Medico international sitzt in der Burgstraße in Bornheim. Unten leuchtet groß das Schild eines Biosupermarkts, oben in der ersten Etage des 70er-Jahre-Baus ist alles weiß getüncht, die Wände hier und da durchbrochen, die Tische aus edlem Holz. Letzteres ein Relikt der Bankenkrise als die Dotcom-Blase platzte – da fragte Thomas Gebauer, der medico-Geschäftsführer, bei den krisengeschüttelten Instituten an, und bekam einige feine Büromöbel frei Haus geliefert. Soll noch mal einer sagen, die Banken würden nicht geben – selbst wenn die Zeiten schlecht sind. 40 Jahre ist die Organisation in diesem Jahr alt, ein Zeitpunkt, der auch genutzt werden soll, die Verbindungen zur Stadt Frankfurt, die zu Beginn noch stark waren, wieder aufleben zu lassen. Mit einer langen Veranstaltungsreihe will die Organisation wieder präsenter in der Stadtgesellschaft werden. Da ist viel zu tun und Gebauers Büro bordet über vor Zetteln und Büchern, in der Ecke steht noch ein altes Telex. „Da haben wir früher die Pressemitteilungen drauf geschrieben“, sagt Gebauer. Auch sein Kompagnon, der Frankfurter Arzt Mathis Bromberger, kann sich noch an diese Zeiten erinnern. Es wird dennoch auch ein Gespräch über die Zukunft von internationaler Solidarität.
Thomas Gebauer: Was wollen wir besprechen?
Journal Frankfurt: Die Vergangenheit. Die Anfänge würde mich interessieren ...
Thomas Gebauer: Also, ich bin „erst“ seit etwa 30 Jahren dabei – über die Anfänge kann Mathis glaub ich mehr erzählen ...
Mathis Bromberger: Medico ist aus der 68er-Bewegung heraus entstanden. Zunächst nur von ein paar Bürgern, von Studenten getragen, die Medikamente gesammelt haben für Biafra, auch für Vietnam. Zunächst haben wir gearbeitet wie andere Hilfsorganisationen auch: die gesammelten Medikamente in die Regionen der Welt verschifft, in denen es Krisen gab, um dort den Menschen zu helfen. So bin auch ich 1971 nach Kalkutta geflogen und von dort aus ins heutige Bangladesch, das damals vom Unabhängigkeitskrieg gebeutelt war. Da haben wir schnell gemerkt, dass das nicht der ganz richtige Weg sein kann. Wir haben dort über einige Monate ein Hospital aufgebaut und betrieben. Aber: ich bin damals mit äußerst schlechtem Gewissen wieder weggefahren, denn man wusste: wir lassen diese Menschen dort alleine.
Bromberger (links) 1971 in Bangladesch.
Journal Frankfurt: Es war kein langfristiges Engagement.
Bromberger: Langfristig war gar nichts. Wir hatten damals schon die ersten Ideen, was man anders machen könnte. Wir versuchten, die Menschen vor Ort mit in unsere Arbeit einzubeziehen, haben sie teilweise ausgebildet, die Vorläufer der sogenannten Paramediziner.
Journal Frankfurt: Was für Menschen gehörten zu den medico-Gründern?
Gebauer: Es war ja eine Zeit, die geprägt war von Vietnam. Und was man in diesem Zusammenhang immer sehen muss: es war auch eine Zeit, in der das Fernsehen erstmals über diese Konflikte in den entlegenen Ecken der Welt berichtete. Ferne Konflikte, ferne Gräueltaten, Bilder von ausgemergelten Kindern. Das hat die Leute empört, hat sie auf die Straße getrieben – und letztlich auch für eine neue Art von Solidarität gesorgt. Das war hier in Frankfurt eine Gruppe von Medizinstudenten und Bürgerinnen und Bürgern. Odina Bott spielte da eine nicht kleine Rolle, sie ist hier im Stadtteil noch heute bekannt als führendes Mitglied der Aktionsgemeinschaft Westend.
Bromberger: Es war die Zeit der internationalen Solidarität. Man sah diese Bilder und dachte: da kann ich nicht einfach zusehen, es ist Zeit aufzustehen und zu helfen.
Gebauer: Ärzte ohne Grenzen ist in dieser Zeit in Frankfurt entstanden, ein Jahr zuvor ist Terres des Hommes in Osnabrück entstanden. Da sind einige Hilfsorganisationen genau dieser Epoche gegründet worden.
