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Kommentar
„Unter ethischen Gesichtspunkten“
Die Stadt Frankfurt hält die von Bürgerinnen und Bürgern für Bedürftige aufgestellten Gabenzäune für entwürdigend. Das wirkt wie blanker Hohn, wartet man doch insbesondere im Bahnhofsviertel seit Jahren vergebens auf Lösungen zur Beseitigung der inhumanen Zustände. Ein Kommentar.
Frankfurt wird gern als die Stadt der Widersprüche bezeichnet. Besonders deutlich wird dies im Bahnhofsviertel. Steht man beispielsweise auf der Taunusstraße hat man einen ungehinderten Blick auf die protzig glänzenden Fassaden der Bankentürme, während einem gleichzeitig der prägnante Pisse-Geruch des Viertels in die Nase kriecht. Läuft man ein wenig weiter, über die Elbe- oder Moselstraße hinüber in die Niddastraße, vorbei an Bars, Cafés und Restaurants, begegnet man Menschen, deren Lebensrealitäten nicht weiter von den kapitalen Phalli entfernt sein könnten, in deren Schatten sie existieren. Auf nur wenigen Straßenzügen wird das gesamte Versagen der Politik sichtbar. Nicht erst seit Corona, seitdem aber noch etwas mehr.
Seit Covid-19 den Alltag bestimmt, kämpfen insbesondere Hilfseinrichtungen darum, die Angebote für Bedürftige aufrechtzuerhalten. Die sind durch das heruntergefahrene Leben und die dadurch wegfallenden Spenden, Pfandflaschen und andere Überlebensmöglichkeiten noch stärker auf Hilfe angewiesen. Sei es in den Einrichtungen des Diakonischen Werks für Frankfurt und Offenbach, der Tafeln oder der Integrativen Drogenhilfe – überall zeigt sich ein ähnliches Bild: es fehlt an Mitarbeitenden und finanziellen Mitteln, die Beschäftigten arbeiten unter extremen Bedingungen, die erforderlichen Hygienemaßnahmen und Sicherheitsabstände sind nur schwer einzuhalten. Sollte es in einer der Einrichtungen zu einem Ausbruch von Corona kommen, wäre das eine Katastrophe. Sollten die Einrichtungen geschlossen werden und die Nahrungsversorgung sowie der soziale Beistand wegfallen, wäre das nicht weniger katastrophal.
Bereits Ende März forderte das Diakonische Werk für Frankfurt und Offenbach, das unter anderem den Tagestreff für Wohnungs- und Obdachlose Weser5 unterhält, eine „Quarantäneeinrichtung“, in der im Notfall wohnungslose Infizierte beziehungsweise Verdachtsfälle untergebracht werden können. Anfang April schrieben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrativen Drogenhilfe e.V. einen offenen Brief, der die miserablen Zustände vor den Konsumräumen beschreibt. Auch Anwohnerinnen und Anwohner des Bahnhofsviertels wenden sich zunehmend besorgt an Polizei und Stadt; die eingeschränkten Angebote und der für alle erhöhte psychische Druck machen sich auf den Straßen bemerkbar.
Am Saar-Karree in der Niddastraße versammeln sich mehr und mehr Dealer, die, bedingt durch Corona wohl auch „arbeitslos“ und gelangweilt, dort ihren Tag mit Alkohol und Pöbeleien herumbringen. In der Taunusstraße versuchen immer häufiger, Drogengebraucherinnen und -gebraucher in die Häuser einzudringen. Man möchte sich nicht ausmalen, wie viel schlimmer die aktuelle Situation im Bahnhofsviertel wäre, gäbe es nicht so viele engagierte Frankfurterinnen und Frankfurter, die in der Not einspringen und mit Spenden sowie tatkräftiger Unterstützung versuchen, zu helfen und zu deeskalieren.
Und was macht die Stadt Frankfurt? Veröffentlicht eine „Sondermeldung“, in der dazu aufgerufen wird, keine Spenden an den sogenannten Gabenzäunen anzubringen. Denn die seien „unter ethischen Gesichtspunkten unvertretbar“. Hilfsbedürftige Menschen würden dazu genötigt, „ihre Mittellosigkeit vor den Augen der Öffentlichkeit zu offenbaren, indem sie sich an diesen Verpflegungsstellen bedienen“, heißt es in der Erklärung der Stadt Frankfurt. Auch unter hygienischen Gesichtspunkten seien die Gabenzäune nicht vertretbar, zudem nehme die „Vermüllung“ zu. Eine Mitteilung, aus der der blanke Hohn spricht. Man möchte die Verantwortlichen der Stadt fragen, wann sie zuletzt das Bahnhofsviertel aufgesucht und sich mit der Situation vor Ort befasst haben.
