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documenta fifteen
100 Tage im Zeichen der Kunst
Die documenta fifteen in Kassel eröffnet diesen Samstag. 100 Tage lang zeigt sie Kunst, die in diesem Jahr vor allem kollektiv und prozesshaft verstanden wird. Vom No-Budget-Kinofilm aus Uganda bis zum Kinderspielplatz im Ausstellungsraum: Wir haben uns vorab umgeschaut.
Ins Fridericianum sind Sandkästen, Spielzeug und Sperrholz eingezogen. Und Werkzeuge, Besen, bunte Fahnen, Secondhand-Sessel, Leseecken. Wen das ein wenig an Waldorfkindergarten, Werkunterricht und Politplenum erinnert, liegt nicht ganz falsch: Denn die documenta-Macher haben das Herzstück der Weltkunstschau zu einem Ort erkoren, an dem unter anderem ein Ruheraum, offener Kunstunterricht, eine Reparierwerkstatt und ein riesiger Eltern-Kind-Spielort Platz finden. Insbesondere letzteren hat es wohl tatsächlich noch nie auf einer Kunstausstellung dieser Größenordnung gegeben – Babys und Kleinkinder werden sonst ja eher so mitgeschleppt auf den großen Art Events dieser Welt. Gestaltet hat den Ort unter anderem die Künstlerin und Pädagogin Graziela Kunsch, die „Lernen für Kinder und ihre Eltern“ verspricht und dazu eine Videoinstallation mit Aufnahmen im Wasser spielender Kleinkinder zeigt. Anschauen kann man sich diesen Bereich, der immerhin knapp die halbe untere Etage des 1779 als eines der ersten öffentlichen Museen der Welt erbauten Fridericianums umfasst, nur während der Pressevorbesichtigung – danach steht er bis auf wenige Stunden am Abend exklusiv Eltern und ihren Kindern zur Verfügung.
Die 15. Ausgabe der documenta, die jetzt kosmopolit documenta fifteen heißt, wird am Samstag in Kassel ihre Tore öffnen. Mit der Verwandlung des Fridericianums hat sie treffsicher erfüllt, was viele von ihr erwartet haben: nämlich einiges anders zu machen. Die künstlerische Leitung unterhält das indonesische Kollektiv ruangrupa, das wiederum zahlreiche Kunstkollektive aus aller Welt eingeladen hat, die sich Ressourcen teilen und Entscheidungen gemeinsam fällen sollten. Zudem ergänzten Kuratorinnen und Kuratorinnen das sogenannte Artistic Team. Nicht um Kunst als Produkt soll es hier gehen, sondern als Arbeitsprozess und Anstoß zu eigenen Initiativen. Manche Ausstellungsstücke sind so auch eher als Dokumentation jenes Prozesses zu verstehen denn als künstlerisches Resultat. Das Publikum soll ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen: Etliche Ausstellungsbereiche ergeben nämlich, siehe Kunschs Eltern-Kinder-Spielbereich und ein weiterer für die „ruru Kids“, erst in der praktischen Anwendung richtig Sinn. Andere sind explizit zur Erholung und zum Austausch gedacht – so viele Sitzgelegenheiten wie bei dieser documenta hat es vermutlich noch nicht gegeben. Und eine Halfpipe oder einen eigenen Partyraum auch nicht.
„Bio-Lebensmittel sind eine Lüge“
Viele der eingeladenen Künstlergruppen arbeiten an der Schnittstelle zwischen sozialem Engagement und Kunst. Mehrere von ihnen bespielen zum Beispiel die documenta-Halle: Ein schummriger Tunnel führt in eine Rauminstallation des Wajukuu Art Projects, die das Kollektiv mit angerostetem Wellblech aus den Slums Nairobis ausgekleidet hat. Einen Raum weiter warten eine gigantische Wandmalerei und ein Tante-Emma-Laden mit Lebensmitteln aus Keramik und Stoff inklusive Hommage an die obligatorische Warhol-Dosensuppe, gefertigt vom Britto Arts Trust aus Bangladesch, der einige bittere und grundlegende Seitenhiebe auf die Lebensmittelindustrie bereithält. „Organic food is a lie“, lernt man dort unter anderem. Empfehlenswert ist auch ein Besuch im benachbarten Filmstudio Wakaliga Uganda, das spaßige No-Budget-Streifen mit Laiendarstellern aus dem Viertel und vieldeutigen Titeln wie „Football Kommando“ dreht, selbstgemalte Filmplakate inklusive.