Bromberger: Frankfurt war ja damals einer der Mittelpunkte der 68er-Bewegung, und damit auch einer der Mittelpunkte der Solidaritätsbewegung.
Journal Frankfurt: Waren Sie damals schon ausgebildeter Arzt?
Bromberger: Richtig, ich bin als Arzt nach Bangladesch gegangen. Das war für mich auch eine richtig gute Erfahrung, natürlich abgesehen von dem schon geschilderten schmerzlichen Gefühl, diese Menschen alleine gelassen zu haben. Aber als gut ausgebildeter, vielleicht auch etwas arroganter Arzt aus der Uni-Klinik, der dachte, er kann alles, war es etwas Besonderes dort hinzukommen und sich auf seine Sinne verlassen zu müssen.Es gab keine Bibliothek, keinen Apparat, keine Kollegen, die hinter einem standen.
Journal Frankfurt: Und auch medizintechnisch ist Bangladesch wohl kaum mit Uni-Klinik zu vergleichen gewesen ...
Bromberger: Nicht im entferntesten. Aber das ist auch etwas, das ich gelernt habe: dass man eben nicht soviel Technik braucht, um unmittelbar Hilfe leisten zu können. Das ist ja auch das Prinzip der Basismediziner - man muss seine Sinne gebrauchen, man muss die Menschen einbeziehen in seine Arbeiten und wie man so schön sagt, Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Dabei ist es auch wichtig, darüber nachzudenken, was die Ursachen für die Katastrophe sind, für die Krankheiten.
Journal Frankfurt: Mit den Ursachen für die Konflikte sind wir ja bei einem ganz interessanten Punkt, nämlich der Frage, wie man nachhaltig Hilfe leisten kann.
Bromberger: Ganz genau. Für mich war da ein ganz wichtiger Lehrer Alexander Mitscherlich, der uns beigebracht hat: fragt immer, woher die Symptome kommen. Warum werden Menschen krank? Was sind die Ursachen von Krankheiten? Sie haben, und das ist ganz wesentlich für die Arbeit von medico geworden, oft gesellschaftliche Ursachen.
Journal Frankfurt: Wie ist vor ihrem Einsatz das Geld, wie sind die Medikamente zusammengekommen?
Bromberger: Es wurde gesammelt. Im Freundeskreis, in den großen Teach-Ins, da ging dann ein Pott rum, auf dem drauf stand "Spenden für medico", so fing es wirklich an.
Gebauer: Am Anfang war der Name noch Aktion Medico, da war der Aktionsgedanke noch stärker. Das musste schließlich geändert, weil es eine ähnlich lautende Organisation schon gab.
Journal Frankfurt: Aber die Institution an sich gründete sich recht schnell.
Gebauer: Ja, gleich im ersten Jahr wurde der Verein eingetragen. Das ist auch verständlich, wenn man sich die Zahlen besieht: ich glaube, im ersten Jahr wurden allein 11 Tonnen Arzneimittel gesammelt.
Bromberger: Dazu muss man sagen: wir sind durch die Arztpraxen gegangen und dort hat man uns Muster und Reste gegeben. Da waren wir dann erstmal stundenlang damit beschäftigt, auszusortieren. Zum Beispiel Cholesterinsenker - für hungernde Menschen in der Dritten Welt? Es war regelrechter Pharmaschrott zum großen Teil.
Beim Aussortieren von Arzneimitteln
Gebauer: Anfang und Mitte der 70er-Jahre begann genau aus diesem Grund auch das Nachdenken darüber, dass Wohlstandsmüll in die Dritte Welt exportiert wurde und das man Hilfe anders organisieren müsste. Ende der 70er ist das komplett aufgegeben wurde.
Journal Frankfurt: Da haben Sie dann angefangen mit lokalen Partnern vor Ort zusammenzuarbeiten?
Gebauer: Das ist in der Zeit entstanden. Gerade aus den Erfahrungen heraus, die Mathis geschildert hat. Es reichte eben nicht aus, Leute vor Ort zu haben, die kurzfristig helfen, sondern es mussten Leute ausgebildet werden, Partner vor Ort gesucht werden, dies alles ist in den 70ern systematisch entwickelt worden. Diese Erfahrungen, die ja keineswegs medico allein gemacht hat, sondern die weltweit von Hilfsorganisationen gemacht wurden, gingen dann schließlich auch in die Healthcare-Strategie der WHO ein.