Tatsächlich besuchte Oberbürgermeister Peter Feldmann nur wenige Tage vor Veröffentlichung der Meldung das Viertel und begab sich gemeinsam mit den Helferinnen und Helfern der erst kürzlich ins Leben gerufenen Aktion „100 Nachbarn“, die auch den ersten Gabenzaun initiiert haben, auf einen Rundgang. Begleitet von einer Kamera verteilte der OB belegte Brote, zeigte sich nachdenklich angesichts der Zustände und versprach mit ernster Miene unter anderem, sich für einen Wasserspender einzusetzen. Bloß: das Problem fehlenden Trinkwassers existierte schon lange vor Corona, ebenso wie die Vermüllung und die unhaltbaren hygienischen Zustände. Von der „nicht hinzunehmenden Bloßstellung notleidender Menschen“ möchte man gar nicht erst beginnen. Es ist gut und richtig zu überlegen, welche Maßnahmen in der aktuellen Situation wirklich helfen. Auch für das Müllproblem braucht es eine Lösung, schon allein, weil genügend Studien zeigen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und zunehmender Kriminalität gibt.
Doch das zu ändern, ist Aufgabe der Stadt, nicht der Bürgerinnen und Bürger. Und auch nicht der Polizei, die seit Ausbruch der Corona-Pandemie von der Stadt Frankfurt immer häufiger vorgeschoben wird, sobald es um die nicht eingehaltenen Sicherheitsabstände vor Drogenkonsumräumen oder Müllberge in den Straßen geht. Das Bahnhofsviertel braucht nicht primär eine höhere Polizeipräsenz, sondern eine umfassende Sozialarbeit. Das war bereits vor Corona klar und es wird auch nach Corona nicht anders sein. Sich während der Krise als sozialdemokratischer Oberbürgermeister beim Brote verteilen zu inszenieren, als entdecke man die Notlage in der eigenen Stadt zum ersten Mal, ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Der grüne für Drogenpolitik zuständige Dezernent und der christdemokratische Sicherheitsdezernent stehen dem in nichts nach. Auf Lösungen wartet man seit Jahren vergebens. „Unter ethischen Gesichtspunkten“ ist im Bahnhofsviertel schon seit geraumer Zeit vieles nicht mehr zu vertreten. Und der Handlungsunwille der Verantwortlichen wird durch Corona nur einmal mehr deutlich.
Seit Covid-19 den Alltag bestimmt, kämpfen insbesondere Hilfseinrichtungen darum, die Angebote für Bedürftige aufrechtzuerhalten. Die sind durch das heruntergefahrene Leben und die dadurch wegfallenden Spenden, Pfandflaschen und andere Überlebensmöglichkeiten noch stärker auf Hilfe angewiesen. Sei es in den Einrichtungen des Diakonischen Werks für Frankfurt und Offenbach, der Tafeln oder der Integrativen Drogenhilfe – überall zeigt sich ein ähnliches Bild: es fehlt an Mitarbeitenden und finanziellen Mitteln, die Beschäftigten arbeiten unter extremen Bedingungen, die erforderlichen Hygienemaßnahmen und Sicherheitsabstände sind nur schwer einzuhalten. Sollte es in einer der Einrichtungen zu einem Ausbruch von Corona kommen, wäre das eine Katastrophe. Sollten die Einrichtungen geschlossen werden und die Nahrungsversorgung sowie der soziale Beistand wegfallen, wäre das nicht weniger katastrophal.
Bereits Ende März forderte das Diakonische Werk für Frankfurt und Offenbach, das unter anderem den Tagestreff für Wohnungs- und Obdachlose Weser5 unterhält, eine „Quarantäneeinrichtung“, in der im Notfall wohnungslose Infizierte beziehungsweise Verdachtsfälle untergebracht werden können. Anfang April schrieben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrativen Drogenhilfe e.V. einen offenen Brief, der die miserablen Zustände vor den Konsumräumen beschreibt. Auch Anwohnerinnen und Anwohner des Bahnhofsviertels wenden sich zunehmend besorgt an Polizei und Stadt; die eingeschränkten Angebote und der für alle erhöhte psychische Druck machen sich auf den Straßen bemerkbar.
