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Rüdiger Carl feiert 70. Geburtstag
Der Unruheständler
Brüche gehören zum Leben des Musikers Rüdiger Carl. Zu seinem 70. Geburtstag erscheint das Gesprächsbuch „Ab Goldap“. Vorab gibt es am 16.4. eine Lesung.
Eine Autobiografie zu schreiben, daran habe er nie gedacht. „Es ist überhaupt nicht mein Ding, mich selber so aufzublättern. Meine Arbeit besteht aus Musikmachen, über Musik nachzudenken und verschiedene Dinge auszuprobieren, die mir dringend nötig erscheinen.“ Rüdiger Carl sitzt im lichtdurchfluteten Esszimmer der bürgerlichen Villa im Frankfurter Westend. Ein imposantes Eckhaus mit orangeroter Ziegelfassade, Runderkern, Türmchen und kleinem Vorgarten mit beschnittenen Platanen für mediterranes Flair. Hier wohnt der passionierte Vespa-Fahrer und Mützen-Träger (Yamamoto) mit seiner Lebensgefährtin, der Galeristin Bärbel Grässlin. Dass nun zu seinem 70. Geburtstag am 26. April im Frankfurter Verlag weissbooks ein Buch über ihn erscheint, das hat Künstler-Kollege Oliver Augst angestoßen. „Unsere Zusammenarbeit floriert ja auch schon seit 18 Jahren“, sagt Carl. Eines ihrer viel beachteten Projekte war „OBEN – Beltz remixed“ mit elektro-akustischen Neuschöpfungen der Lieder des Kabarettisten.
„Ab Goldap“ heißen Rüdiger Carls Lebenserinnerungen. Nach seinem Geburtsort in Ostpreußen, heute unweit der polnisch-litauischen Grenze. Von da ging die Reise, die vor Ende des Zweiten Weltkrieges eine Flucht war, los. So erklärt sich der geheimnisvoll wirkende Titel. Ab Goldap. An kam er in vielen Orten. Wien. Kassel. Berlin, Wuppertal, 1985 schließlich in Frankfurt. Es ist ein Gesprächsbuch. Über 300 pralle Seiten. Aber zunächst produzierten Augst und Carl eine CD. „Es gab ein Händchen voller Lieder aus meiner Feder, liedhafte Stücke, die anders gedreht waren, als das was man kannte“, erklärt Carl. Eher fremdes Terrain für einen Instrumentalisten, der sich als Saxophonist seit den frühen Siebzigern im Globe Unity Orchester oder neben der Pianistin Irène Schweizer der improvisierten Musik verschrieben hatte. „Das krawallartige Free Jazz-Geknalle, da haben wir gedacht, die Fahne ist rot, die Musik ist frei“, bekennt Carl. Aber wenn das zu anstrengend wurde, hörte man auch mal die Stones.
Die aufgenommenen Songs mit Piano- und Akkordeonbegleitung streifen Blues, Bar Jazz, Kunstlied, Walzer und Couplet, klingen melancholisch oder haben spitzbübischen Charme, sind mal (aber-)witzig, mal (selbst-)entlarvend und korrespondieren so mit den gedruckten Interview-Sessions. „Diese Form half die eigene Vergangenheit ein bisschen aufzuschütteln“, erkannte Carl. „Knackstellen, Knotenpunkte, Weichenstellungen muss man sich im Nachhinein klar machen.“ Auf diese Weise kam auch das Verhältnis zu Frankfurt aufs Tableau. „Ich wusste, dass Frankfurt versuchte, sich als Jazzhauptstadt Deutschlands zu verstehen“, formuliert Carl süffisant „Lange vor meiner Zeit in den Sechzigern hat hier die amerikanische Avantgarde im Jazzkeller gejammt, dass es auch hier geprickelt hat.“ Die Speersitze vom Main um Albert Mangelsdorff hatte Carl „schon als Kind in Kassel gesehen“, saß später bei Globe Unity neben dem „Posaunen-Weltmeister“ im Orchester. „Er war der älteste, ich der jüngste“, erinnert sich Carl. „Der Albert war noch der bunteste Vogel, der sich am weitesten rausgetraut hat.“
Rüdiger Carl sah sich nicht bei denen, die den Jazz verwalteten, sondern bei den Freigeistern, bei Heiner Goebbels und Alfred Harth. Und er schuf sich seine eigenen Spielplätze in der Stadt, nicht in den Clubs, sondern in den Theatern und Museen. „Ich habe das auch zur eigenen Unterhaltung betrieben. Mir war langweilig hier“, schmunzelt Carl. Interessierte gab es genug in der Kunstszene. „Durch ein paar Köpfe, die nach Frankfurt kamen, bekam die Szene einen Schub.“ Jean-Christophe Ammann und Kasper König erwiesen sich als Kenner. „König kam ja aus der Fluxus-Szene, er hat mir Türen aufgemacht. Das Programm im Portikus, wo ich einfach meine kleine Welt vorgestellt habe, schlug ein wie eine Bombe.“ Auch das „pol. Festival für zeitgenössische Musik“ im Mousonturm organisierte er 1999 bis 2003 mit. Im Städel kuratierte er eine Sommermusik-Reihe. Immer dem Underground verpflichtet. „Aber ich wollte es nicht übertreiben, hier den Kulturheini machen und missionarisch wirken.“ Heute spielt er mit Leidenschaft Akkordeon. Die Oma hatte ihm als Bub schon eins geschenkt. Die Wiederentdeckung brachte die Befreiung vom freien Spiel und die Balance zwischen Jux und Ernsthaftigkeit. Ein echtes Nonchalance-Instrument.
