Rekord-Wanderin Christine Thürmer

„Meine einzigen beiden Termine sind Sonnenauf- und untergang“

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Christine Thürmer war letzten Mittwoch in Frankfurt, um einen Vortrag über ihr neues Buch „Wandern. Radeln. Paddeln.“ zu halten. Im Interview spricht sie über Blasen, Trüffelsammler und Prä-Trip-Depressionen.

Katrin Börsch /

JOURNAL FRANKFURT: Wie im ersten Buch beschrieben, hat ihr Outdoorleben mit dem Wandern begonnen. Wann und wie sind Sie zum Paddeln und zum Radfahren gekommen?

Christine Thürmer: Das hat sich aus einer ganz bewussten Entscheidung heraus ergeben. Vor meinem Outdoorleben war ich Geschäftsfrau und aus meinem Business-Leben wusste ich, dass diese Abhängigkeiten oder Monostrukturen Risiken bergen. Ist man von einem Lieferanten abhängig und der macht pleite, dann hat man ein Problem. Beim Wandern ist es so, dass ich den gesundheitlichen Risiken total ausgesetzt bin: Verstauche ich mir den Knöchel, dann kann ich nicht mehr wandern, aber dann kann ich noch paddeln und auch radfahren. Ich habe sehr früh mit dem Wandern angefangen. Meine zweite Tour war eine Radtour und ein paar Jahre später kam das Paddeln dazu. Man ist also flexibler im Hinblick auf gesundheitliche Probleme oder geistige Abnutzung.

JF: Insgesamt 75.000 km haben Sie zurückgelegt. Wieviel davon mit Rad oder Kajak?

CT: Ich bin insgesamt 40000 Kilometer gewandert, quasi einmal rund um die Erde. Damit bin ich meines Wissens nach die meistgewanderte Frau der Welt. Geradelt bin ich viel weniger – 30000 Kilometer, aber in den meisten Ländern. Und dann bin ich noch 6500 Kilometer gepaddelt. das ist ja eher jämmerlich im Vergleich zu den anderen Strecken! (lacht)

JF: Durch Asien sind Sie fast ausschließlich mit dem Rad gefahren. Hat das einen Grund?

CT: Ja, die Wanderwegstruktur gibt es dort nicht her. Nach Japan und Korea werde ich sicherlich mal zum Wandern gehen. Da gibt es auch Wanderwege. Aber ansonsten haben die Leute in den Schwellenländern andere Sorgen, als Wanderwege anzulegen.

JF: Was ist eine Prä-Trip-Depression?

CT: Vor jedem Trip ist mir schlecht, ich habe Angst und keine Lust. Ich denke, es geht alles schief. Aber das gibt sich immer: Kaum laufe ich los, ist alles weg. Und vorher denke ich mir immer: „Was machst du denn nur? Was eine Scheiß Idee! Und jetzt muss ich da los laufen und es ist kalt“.

JF: Was ist das beste Mittel gegen eine Prä-Trip-Depression?

CT: Loslaufen. Das verfliegt sofort. An Tag 1 ist es schon erledigt.

JF: Wie ist es nach dem Trip? Ist es nicht ein bisschen seltsam, nach einem langen Trip zurück in den Alltag, ins normale Leben zu gehen?

CT: Ich habe ja kein normales Leben mehr. Nach der ersten Tour habe ich zweieinhalb Jahre gearbeitet. Aber seitdem bin ich dauerhaft unterwegs. Es ist mir auch völlig wurscht, ob ich mit einer Tour fertig bin. Nach meinen ersten Touren habe ich immer ein Schlussfoto geschossen. Das mache ich zwar jetzt auch noch, aber ich weiß, dass es bald wieder losgeht. Momentan pendelt es sich so auf ein 50 zu 50 Verhältnis ein: sechs Monate unterwegs und sechs Monate hier. Früher war ich neun Monate unterwegs und drei Monate hier. Ich mache sozusagen Heimaturlaub und dann geht es wieder auf Tour. Nach dem Trip ist vor dem Trip.

JF: Was sind die größten Unterschiede zwischen Trips in Europa und Amerika bzw Australien?

CT: Das würden die meisten Leute nie erwarten, aber in Europa ist man allein unterwegs und in den USA rennt man mit Horden von Menschen durch die Gegend. Das liegt daran, dass es hier in Europa viel mehr Wanderwege gibt. Das heißt aber auch, dass die Trail Community fehlt. In den USA gibt es wenige, sehr epische und ikonische Wanderwege und da gibt es dann auch die sogenannten Trail Angels – also Leute, die den Wanderern helfen. Sowas gibt es in Europa überhaupt nicht. Da stehe ich allein auf weiter Flur. Auf dem Jakobsweg zwar nicht, aber ansonsten schon. Zuletzt war ich in Osteuropa unterwegs. Da ist wirklich niemand, gar niemand.

JF: Aus ihren Büchern geht hervor, dass Sie am liebsten alleine reisen. Warum?