Am Saar-Karree in der Niddastraße versammeln sich mehr und mehr Dealer, die, bedingt durch Corona wohl auch „arbeitslos“ und gelangweilt, dort ihren Tag mit Alkohol und Pöbeleien herumbringen. In der Taunusstraße versuchen immer häufiger, Drogengebraucherinnen und -gebraucher in die Häuser einzudringen. Man möchte sich nicht ausmalen, wie viel schlimmer die aktuelle Situation im Bahnhofsviertel wäre, gäbe es nicht so viele engagierte Frankfurterinnen und Frankfurter, die in der Not einspringen und mit Spenden sowie tatkräftiger Unterstützung versuchen, zu helfen und zu deeskalieren.
Und was macht die Stadt Frankfurt? Veröffentlicht eine „Sondermeldung“, in der dazu aufgerufen wird, keine Spenden an den sogenannten Gabenzäunen anzubringen. Denn die seien „unter ethischen Gesichtspunkten unvertretbar“. Hilfsbedürftige Menschen würden dazu genötigt, „ihre Mittellosigkeit vor den Augen der Öffentlichkeit zu offenbaren, indem sie sich an diesen Verpflegungsstellen bedienen“, heißt es in der Erklärung der Stadt Frankfurt. Auch unter hygienischen Gesichtspunkten seien die Gabenzäune nicht vertretbar, zudem nehme die „Vermüllung“ zu. Eine Mitteilung, aus der der blanke Hohn spricht. Man möchte die Verantwortlichen der Stadt fragen, wann sie zuletzt das Bahnhofsviertel aufgesucht und sich mit der Situation vor Ort befasst haben.
Tatsächlich besuchte Oberbürgermeister Peter Feldmann nur wenige Tage vor Veröffentlichung der Meldung das Viertel und begab sich gemeinsam mit den Helferinnen und Helfern der erst kürzlich ins Leben gerufenen Aktion „100 Nachbarn“, die auch den ersten Gabenzaun initiiert haben, auf einen Rundgang. Begleitet von einer Kamera verteilte der OB belegte Brote, zeigte sich nachdenklich angesichts der Zustände und versprach mit ernster Miene unter anderem, sich für einen Wasserspender einzusetzen. Bloß: das Problem fehlenden Trinkwassers existierte schon lange vor Corona, ebenso wie die Vermüllung und die unhaltbaren hygienischen Zustände. Von der „nicht hinzunehmenden Bloßstellung notleidender Menschen“ möchte man gar nicht erst beginnen. Es ist gut und richtig zu überlegen, welche Maßnahmen in der aktuellen Situation wirklich helfen. Auch für das Müllproblem braucht es eine Lösung, schon allein, weil genügend Studien zeigen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und zunehmender Kriminalität gibt.
Doch das zu ändern, ist Aufgabe der Stadt, nicht der Bürgerinnen und Bürger. Und auch nicht der Polizei, die seit Ausbruch der Corona-Pandemie von der Stadt Frankfurt immer häufiger vorgeschoben wird, sobald es um die nicht eingehaltenen Sicherheitsabstände vor Drogenkonsumräumen oder Müllberge in den Straßen geht. Das Bahnhofsviertel braucht nicht primär eine höhere Polizeipräsenz, sondern eine umfassende Sozialarbeit. Das war bereits vor Corona klar und es wird auch nach Corona nicht anders sein. Sich während der Krise als sozialdemokratischer Oberbürgermeister beim Brote verteilen zu inszenieren, als entdecke man die Notlage in der eigenen Stadt zum ersten Mal, ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Der grüne für Drogenpolitik zuständige Dezernent und der christdemokratische Sicherheitsdezernent stehen dem in nichts nach. Auf Lösungen wartet man seit Jahren vergebens. „Unter ethischen Gesichtspunkten“ ist im Bahnhofsviertel schon seit geraumer Zeit vieles nicht mehr zu vertreten. Und der Handlungsunwille der Verantwortlichen wird durch Corona nur einmal mehr deutlich.
15. April 2020, 14.23 Uhr
Ronja Merkel
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. Mehr von Ronja
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