„Juliens Vater kam aus Ruanda, ein Land, in dem vor über 30 Jahren ein unvorstellbares Morden stattfand. Juliens Vater war ein Tutsi. In 100 Tagen wurden bis zu eine Million Tutsi abgeschlachtet – von den Hutu, der Mehrheit im eigenen Volk. Die Familie von Juliens Vater wurde umgebracht, einige schafften es zu fliehen. Der Völkermord, weit entfernt. Aber ist er auch Juliens Geschichte, fragten wir uns. Erzählt hat sein Vater damals nichts. Genauso wie sein Großvater, der als junger Mann in der Wehrmacht diente. Wir fragten uns: Wie verarbeitet man das, wenn man zwei Völkermorde in sich trägt? Den in Ruanda und den Holocaust. Welche Identität ist für Julien stärker – Opfer oder Täter?“
Was war Solimans Motivation, diesen Film zu erzählen? „Mich interessiert der Mechanismus der transgenerationalen Weitergabe von Traumata, aber auch von Verhaltensweisen in Familien. Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht in seinem Unbewussten nicht abgewehrte Konflikte ‚lagert’. Es käme also darauf an, die Vergangenheit in Familien über Generationen hinweg zu kennen, zu verstehen und zu entschlüsseln, um uns selbst besser zu verstehen“, verweist Soliman darauf, dass sogar Hollywood die Brisanz dieses Themas entdeckt hat, etwa in Filmen wie „Treasure“ oder in „A Real Pain“.
„Der Schmerz fühlte sich für Julien wahr an, real aber eben auch fremd. Dem sind wir nachgegangen und unser Weg führte in das Heimatland seines Vaters. Dieses Thema trifft jeden von uns – Sie, mich – wird alle Kinder unserer Eltern und so weiter. Natürlich prägen sie uns, aber uns prägt auch, was sie erlebt haben. Es geht also nicht nur darum, die biografischen Daten in einer Familie zu kennen. Wichtiger ist es, die Gefühle und Ereignisse zu kennen, die damit verbunden sind. Da gibt es noch einiges aufzuarbeiten. Die junge Generation – Julien ist 35 – will wissen, warum sie sind, wie sie sind. Es braucht auch Mut dazu. Julien hatte ihn.“
Info ZDF 37°: „Ererbtes Trauma. Julien und der Schmerz der Anderen“, 29. April, 22.15 Uhr
Weil sein Hobby schon früh zum Beruf wurde, ist Fotografieren eine weitere Leidenschaft des Journal-Frankfurt-Musikredakteurs, der außerdem regelmäßig über Frauenfußball schreibt.