Bromberger: Zum Beispiel wusste ich bei meinem Einsatz, das viele meiner Patienten, der Flüchtlinge tuberkulosekrank waren. Sie langfristig zu behandeln hätte keinen Zweck gehabt, denn wir wären irgendwann wieder weg gewesen. Das hat dazu geführt, die Menschen zu befähigen, selbst Medikamente herzustellen, ihr Gesundheitssystem selbst in die Hand zu nehmen.
Journal Frankfurt: Konnten Sie denn damals überhaupt helfen?
Bromberger: Das schon. Es gab ja eine große Cholera-Epidemie. An Cholera musste keiner sterben, es ist eine recht leicht zu behandelnde Krankheit. Die Menschen starben, weil sie durch die Cholera entwässerten. Den Müttern zu zeigen, ihren Kindern immer wieder abgekochtes Wasser einzuflößen, war schon mal sehr wichtig. Und wir hatten natürlich eine große Menge Infusionen, die wir gegeben haben. Aber das ist ja auch heute noch ein großes Problem: viele Kinder in der Dritten Welt sterben an ganz banalen Sachen, an Magen-Darm-Infekten etwa. Sie müssten nur eine Mischung aus abgekochten Wasser mit etwas Salz bekommen und dann überlebten sie. Dieses Wissen zu vermitteln ist ein ganz wesentlicher Teil unserer Arbeit.
Journal Frankfurt: Es hört sich etwas unbedarft an, wenn Sie von dieser Zeit erzählen ...
Bromberger: Das waren wir auch. Wir waren nur zu viert, eine kleine Gruppe. Klar, es gab diese Flüchtlingskatastrophe und unsere erste Aufgabe war es, im Gebiet von Kalkutta ein Lazarett aufzubauen. Wir wussten nicht, dass das Gelände, das die Regierung von Bengalen uns gab, in der Monsunzeit zu einem See wurde. Als wir ankamen war noch alles trocken und dann ging es los. Wir mussten Zelte besorgen, Entwässerungsgräben heben - das war erstmal keine rein medizinische Tätigkeit. Und schon da mussten wir Menschen motivieren, mitzuhelfen.
Journal Frankfurt: War es denn leicht, dort überhaupt hinzukommen?
Bromberger: Leicht war es schon, denn es gab ja zigtausende Flüchtlinge, die sich dort sammelten. Aber die Regierung war andererseits auch nicht besonders begeistert.
Journal Frankfurt: Waren Sie noch einmal dort?
Bromberger: Letztes Jahr gerade, da waren wir beide zum 35-jährigen Jubiläum der Hilfe in Bangladesch. Das war toll. Auch zu sehen, was seither geschehen ist. Es gab schon in den 70ern gut ausgebildete Ärzte, die etwa in London studiert hatten, die zurück in ihre Heimat gingen und anfingen, ein Gesundheitssystem aufzubauen, das heute wirklich hervorragend ist. Die Organisation Gonoshasthaya Kendra macht dort wirklich außerordentliche Basisarbeit.
Gebauer: Der Name ist bengalisch und bedeutet Volksgesundheitszentrum, eine Einrichtung, die aus dieser Betreuung der Flüchtlinge und der Kriegsopfer heraus entstanden ist. Sie ist eine der bedeutendsten gesundheitspolitischen NGOs der Welt. Die betreuen heute nicht nur 1000 Dörfer und 1,7 Millionen Menschen, sondern erfüllen die Millennium Development Goals, das, worum heute in so vielen Ecken der Welt noch gekämpft wird. Sie haben eine medizinische Fakultät gegründet, sie stellen Arzneimittel her - sie haben also Gesundheit wirklich selbst in die Hand genommen. Und mit denen arbeiten wir nach wie vor zusammen.
Journal Frankfurt: Es muss nur den richtigen Anstoß haben?
Gebauer: Ja. Es ist im besten Sinne des Wortes Hilfe zur Selbsthilfe. Wir wollen die Menschen ja nicht in Abhängigkeit halten, sondern die Abhängigkeit lösen und die Not lindern. Das ist unser Ziel. Deswegen betten wir Hilfe auch immer in einen politischen Kontext ein.
Journal Frankfurt: Doch gerade Europa und die USA überschwemmen doch auch heute noch Kontinente wie Afrika mit Hilfsgüter oder billigen Lebensmitteln.
