Ältere Damen in Tüllröcken und roten Schnürkorsetts, jüngere Herren mit Strapsen und schwarzen Netzstrümpfen, schräge Vögel in Glitzerkleidern und grünen Perücken – solch ein schrilles Publikum hat die Alte Oper vermutlich lang nicht mehr (oder bisher noch nie?) beherbergt. Bereits auf dem Opernplatz kündigt sich den Besuchern des Theaterhauses ein Event der besonderen Art an: die Premiere der Rocky Horror Picture Show.
Manche der Operngänger sehen nicht aus, als wüssten sie, was sie erwartete. Aber Anzug und Business-Kostüm können eine perfekte Tarnung sein, wie ich bei dem Pärchen in der Reihe vor der unsrigen feststellen muss. Der Herr in akkurat sitzendem Einreiher und seine gleichfalls untadelig ausstaffierte Begleiterin springen voller Begeisterung von den Sitzen, als die Musik einsetzt. Sie haben sich mit einer der zum Kauf angebotenen Taschen gewappnet, die beinahe sämtliche notwendigen Utensilien enthält. Nur der berüchtigte Reis fehlt, denn dieser könnte auf dem Parkett zur Rutsch- und Stolperfalle werden. Unwissenden sei erläutert, dass sich eingefleischte Fans aktiv am Stück beteiligen, indem sie mit diversen Dingen werfen oder an bestimmten Stellen des Stücks vorgegebene Ausrufe von sich geben. Wurfgeschosse sind unter anderem der genannte Reis (bei der Verlobungsszene), Toilettenpapier (als Rocky aus seinen Bandagen ausgewickelt wird), Mehl (bei Eddies Auftritt im Nebel) und Toastbrotscheiben (wenn Frank’N’Furter sein Glas erhebt und einen Toast ausspricht). Für die Szene im Regen empfiehlt sich zudem eine Kopfbedeckung gegen Spritzer aus Wasserpistolen, die sich schnell zu einer kleinen Dusche auswachsen können. Ein Hinweis von unserer Sitzreihe an das Publikum auf dem Balkon: Wir werden Rache üben, früher oder später ...
Bereits beim ersten Song zieht uns insbesondere die charismatische Erscheinung – und Stimme – der Magenta in den Bann. Unter der platinblonden Perücke und dem dramatischen Make-up versteckt sich eine zierliche, brünette Schwedin (Maria Franzén), die leicht errötet, als wir ihr später zur hervorragenden Leistung gratulieren. Sie freut sich über die Bewunderer, bekennt allerdings, dass das Züricher Publikum bisher das beste gewesen sei. Noch besser als jenes in Frankfurt? Kaum möglich! Am Ende der Show gibt es Standing Ovations, Rufe nach Zugaben und ohrenbetäubenden Applaus. Auch während des Stücks arbeiten die Opernbesucher gewissenhaft den Katalog an Mitmachmöglichkeiten ab.
Daraus entstehen skurrile Situationen, wenn beispielsweise Erzähler Martin Semmelrogge – immer wieder mit den obligatorischen Rufen „boring“ konfrontiert – seinen Text spontan abwandelt, um das Publikum zu anderen, vorhersehbaren Reaktionen zu bewegen. Lautes Gelächter löst anschließend die Kundgebung einer Frau in den hinteren Reihen aus, die „ein Kind“ von Semmelrogge haben möchte. Ausgerechnet von Semmelrogge? Dann doch lieber von Frank’N’Furter (Rob Morton Fowler), dessen Name allein schon Grund genug für jeden Frankfurter sein müsste. Seine Rolle strotzt geradezu vor Ironie und zweideutigen Anspielungen. Großartig werden etwa die zwei aufeinanderfolgenden Szenen umgesetzt, in denen er erst die unschuldige Janet und anschließend den biederen Brad verführt. Dabei wiederholt sich zweimal die exakt gleiche Szene mit unterschiedlichen Akteuren. Ein kleiner Regie-Geniestreich, der die Berechenbarkeit des Menschen veranschaulicht. Oder um es mit den Worten aus der Eigenwerbung zu sagen: „Bad, bizarre and bloody brilliant!“