Wer die documenta fifteen sehen will, sollte unbedingt auch ihre Außenposten anschauen. Dafür braucht man Zeit. Ruangrupa weiß, dass es die meisten gewohnheitsgemäß zuerst ins Fridericianum und in die documenta-Halle zieht. Daneben wurden und werden zahlreiche weitere Orte im Stadtgebiet bespielt – 39 an der Zahl, von diversen Museen und Kino über das neu erschlossene Hübner-Areal in Bettenhausen, einen Bootsanleger an der Fulda oder gar das alte Kasseler Hallenbad im Osten der Stadt. Hier präsentiert das indonesische Kollektiv Taring Padi, das sich als Agitator der Arbeiterklasse versteht, eine Retrospektive mit unzähligen wayang kardus – lebensgroßen Figuren aus Pappe, die auch an anderen Stellen im Stadtgebiet auftauchen.
Feelgood und Zähne zeigen
Nachhaltigkeit, Humor, Großzügigkeit: Nach zwei Jahren Pandemie und im aktuellen Kriegs- und Krisendauermodus klingt das Angebot der documenta fifteen mehr als verlockend. Allerdings warten hier keineswegs nur Feelgood-Stationen auf ihr Publikum. Schon vor dem Fridericianum zeigt Richard Bell künstlerisch die Zähne: Vor seiner „Aboriginal Embassy“, einer selbsterdachten Botschaft der Aborigines in einem transportablen Zelt, stehen Forderungen auf Sperrholz gemalt – „We want land, not handouts“ und „If you can’t let me live aboriginal, why! Preach democracy“. Drinnen drohen Protestierende, die Bell tatsächlichen Demonstranten für die Rechte der Aborigines in Australien abgeschaut hat, gar mit Blutvergießen.
So ganz voraussetzungslos ist diese Weltkunstschau also nicht – weder inhaltlich noch in ihrem Vokabular. Neben den zahlreichen Begriffen des lumbung-Konzepts, die man in den Ausstellungsbroschüren nachlesen kann, sind es Schlagworte wie Whiteness, Allies, Intersektionalismus, die einem hier immer wieder begegnen. Die Aufteilung der Welt in Schwarz und Weiß ist einigen Kollektiven Grundsatz – bemerkenswerter Weise gerade weniger denjenigen aus dem sogenannten Globalen Süden. „Kontext ist König, außer der deutsche“, fasste hierzu die Videokünstlerin Hito Steyerl in einem Gastbeitrag für „Die Zeit“ zusammen. Tatsächlich ergibt sich bisweilen eine seltsame Schieflage: Denn postkoloniale Perspektiven werden auf dieser documenta wie auf den meisten großen Kunstschauen inzwischen reichlich formuliert – der spezifische Rahmen, in dem sie hier präsentiert werden, aber meist konsequent ausgeklammert. Dabei hätten sich gerade im Zusammenhang der deutschen Geschichte, zu der die Vernichtung von Millionen Juden, Sinti und Roma gehört, spezifische Anknüpfungen ergeben können. Antisemitismus wird hier nicht thematisiert, Antiziganismus an einigen Stellen, allerdings mit Fokus auf den Balkan.
Kunstfreiheit vs. Pressefreiheit?