Gebauer: Umso wichtiger ist es, immer strukturell zu arbeiten. Zu sehen war das etwa beim Tsunami. Direkt nach der Katastrophe haben die Menschen vor Ort begonnen, alles wieder aufzubauen. Dann kam sozusagen die zweite Welle der Hilfslieferungen. Und sofort wurden die Menschen, die gerade erst aktiv geworden waren, wieder zu passiven Empfängern. Das ist ein massives Problem.
Bromberger: Das ist auch eine Frage der Würde.
Journal Frankfurt: Was ist die Alternative?
Gebauer: Nun, wir haben begonnen in den 70ern in Ländern zu arbeiten, die zu dieser Zeit gerade unabhängig wurden. Mosambik zum Beispiel, aber auch Kap Verde, mit denen wir über viele Jahre zusammengearbeitet haben. Da trafen wir vor Ort auf Leute, die die gleiche Auffassung von autonomer Gesundheitsfürsorge hatten wie wir, die wussten, das der Erhalt von Unabhängigkeit auch über ein eigenständiges Gesundheitssystem funktioniert. Da ging es nicht nur darum, Leute hinzuschicken, sondern Basisgesundheitspfleger auszubilden und auszurüsten. Denen haben wir diese Gesundheitstaschen gegeben - mit Verbandsmaterial, kleinen chirurgischen Werkzeugen, eben dem, was man in der Basispflege benötigt.
Bromberger: So macht es Gonoshasthaya Kendra übrigens auch. Mit diesem minimalen Equipment können sie auf dem Land wirklich sinnvolle Hilfe leisten. Durch solche einfache Hilfe konnte die Kindersterblichkeit ganz enorm gesenkt werden.
Gebauer: Die wissen natürlich auch, was sie nicht können. Dafür gibt es dann Referenzsysteme. Sie melden an die nächstgrößeren Einheiten und es gibt die Möglichkeit, an Krankenhäuser zu überweisen. Aber diese Barfuß-Ärzte, die heißen wirklich so, leisten einen ganz entscheidenden Beitrag. In Kap Verde haben wir da viele Erfahrungen gesammelt, dort haben wir auch Jeeps bereitgestellt, die in die entlegeneren Regionen mit einer etwas größeren Ausrüstung kamen. Und wir haben eine kleine Pharmamanufaktur aufgebaut.
Journal Frankfurt: Nun ist es ja so, dass Leute vor Ort oft unsichtbar bleiben, wenn Medien über Katastrophen berichten. Müssten Sie nicht mehr Marketing betreiben, um auch ein größeres Spendenaufkommen zu erreichen?
Gebauer: Wir wollen selbstehrlich bleiben. Man sieht ja die Zwänge, die daraus erwachsen. Es geht auch darum, mit den Spendern ehrlich umzugehen, zu sagen: Welche Probleme haben wir, welche Hindernisse gibt es vor Ort, welche politischen Ursachen haben Not und Katastrophen. Wir haben kürzlich ein Faltblatt gemacht, das nur mit Text geworben hat, das fanden wir naheliegend. Das ist auch dem Feuilleton aufgefallen, die taz interviewte etwa einen Fotografen, was der davon hält.
Journal Frankfurt: Der hat gewiss nicht viel davon gehalten.
Gebauer: Ja, die Frage ist immer: heiligt der Zweck die Mittel? Wenn wir behaupten würden: es gibt keinen politischen Kontext, die Not ist einfach so da, dann beinflusst das auch die öffentliche Meinung über das, was eigentlich effektive Hilfe ist. Wir alle kennen den Spruch: Gib einem hungernden einen Fisch und er ist einen Tag satt, lehre ihn fischen und er ist für ein Leben lang satt - dieser Satz wirkt heute etwas altfränkisch und von vorgestern, aber er gilt glaube ich noch. Auch wenn man natürlich mit Gegenwind rechnen muss: Wie kannst Du auf dem Rücken eines Kindes, das hungern muss, Politik machen? Du musst helfen, zupacken - das ist die Botschaft, die heute existiert. Damit wird eine andere Vorstellung von effektiver Hilfe in der Öffentlichkeit transportiert, als eigentlich notwendig ist. Insofern wirken die Mittel, die man wählt, auf den Zweck zurück.
Journal Frankfurt: Doch kurzfristige Hilfe kann doch so organsiert werden - da ist per se ja nichts Verwerfliches dran.
