Wiesbaden buht und trampelt

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esther boldt /

Selten wurde im Theater so leidenschaftlich gebrüllt und getrampelt wie nach der gestrigen Premiere von "Weiß wie der Mond" in Wiesbaden. War doch die erste Premiere des neu formierten Balletts, war doch die Kunst selbst schon lange zum Symbol geworden. Denn als 2006 bekannt wurde, dass Intendant Manfred Beilharz den Vertrag des langjährigen Ballettdirektors Ben van Cauwengbergh nicht verlängern wollte und vom klassischen Ballett auf Zeitgenössischen Tanz umsteigen wollte, erhob sich die Wiesbadener Bürgerschaft. Für den Erhalt van Cauwenberghs und seines "Fernsehballetts" (FAZ) wurden Unterschriften gesammelt und Flugblätter verteilt. Beilharz setzte sich dennoch durch, Stephan Thoss, zuletzt Ballettdirektor in Hannover, wurde mit Beginn des Spielzeit 2007/08 zum neuen Ballettchef ernannt.



So war sein erster Ballettabend emotional bis zum Anschlag aufgeladen, die Spannung im Saal deutlich spürbar. Der erste Teil der dreiteiligen Gala "Weiß wie der Mond", ein Ballett zu Bachs "Musikalischem Opfer", das dessen Entstehungsgeschichte am Hofe Friedrichs des Großen aufgriff und weitersponn - eine düsterere, traumgleiche Erzählung von Zuneigung und Eifersucht, Musenkuss und Krise - am Ende dieses ersten Teils also machte sich die Spannung lautstark Luft. Ein Teil des Publikums buhte nach Kräften die Tänzer aus, dagegen erhob sich eine zahlenmäßig deutlich stärkere Front "Bravo"-Rufer. Trotz des Geschreis waren nur wenige Plätze nach der Pause verlassen, wollte es sich doch anscheinend niemand nehmen lassen, den neuen Ballettdirektor selbst beim Schlussapplaus auszubuhen (mein Kompliment im übrigen an den Herrn hinten links und seine gut trainierten Lungen, die rhythmisch vollkommen regelmäßiges "Buh" ausstießen, dass wie das Schreien einer brünftigen Kuh klang). So wiederholte sich die gleiche Szene gut eineinhalb Stunden später, nach einem wirklich gelungenen Ballettabend, mit dem Thoss auch bewies, dass er ein Ensemble fügen kann. Erstaunlich, wie homogen sich die Tänzer präsentierten, deren Großteil bereits unter van Cauwenbergh hier tanzte, ergänzt durch einige Tänzer, die Thoss aus Hannover mitbrachte sowie ein paar Neulinge.



Nach dem ebenso komischen wie grotesken dritten Teil des Ballettabends also, "No Cha-Cha-Cha", einer bösen und sehr witzigen, pointierten Parodie auf Gesellschaftstänze und Superstarsuchen, erhob sich das Gebrüll beider Fronten erneut. Wobei die "Bravo"-Rufe bald lauter schallten und sich das Publikum fast geschlossen erhob, als Stephan Thoss die Bühne betrat. Die Aufmerksamkeit ist nun auf seiner Seite, und auch die Solidarität eines Großteils seines Publikums kann Thoss bereits für sich verbuchen. Ein komischer, aber auch beklemmender Wettkampf des hochkonservativen Wiesbadener Publikums, das nicht darauf verzichtete, die Premiere selbst mit ostentativem, enervierendem Hüsteln und Geschwätz zu stören, mit jenen, die auch gerne mal etwas Abwechslung auf der Bühne haben. Zumal Intendant Beilharz sein Publikum ja kennt und Stephan Thoss klug ausgewählt hat: Mit seiner Mischung aus lustigen und grotesken Elementen, fantasievollen Figuren und durchaus narrativen Strukturen sowie seinem versierten und raffinierten Umgang mit der Theatermaschinerie wird sich Thoss sicherlich innerhalb kurzer Zeit eine Fangemeinde erarbeiten.



Foto: Martin Kaufhold


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