Kritik an der documenta war im Vorfeld laut geworden, weil einige Kuratoren und auch Künstler Anhänger der BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“) sind, die Israel komplett isolieren will. Deutschland, Österreich und Tschechien haben BDS als antisemitisch eingestuft. Dass der Vorwurf blinder Flecken* insbesondere die an der Weltkunstschau beteiligten Politiker störte und nervte, war deutlich zu spüren. Zum Auftakt hatte die documenta bei bestem Sonnenschein ins Kasseler Aue-Stadion geladen. An Bekenntnissen zur Kunstfreiheit mangelte es nicht auf dieser Pressekonferenz. Die Freiheit der Presse allerdings schien den Rednerinnen und Rednern nicht ganz so am Herzen zu liegen – Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) ergab sich in einer ausgiebigen Medienschelte, bezeichnete die Antisemitismusvorwürfe im Vorfeld als „Fragen, die von den Medien aufoktroyiert“ worden seien. Zuvor hatte er bereits einen Anschlag auf die Ausstellungsräume des palästinensischen „The Question of Funding“-Kollektivs den Stimmen gegen Antisemitismus in die Schuhe geschoben.
Egal, wie man nun zu den einzelnen Vorwürfen stehen mag: Auch eine (Kunst-)Kritik, die noch so falsch oder voreilig oder auch schlicht unklug sein mag, ist – genau wie die Kunst selbst – erst einmal von der Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt. Aber wer war eigentlich Adressat dieser „Kritik der Kritik“? Das Kasseler „Bündnis gegen Antisemitismus“, das einige richtige, einige polemisch verzerrte Sachverhalte mit rassistischen Untertönen untermalte? Die Journalisten von „ZEIT“, „taz“, „FAZ“ und anderen, die sich teils durchaus differenziert und tiefergehend mit den Zusammenhängen von Antisemitismus, Israel-Boykott und -Kritik im Kunstkontext auseinandersetzten? Der Zentralrat der Juden, der Bedenken geäußert hatte? Eine Podiumsdiskussion zum Thema war jedenfalls im Vorfeld durch die documenta selbst wieder abgesagt worden.
Dabei wäre es ja tatsächlich eine Diskussion wert, wo zum Beispiel die Obsession mit dem Mittleren Osten herkommt, der sich auch im Kunstbetrieb immer wieder Bahn bricht, und wieso andere Konflikte so gut wie gar keine Rolle spielen. Aber auch, welche Stimmen und Formen die Kunst für komplexe Situationen und erlebte Hilflosigkeit finden kann – und wann und warum sie bisweilen hinter Realpolitik und Ideologien, die jene Situationen prägen, zurückfällt.
An mancher Stelle wäre es wohl wirklich sinnvoll gewesen, abzuwarten und sich die präsentierten Werke anzuschauen. Zum Beispiel das „Tokyo Reels Film Festival“, das zum Presseauftakt im Gloria Kino gezeigt wurde. Hier werden diverse anti-israelische Ressentiments auf die Leinwand gebracht und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung offen zur politischen Agitation genutzt, wobei diverse historische Gegebenheiten wie auch der Anteil von Nachbarländern an der desolaten Lage ausgeklammert werden – und zwar in einem Rückgriff auf künstlerische Archivarbeit: Die Aufarbeitung bewusst militanter Filme aus den 1960er bis 1980er Jahren wurde neben der Sharjah Art Foundation und dem Doha Film Institute unter anderem auch von der documenta fifteen finanziert. Filmischer Befreiungsschlag der Unterdrückten, wie es zum Beispiel das „British Film Institute“ über einige der aufbereiteten Filme schreibt? Ein Dokument der berühmten internationalen Solidarität? Oder reine Agitation, die dann doch schwerlich noch mit dem Existenzrecht Israels in Einklang zu bringen wäre? Als historische Dokumente sind die von diversen Regisseuren gefertigten und einst in Japan vorgeführten Filme aufschlussreich und sehenswert, als künstlerisch verstandenes Format produzieren sie zumindest an diesem Vorführtag die vorgebrachten Behauptungen. Wie aber könnte eine künstlerisch solidarische Form ohne Gemeinmachung mit Ressentiments aussehen? Man sollte sich die Weltkunstschau wohl gerade anschauen, wenn und wo man nicht mit ihr einverstanden ist. Schließlich will diese documenta Teilhabe am öffentlichen Raum und an Diskursen ermöglichen – dieses Versprechen sollte ruhig ernst genommen werden. Ob sie es einlösen wird, muss sich noch zeigen.