CT: Eine Langstrecke, egal wie, zu begehen, ist eine total egozentrische Angelegenheit. Wenn man diese langen Distanzen bewältigen will, muss man konsequent sein eigenes Tempo radeln, paddeln oder wandern und seinen eigenen Stil durchziehen. Man kann sich für ein bis zwei Tage einem anderen Menschen anpassen. Das geht aber maximal ein paar Wochen gut und dann führt das immer zu totalem Frust: „Jetzt lauf doch mal schneller!“. Oder wenn der andere schneller ist und man versucht da mitzuhalten, führt das ganz schnell zu körperlichen Überlastungserscheinungen.

JF: Haben Sie das Gefühl, immer nach einer neuen Herausforderung zu suchen?

CT: Ich versuche tatsächlich mit jeder Tour meine Komfortzone zu erweitern. Das hat eigentlich nichts mit einer Herausforderung zu tun, sondern einfach mit der Frage, ob ich denn nicht noch ein bisschen was anderes machen kann. Bei der Wanderung, die in meinem Buch „Wandern. Radeln. Paddeln.“ beschrieben wird, habe ich überlegt, kann ich denn in Europa wirklich einen Winter über komfortabel durchwandern? Durchwandern geht immer. Aber kann ich dabei noch Spaß haben und ist es noch entspannt? Das war die Herausforderung. Und beim Paddeln war es die Frage, kann ich auf dem See paddeln? Kann ich auf dem Meer paddeln? Ich versuche da, immer ein bisschen weiterzugehen.

JF: Worin besteht die nächste Herausforderung?

CT: Als nächstes geht es für mich ans Nordkap. Vom südlichsten Punkt Europas, von Tarifa aus, soll es an den nördlichsten Punkt, ans Nordkap gehen. Da fehlen mir noch schlappe 3000 Kilometer. Anfang Mai fliege ich nach Schweden. Dafür plane ich 4 Monate ein. Ich rechne in Europa immer so 750 Kilometer pro Monat ein. Das ist eigentlich wenig. In den USA oder in Australien schaffe ich um die Tausend. Da gibt es weniger Abwechslung. In Europa gibt es ja ganz viel zu besichtigen.

JF: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie laufen? Wird Ihr Kopf dabei völlig leer? Hatten Sie schon mal etwas wie einen spirituellen Moment?

CT: Jetzt muss ich Sie erstmal ernüchtern. Unterwegs denkt man hauptsächlich an eines: Essen! Was esse ich als nächstes? Was esse ich in der Stadt? Was würde ich jetzt gerade essen? Man denkt sehr viel an profane Dinge. Aber diese Leere im Kopf, dadurch, dass man unterwegs keine großen Entscheidungen zu treffen hat. Diese Leere im Kopf, die hat man dann dafür über Sachen nachzudenken, über die man auch wirklich nachdenken will. Ich höre zum Beispiel viele Hörbücher unterwegs und die geben mir ganz viel Stoff zum Nachdenken. Was ich sehr interessant finde, ist, mich mit allen möglichen Religionen zu beschäftigen. Egal, wo ich bin, ich versuche, Menschen zu treffen, die eine religiöse Affiliation haben und befrage sie dazu. Im Südwesten der USA habe ich mit Mormonen gesprochen. In Japan habe ich mich mit Buddhisten unterhalten. Das ist eine intellektuelle Herausforderung für mich.


JF: So ein Outdoorleben ist extrem. Was lässt Sie, trotz all der Unannehmlichkeiten, daran festhalten?

CT: Es ist einerseits die Einfachheit des Lebens, die sehr viel Spielraum für intellektuelle Überlegungen lässt. Mit 20 Jahren denkt man noch über die großen philosophischen Fragen nach. Später hat da kein Mensch mehr Zeit zu. Man muss ja arbeiten. Ich kann das wieder und ich genieße diese Zeit und Freiheit sehr. Das Zweite ist das Thema Selbstbestimmtheit – Ich habe keinen Chef mehr. Ich kann da draußen tun und lassen, was ich will. Das Einzige, was mir noch Grenzen setzt, ist die Natur. Meine einzigen beiden Termine sind Sonnenauf- und untergang. Das Dritte ist das Leben im Hier und Jetzt: Unterwegs sind sowohl die Probleme, aber vor allen Dingen auch die Glücksgefühle körperlich und direkt. Ich stehe morgens auf, die Vögel zwitschern, ich laufe los und bewundere den Sonnenaufgang. Mittags springe ich in den See und kühle mich ab. Abends lege ich mich auf meine Isomatte, strecke mich aus und bin glücklich. Es ist nicht so wie wenn man eine Gehaltserhöhung bekommen hat und sich in zwei Monaten davon etwas kaufen kann. Das Glück ist im Hier und Jetzt.

JF: Wie lange wollen und können Sie das noch durchziehen?