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„Ab Goldap“ – Weiss liest Carl, 16.4., 19 Uhr, Ffm., Weltkulturen Labor, Schaumainkai 37, Eintritt 5,–
„Ab Goldap“ heißen Rüdiger Carls Lebenserinnerungen. Nach seinem Geburtsort in Ostpreußen, heute unweit der polnisch-litauischen Grenze. Von da ging die Reise, die vor Ende des Zweiten Weltkrieges eine Flucht war, los. So erklärt sich der geheimnisvoll wirkende Titel. Ab Goldap. An kam er in vielen Orten. Wien. Kassel. Berlin, Wuppertal, 1985 schließlich in Frankfurt. Es ist ein Gesprächsbuch. Über 300 pralle Seiten. Aber zunächst produzierten Augst und Carl eine CD. „Es gab ein Händchen voller Lieder aus meiner Feder, liedhafte Stücke, die anders gedreht waren, als das was man kannte“, erklärt Carl. Eher fremdes Terrain für einen Instrumentalisten, der sich als Saxophonist seit den frühen Siebzigern im Globe Unity Orchester oder neben der Pianistin Irène Schweizer der improvisierten Musik verschrieben hatte. „Das krawallartige Free Jazz-Geknalle, da haben wir gedacht, die Fahne ist rot, die Musik ist frei“, bekennt Carl. Aber wenn das zu anstrengend wurde, hörte man auch mal die Stones.
Die aufgenommenen Songs mit Piano- und Akkordeonbegleitung streifen Blues, Bar Jazz, Kunstlied, Walzer und Couplet, klingen melancholisch oder haben spitzbübischen Charme, sind mal (aber-)witzig, mal (selbst-)entlarvend und korrespondieren so mit den gedruckten Interview-Sessions. „Diese Form half die eigene Vergangenheit ein bisschen aufzuschütteln“, erkannte Carl. „Knackstellen, Knotenpunkte, Weichenstellungen muss man sich im Nachhinein klar machen.“ Auf diese Weise kam auch das Verhältnis zu Frankfurt aufs Tableau. „Ich wusste, dass Frankfurt versuchte, sich als Jazzhauptstadt Deutschlands zu verstehen“, formuliert Carl süffisant „Lange vor meiner Zeit in den Sechzigern hat hier die amerikanische Avantgarde im Jazzkeller gejammt, dass es auch hier geprickelt hat.“ Die Speersitze vom Main um Albert Mangelsdorff hatte Carl „schon als Kind in Kassel gesehen“, saß später bei Globe Unity neben dem „Posaunen-Weltmeister“ im Orchester. „Er war der älteste, ich der jüngste“, erinnert sich Carl. „Der Albert war noch der bunteste Vogel, der sich am weitesten rausgetraut hat.“
Rüdiger Carl sah sich nicht bei denen, die den Jazz verwalteten, sondern bei den Freigeistern, bei Heiner Goebbels und Alfred Harth. Und er schuf sich seine eigenen Spielplätze in der Stadt, nicht in den Clubs, sondern in den Theatern und Museen. „Ich habe das auch zur eigenen Unterhaltung betrieben. Mir war langweilig hier“, schmunzelt Carl. Interessierte gab es genug in der Kunstszene. „Durch ein paar Köpfe, die nach Frankfurt kamen, bekam die Szene einen Schub.“ Jean-Christophe Ammann und Kasper König erwiesen sich als Kenner. „König kam ja aus der Fluxus-Szene, er hat mir Türen aufgemacht. Das Programm im Portikus, wo ich einfach meine kleine Welt vorgestellt habe, schlug ein wie eine Bombe.“ Auch das „pol. Festival für zeitgenössische Musik“ im Mousonturm organisierte er 1999 bis 2003 mit. Im Städel kuratierte er eine Sommermusik-Reihe. Immer dem Underground verpflichtet. „Aber ich wollte es nicht übertreiben, hier den Kulturheini machen und missionarisch wirken.“ Heute spielt er mit Leidenschaft Akkordeon. Die Oma hatte ihm als Bub schon eins geschenkt. Die Wiederentdeckung brachte die Befreiung vom freien Spiel und die Balance zwischen Jux und Ernsthaftigkeit. Ein echtes Nonchalance-Instrument.
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„Ab Goldap“ – Weiss liest Carl, 16.4., 19 Uhr, Ffm., Weltkulturen Labor, Schaumainkai 37, Eintritt 5,–
14. April 2014, 07.32 Uhr
Detlef Kinsler
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