„Make friends, not art“
Ruangrupa, die im Mai einen durchaus deftigen Offenen Brief in der Berliner Zeitung veröffentlicht hatten, äußerten sich zum Auftakt nicht noch einmal zu den Vorwürfen. Ohnehin, so der Eindruck, wollten sie als Personen weniger im Fokus stehen. An ihrer Idee gemeinsam genutzter Ressourcen halten sie fest – man solle lumbung allerdings ruhig überarbeiten, neu auflegen, kritisieren, sagten Mitglieder des Kollektivs zum Auftakt. Es stimmt, der Mittlere Osten ist nur ein Feld von zahlreichen anderen, das auf dieser Weltkunstschau in den Fokus rückt. So wird es wie bei jeder documenta sein: Sie legt blinde Flecken offen und reproduziert andere. Sie gibt einigen eine Stimme und anderen nicht. Nur wie sie das tut und wie sich das vielleicht auch vom Publikum nachvollziehen lässt, das ist in diesem Jahr wirklich anders.
Wer weiß: Womöglich haben ruangrupa ja tatsächlich geschafft, was so viele vor ihnen versucht haben, nämlich die Idee einer Weltkunstschau selbst ad absurdum zu führen. Die Kunst mit Hilfe der Kunst abzuschaffen. Sich selbst als Personen letztlich unwichtig zu machen. Alles ein großes Ökosystem ohne Autorenschaft? Einen vieldeutigen Rat hat das indonesische Kollektiv jedenfalls schon vor zehn Jahren formuliert, in einem Booklet über Kulturmanagement: „Make friends, not art!“ Der Satz fiel auch auf der Pressekonferenz wieder.
Update, 20.6.2022: Der erste Eindruck blinder Flecken scheint sich zu bestätigen: Am Wochenende wurden weitere Arbeiten von Taring Padi auf dem Friedrichsplatz aufgestellt, die nun auch die im Text hier genannten "Kritiker der Kritiker" als eindeutig antisemitisch bezeichnen. Unter anderem werden hier Israelis mit Schweinsnasen und Juden in rassistisch interpretierbaren Zerrbildern dargestellt. Jetzt fordern auch Meron Mendel und Claudia Roth, die die documenta-Macher bisher in Schutz genommen hatten, Konsequenzen. Das Filmprogramm wurde bisher noch nicht weiter kommentiert.
Mehr Infos unter documenta-fifteen.de
Die 15. Ausgabe der documenta, die jetzt kosmopolit documenta fifteen heißt, wird am Samstag in Kassel ihre Tore öffnen. Mit der Verwandlung des Fridericianums hat sie treffsicher erfüllt, was viele von ihr erwartet haben: nämlich einiges anders zu machen. Die künstlerische Leitung unterhält das indonesische Kollektiv ruangrupa, das wiederum zahlreiche Kunstkollektive aus aller Welt eingeladen hat, die sich Ressourcen teilen und Entscheidungen gemeinsam fällen sollten. Zudem ergänzten Kuratorinnen und Kuratorinnen das sogenannte Artistic Team. Nicht um Kunst als Produkt soll es hier gehen, sondern als Arbeitsprozess und Anstoß zu eigenen Initiativen. Manche Ausstellungsstücke sind so auch eher als Dokumentation jenes Prozesses zu verstehen denn als künstlerisches Resultat. Das Publikum soll ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen: Etliche Ausstellungsbereiche ergeben nämlich, siehe Kunschs Eltern-Kinder-Spielbereich und ein weiterer für die „ruru Kids“, erst in der praktischen Anwendung richtig Sinn. Andere sind explizit zur Erholung und zum Austausch gedacht – so viele Sitzgelegenheiten wie bei dieser documenta hat es vermutlich noch nicht gegeben. Und eine Halfpipe oder einen eigenen Partyraum auch nicht.