CT: Der älteste Appalachian-Trail-Hiker hat einen neuen Altersrekord aufgestellt. Er ist den 3300 Kilometer langen Trail mit 82 Jahren gelaufen. Ich bin 50 Jahre alt, also habe ich noch gut 30 Jahre vor mir. (lacht) Ich betrachte mein ganzes Leben wie einen Hochglanzkatalog und der hat ganz viele tolle Angebote. Ich muss sie nur wahrnehmen. Das verändert sich ja auch. Ich hätte vor zwanzig nie gedacht, dass ich mal die meist gewanderte Frau der Welt werden würde. Ich hätte vor zehn Jahren nicht gedacht, dass ich mal zwei Bestseller schreiben würde. Man muss einfach die Augen aufhalten und gucken, welche Möglichkeiten sich bieten. Auch wenn ich mal nicht mehr wandern können sollte, dann wird sich ja etwas anders auftun. Das Leben ist voller verlockender Angebote!

JF: Wie finanzieren Sie ihr Outdoorleben eigentlich?

CT: Ich habe ja das große Glück, dass ich früher sehr gut verdient habe und eigentlich schon immer sehr geizig war. Dadurch hat sich das Geld angesammelt und ich lebe jetzt von meinen Ersparnissen. Als ich losgelaufen bin, sagte mein Bankberater: „Frau Thürmer, ich habe zwei Nachrichten. Die gute: Sie können mit 1000 Euro im Monat wandern gehen. Die schlechte: Mit 90 müssen sie sterben. Dann ist ihr Geld alle.“ Jetzt habe ich ja die Bücher produziert und hoffe, dass ich 92 Jahre alt werden kann.

JF: Wann kommt das dritte Buch?


CT: Vielleicht 2020 – also alle zwei Jahre, denke ich.

JF: Was war die schlimmste Verletzung, die sie sich je zugezogen haben?

CT: Das Lustige daran ist, dass ich mir meine schlimmste Verletzung gar nicht auf einem Trip, sondern zwischen zwei Trips zugezogen habe. Da bin ich von einer Treppe gefallen und habe mir das Knie verletzt, sodass ich nicht mehr wandern konnte. Aber glücklicherweise hatte ich sowieso eine Paddel-Tour geplant. Das war super. Auf einem Trip bin ich mal in eine unterirdische Höhle eingebrochen und fünf Meter tief gestürzt. Aber ich hatte wahnsinniges Glück. Das Einzige, was ich zurückbehalten habe, ist eine kleine Narbe an der Hand.

JF: Auf einer Wanderschaft hat man nicht immer das perfekte Equipment zur Versorgung von Blessuren parat. Tipps zur provisorischen Erstversorgung von Blasen, Schürfwunden oder gar schlimmeren Verletzungen?

CT: Trägt man die richtigen Schuhe, dann bekommt man erst gar keine Blasen. Ich bin ausschließlich in Trail Running Schuhen unterwegs. Wanderstiefel sind wie ein Korsett und beanspruchen die Füße sehr. Mit Trail Running Schuhen werden die Füße nicht so strapaziert. Sollten alle Stricke reißen, dann kann man sich die Füße, abends vor dem Schlafengehen, mit einer Fettcreme ganz dick einschmieren: Hirschtalg, Vaseline, Nivea. Dann zieht man sich eine Plastiktüte drüber und zieht Socken an, lässt das über Nacht einziehen und am nächsten Morgen hat man Füße wie einen Kinderpopo. Für alle anderen Fälle besteht meine Notfallapotheke aus Ibuprofen, Jodsalbe, Pflastern und Azithromycin – das ist ein Antibiotikum gegen Borreliose. Realistisch gesehen ist es so, dass man sich sowieso in der Zivilisation verarzten lassen muss, wenn man etwas Schlimmeres hat. Das kann man nicht selbst machen. Diese Heldengeschichten nerven mich total, wenn die Leute sich da irgendwie mit Zahnseide die Wunden nähen.

JF: Was war das kurioseste, das Ihnen je passiert ist?

CT: Ich trabte durch die Pampa Spaniens, weil ich vom Weg abgekommen war. Dann stand da so ein älterer Herr in einem versifften Trainingsanzug mit Hund herum. Er sah haargenauso aus, wie ich mir einen Exhibitionisten vorstelle. Ich habe ihn nach dem Weg gefragt und den hat er mir auch wunderbar erklärt. Mir war die Situation suspekt und ich wollte schon wieder gehen. Dann fragte er, ob ich denn nicht wissen wolle, was er da machte. Und ich dachte, jetzt lässt er gleich die Hosen runter. Er stand nur freudestrahlend da und sagte: „Ich sammele Trüffel“. Daraus entstand ein schönes Gespräch. Oft ist es eben so, dass man Situationen erst falsch einschätzt und sie sich im Nachhinein als positiv erweisen.

JF: Haben Sie schon mal einen Trip abgebrochen?

CT: Nein. Noch nie.

Die Langstreckenwanderin, Christine Thürmer, hat zu Fuß, per Rad und mit dem Kajak etwa 75000 Kilometer zurückgelegt und zwei Bücher darüber geschrieben. Nach Laufen. Essen. Schlafen. ist kürzlich ihr zweites Werk Wandern. Radeln. Paddeln. im Malik Verlag erschienen. Auf ihrem Blog berichtet Sie über ihre Trips.


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