Hin und wieder erlebt man, wie sich eine scheinbar nichtige Sache in Dimensionen ausweitet, die mit den Kategorien des Juristischen überhaupt nicht mehr fassbar ist. Da ist Herr L., angeklagt, weil er vor etwa vier Jahren ein etwa 0,2 Gramm schweres Klümpchen Crack verkauft hat. 50 Euro hat er dafür erhalten. Weil Herr L. mehrfach und einschlägig vorbestraft ist, hat das Gericht ihn dafür zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt, die 50 Euro beschlagnahmt und noch dazu das Mobiltelefon von Herrn L., weil auf diesem der Deal eingefädelt und das Gerät somit als Tatwerkzeug betrachtet wurde. Herr L. hat gegen das Urteil zunächst Berufung und dann Revision eingelegt; das Oberlandesgericht verwies die Sache zurück an das Landgericht, mit dem Hinweis auf eine fehlerhafte Begründung des Urteils. Das eigentliche Drama liegt in der Person des Angeklagten selbst. Herr L. ist ein kleiner Mann mit Schnurrbart, Ohrring und Zopf, 47 Jahre alt, und hat eine mehr als dreißigjährige Drogenkarriere hinter sich. Wenn Herr L. sein Leben erzählt, wenn er ohne jede Illusion über seine Existenz spricht, wird es selbst dem Richter ab und zu mulmig: „Oh je“, so seufzt er hin und wieder, während der Angeklagte seine Biografie darlegt: Der Alkoholismus des Vaters, das Aufwachsen im Heim, der frühe Kontakt mit Drogen, Jugendstrafen, abgebrochene Lehren, Sucht und vergebliche Therapien, Substitutionsprogramme. Seit einigen Jahren nun sei er clean, erzählt er. Er ist in zweiter Ehe verheiratet und hat eine Tochter. Eines Tages, so sagt Herr L., sei er in seiner eigenen Wohnung überfallen worden – die Diebe wollten an das Methadon, das dort lagert. Daraufhin entzog das Jugendamt ihm das Sorgerecht und steckte sein Kind in eine Pflegefamilie am Bodensee, wo Herr L. es einmal im Monat besuchen darf. Am Bahnhof in Radolfzell wurde er gefilzt; die Polizei fand ein paar Krümel Kokain in seiner Tasche. Die nächste Verurteilung. Krank sei er, sagt Herr L., warte auf die Rente: „Ich bin ein innerliches Wrack.“ Offenkundig hat niemand im Saal das Bedürfnis, auf diese Serie von Schicksalsschlägen etwas draufzusetzen. Herr L. will sein beschlagnahmtes, mittlerweile vier Jahre altes Handy zurück, „das war neu und abbezahlt.“ Schließlich einigen sich sein Anwalt und der Staatsanwalt: Herr L. soll eine Verwarnung unter einem Strafvorbehalt von 120 Tagessätzen à 5 Euro erhalten und darüber hinaus 60 gemeinnützige Arbeitsstunden ableisten. Das Handy bleibt beschlagnahmt; die fünfzig Euro für den Crack-Deal ebenfalls. Herr L. zahlt gerade noch eine Strafe wegen Fahrens ohne Führerschein ab; mehr kann er zur Zeit ohnehin nicht leisten. „Es kann nicht im Sinne des Staates sein“, sagt der Staatsanwalt, „ihm noch weitere Geldzahlungen aufzuerlegen.“ Herr L. ist mit dem Kompromiss zufrieden. Doch im Grunde scheint all das auch nicht wichtig für ihn zu sein.Christoph Schröder