„Bio-Lebensmittel sind eine Lüge“
Viele der eingeladenen Künstlergruppen arbeiten an der Schnittstelle zwischen sozialem Engagement und Kunst. Mehrere von ihnen bespielen zum Beispiel die documenta-Halle: Ein schummriger Tunnel führt in eine Rauminstallation des Wajukuu Art Projects, die das Kollektiv mit angerostetem Wellblech aus den Slums Nairobis ausgekleidet hat. Einen Raum weiter warten eine gigantische Wandmalerei und ein Tante-Emma-Laden mit Lebensmitteln aus Keramik und Stoff inklusive Hommage an die obligatorische Warhol-Dosensuppe, gefertigt vom Britto Arts Trust aus Bangladesch, der einige bittere und grundlegende Seitenhiebe auf die Lebensmittelindustrie bereithält. „Organic food is a lie“, lernt man dort unter anderem. Empfehlenswert ist auch ein Besuch im benachbarten Filmstudio Wakaliga Uganda, das spaßige No-Budget-Streifen mit Laiendarstellern aus dem Viertel und vieldeutigen Titeln wie „Football Kommando“ dreht, selbstgemalte Filmplakate inklusive.
Wer die documenta fifteen sehen will, sollte unbedingt auch ihre Außenposten anschauen. Dafür braucht man Zeit. Ruangrupa weiß, dass es die meisten gewohnheitsgemäß zuerst ins Fridericianum und in die documenta-Halle zieht. Daneben wurden und werden zahlreiche weitere Orte im Stadtgebiet bespielt – 39 an der Zahl, von diversen Museen und Kino über das neu erschlossene Hübner-Areal in Bettenhausen, einen Bootsanleger an der Fulda oder gar das alte Kasseler Hallenbad im Osten der Stadt. Hier präsentiert das indonesische Kollektiv Taring Padi, das sich als Agitator der Arbeiterklasse versteht, eine Retrospektive mit unzähligen wayang kardus – lebensgroßen Figuren aus Pappe, die auch an anderen Stellen im Stadtgebiet auftauchen.
Feelgood und Zähne zeigen
Nachhaltigkeit, Humor, Großzügigkeit: Nach zwei Jahren Pandemie und im aktuellen Kriegs- und Krisendauermodus klingt das Angebot der documenta fifteen mehr als verlockend. Allerdings warten hier keineswegs nur Feelgood-Stationen auf ihr Publikum. Schon vor dem Fridericianum zeigt Richard Bell künstlerisch die Zähne: Vor seiner „Aboriginal Embassy“, einer selbsterdachten Botschaft der Aborigines in einem transportablen Zelt, stehen Forderungen auf Sperrholz gemalt – „We want land, not handouts“ und „If you can’t let me live aboriginal, why! Preach democracy“. Drinnen drohen Protestierende, die Bell tatsächlichen Demonstranten für die Rechte der Aborigines in Australien abgeschaut hat, gar mit Blutvergießen.
So ganz voraussetzungslos ist diese Weltkunstschau also nicht – weder inhaltlich noch in ihrem Vokabular. Neben den zahlreichen Begriffen des lumbung-Konzepts, die man in den Ausstellungsbroschüren nachlesen kann, sind es Schlagworte wie Whiteness, Allies, Intersektionalismus, die einem hier immer wieder begegnen. Die Aufteilung der Welt in Schwarz und Weiß ist einigen Kollektiven Grundsatz – bemerkenswerter Weise gerade weniger denjenigen aus dem sogenannten Globalen Süden. „Kontext ist König, außer der deutsche“, fasste hierzu die Videokünstlerin Hito Steyerl in einem Gastbeitrag für „Die Zeit“ zusammen. Tatsächlich ergibt sich bisweilen eine seltsame Schieflage: Denn postkoloniale Perspektiven werden auf dieser documenta wie auf den meisten großen Kunstschauen inzwischen reichlich formuliert – der spezifische Rahmen, in dem sie hier präsentiert werden, aber meist konsequent ausgeklammert. Dabei hätten sich gerade im Zusammenhang der deutschen Geschichte, zu der die Vernichtung von Millionen Juden, Sinti und Roma gehört, spezifische Anknüpfungen ergeben können. Antisemitismus wird hier nicht thematisiert, Antiziganismus an einigen Stellen, allerdings mit Fokus auf den Balkan.
Kunstfreiheit vs. Pressefreiheit?
Kritik an der documenta war im Vorfeld laut geworden, weil einige Kuratoren und auch Künstler Anhänger der BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“) sind, die Israel komplett isolieren will. Deutschland, Österreich und Tschechien haben BDS als antisemitisch eingestuft. Dass der Vorwurf blinder Flecken* insbesondere die an der Weltkunstschau beteiligten Politiker störte und nervte, war deutlich zu spüren. Zum Auftakt hatte die documenta bei bestem Sonnenschein ins Kasseler Aue-Stadion geladen. An Bekenntnissen zur Kunstfreiheit mangelte es nicht auf dieser Pressekonferenz. Die Freiheit der Presse allerdings schien den Rednerinnen und Rednern nicht ganz so am Herzen zu liegen – Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) ergab sich in einer ausgiebigen Medienschelte, bezeichnete die Antisemitismusvorwürfe im Vorfeld als „Fragen, die von den Medien aufoktroyiert“ worden seien. Zuvor hatte er bereits einen Anschlag auf die Ausstellungsräume des palästinensischen „The Question of Funding“-Kollektivs den Stimmen gegen Antisemitismus in die Schuhe geschoben.
Egal, wie man nun zu den einzelnen Vorwürfen stehen mag: Auch eine (Kunst-)Kritik, die noch so falsch oder voreilig oder auch schlicht unklug sein mag, ist – genau wie die Kunst selbst – erst einmal von der Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt. Aber wer war eigentlich Adressat dieser „Kritik der Kritik“? Das Kasseler „Bündnis gegen Antisemitismus“, das einige richtige, einige polemisch verzerrte Sachverhalte mit rassistischen Untertönen untermalte? Die Journalisten von „ZEIT“, „taz“, „FAZ“ und anderen, die sich teils durchaus differenziert und tiefergehend mit den Zusammenhängen von Antisemitismus, Israel-Boykott und -Kritik im Kunstkontext auseinandersetzten? Der Zentralrat der Juden, der Bedenken geäußert hatte? Eine Podiumsdiskussion zum Thema war jedenfalls im Vorfeld durch die documenta selbst wieder abgesagt worden.
Dabei wäre es ja tatsächlich eine Diskussion wert, wo zum Beispiel die Obsession mit dem Mittleren Osten herkommt, der sich auch im Kunstbetrieb immer wieder Bahn bricht, und wieso andere Konflikte so gut wie gar keine Rolle spielen. Aber auch, welche Stimmen und Formen die Kunst für komplexe Situationen und erlebte Hilflosigkeit finden kann – und wann und warum sie bisweilen hinter Realpolitik und Ideologien, die jene Situationen prägen, zurückfällt.
An mancher Stelle wäre es wohl wirklich sinnvoll gewesen, abzuwarten und sich die präsentierten Werke anzuschauen. Zum Beispiel das „Tokyo Reels Film Festival“, das zum Presseauftakt im Gloria Kino gezeigt wurde. Hier werden diverse anti-israelische Ressentiments auf die Leinwand gebracht und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung offen zur politischen Agitation genutzt, wobei diverse historische Gegebenheiten wie auch der Anteil von Nachbarländern an der desolaten Lage ausgeklammert werden – und zwar in einem Rückgriff auf künstlerische Archivarbeit: Die Aufarbeitung bewusst militanter Filme aus den 1960er bis 1980er Jahren wurde neben der Sharjah Art Foundation und dem Doha Film Institute unter anderem auch von der documenta fifteen finanziert. Filmischer Befreiungsschlag der Unterdrückten, wie es zum Beispiel das „British Film Institute“ über einige der aufbereiteten Filme schreibt? Ein Dokument der berühmten internationalen Solidarität? Oder reine Agitation, die dann doch schwerlich noch mit dem Existenzrecht Israels in Einklang zu bringen wäre? Als historische Dokumente sind die von diversen Regisseuren gefertigten und einst in Japan vorgeführten Filme aufschlussreich und sehenswert, als künstlerisch verstandenes Format produzieren sie zumindest an diesem Vorführtag die vorgebrachten Behauptungen. Wie aber könnte eine künstlerisch solidarische Form ohne Gemeinmachung mit Ressentiments aussehen? Man sollte sich die Weltkunstschau wohl gerade anschauen, wenn und wo man nicht mit ihr einverstanden ist. Schließlich will diese documenta Teilhabe am öffentlichen Raum und an Diskursen ermöglichen – dieses Versprechen sollte ruhig ernst genommen werden. Ob sie es einlösen wird, muss sich noch zeigen.
„Make friends, not art“
Ruangrupa, die im Mai einen durchaus deftigen Offenen Brief in der Berliner Zeitung veröffentlicht hatten, äußerten sich zum Auftakt nicht noch einmal zu den Vorwürfen. Ohnehin, so der Eindruck, wollten sie als Personen weniger im Fokus stehen. An ihrer Idee gemeinsam genutzter Ressourcen halten sie fest – man solle lumbung allerdings ruhig überarbeiten, neu auflegen, kritisieren, sagten Mitglieder des Kollektivs zum Auftakt. Es stimmt, der Mittlere Osten ist nur ein Feld von zahlreichen anderen, das auf dieser Weltkunstschau in den Fokus rückt. So wird es wie bei jeder documenta sein: Sie legt blinde Flecken offen und reproduziert andere. Sie gibt einigen eine Stimme und anderen nicht. Nur wie sie das tut und wie sich das vielleicht auch vom Publikum nachvollziehen lässt, das ist in diesem Jahr wirklich anders.
Wer weiß: Womöglich haben ruangrupa ja tatsächlich geschafft, was so viele vor ihnen versucht haben, nämlich die Idee einer Weltkunstschau selbst ad absurdum zu führen. Die Kunst mit Hilfe der Kunst abzuschaffen. Sich selbst als Personen letztlich unwichtig zu machen. Alles ein großes Ökosystem ohne Autorenschaft? Einen vieldeutigen Rat hat das indonesische Kollektiv jedenfalls schon vor zehn Jahren formuliert, in einem Booklet über Kulturmanagement: „Make friends, not art!“ Der Satz fiel auch auf der Pressekonferenz wieder.
Update, 20.6.2022: Der erste Eindruck blinder Flecken scheint sich zu bestätigen: Am Wochenende wurden weitere Arbeiten von Taring Padi auf dem Friedrichsplatz aufgestellt, die nun auch die im Text hier genannten "Kritiker der Kritiker" als eindeutig antisemitisch bezeichnen. Unter anderem werden hier Israelis mit Schweinsnasen und Juden in rassistisch interpretierbaren Zerrbildern dargestellt. Jetzt fordern auch Meron Mendel und Claudia Roth, die die documenta-Macher bisher in Schutz genommen hatten, Konsequenzen. Das Filmprogramm wurde bisher noch nicht weiter kommentiert.
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17. Juni 2022, 13.18 Uhr
kjc
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