Gebauer: Beim Tsunami war das so. Ich will jetzt keine Medienkritik machen, aber die Medien waren damals darauf aus, die Helfer vor Ort zu filmen, zu zitieren, zu zeigen. Deutschland hilft vor Ort - das war ganz hoch im Kurs. Wir hatten lokale Partner vor Ort, die sich von den Menschen, denen sie halfen, überhaupt nicht unterschieden. Was kann man da sichtbar machen? Die Medien waren darauf aus, einen ausgesendeten Helfer zu zeigen, der einen armen Menschen versorgt; das ist ein wunderschönes Bild. Und schon hatte die Perzeption Rückwirkung auf die Hilfe, die vor Ort stattfand. Deswegen sagen wir an dieser Stelle: wir bleiben bei unserem Konzept, auch wenn wir vielleicht keine so große Öffentlichkeit haben, aber dafür eine, die relativ stabil ist.
Journal Frankfurt: Aber es hat sich doch etwas verändert: neben dem medizinischen Standbein ist ein politisches dazugekommen. Die Politik, die anfangs vielleicht nur mitschwung oder Auslöser war, ist heute für medico ein wichtiges Betätigungsfeld geworden. Etwa wenn man sich die Kampagne über Landminen oder das Rohdiamanten-Geschäft anschaut.
Gebauer: Das ist ein ganz wichtiger Teil des hippokratischen Eids: dafür Sorge zu tragen, dass Menschen gar nicht krank werden oder Opfer von Unfällen.
Bromberger: Wobei in der Öffentlichkeit der Arzt vor allem als Helfer, als Totkurierer gesehen wird. Dabei gehört zu seinem Auftrag, die Ursachen von Krankheit und Tod zu erforschen.
Gebauer: Die Minenkampagne ist ja nicht entstanden, weil wir etwas gegen Minen hatten, sondern weil wir Kriegsopfer behandelt haben und Prothesen verteilen mussten.
Journal Frankfurt: Das lässt sich aber nur schwer vermitteln.
Gebauer: Anfangs gab es da große Schwierigkeiten.
Journal Frankfurt: Warum nutzt ihr das Geld nicht, um den Leuten wirklich zu helfen? Warum gebt ihr es für eine Anzeigenkampagne, für politischen Lobbyismus aus?
Gebauer: Uns wurde gesagt: ihr verwechselt Hilfe mit Politik. Ihr mischt Euch in Dinge ein, die Euch nicht angehen. So wie es damals auch schon in Bangladesch war, als Mathis und seine Leute Gräben ausheben wollten, um das Lager einzudeichen.
Bromberger: Da ist die Regierung auf die Botschaft zugegangen und wollte, das wir abhauen. Weil wir uns eingemischt haben in die Souveränität des Staates.
Gebauer: Na, aber die, die uns bei den Landminen sagten, wir sollten uns nicht einmischen, haben uns später Preise in die Hand gedrückt (lacht)
Friedensnobelpreis 1997 für die Landminenkampagne
Journal Frankfurt: Ein Bohren von dicken Brettern - dem Friedensnobelpreis zum Trotz hat sich doch recht wenig getan, wenn man etwa an die immer wieder versprochenen Verbote von Kleinwaffen oder das recht wirkungslose Landminenabkommen denkt.
Gebauer: Nun das Ottawa-Abkommen ist schon modellhaft. Die Debatte ist im Völkerrecht weitergegangen. Dort wird heute viel stärker über das Problem der Verantwortung und der Haftung diskutiert als dies früher der Fall war. Auch wenn es irre langsam dauert, es zeitigen sich kleine Bewegungen. Man würde sich natürlich wünschen, es ginge viel schneller.
Journal Frankfurt: Keine Resignation zu spüren?
Gebauer: Ich persönlich ziehe viel aus der Kritik. Wenn ich das, was an Langsamkeit, an Widerständen existiert, angreife, bleibt das, was ich möchte, als Möglichkeit erhalten. Wenn ich mich arrangieren würde und versuchte, etwas abzufedern, würde ich schnell zynisch werden. In dem die Kritik lebt, lebt auch die Hoffnung, das auch etwas anders werden kann. In der Wut über die Zustände, die in der Welt herrschen, steckt ja auch das Gegenteil.
Journal Frankfurt: Ungewöhnlich, dass Sie das sagen. Gerade als Mensch, der tagtäglich damit befasst ist, müssten Sie doch schon längst zum Zyniker oder Depressiven geworden sein. Aber daraus Hoffnung zu schöpfen, ist doch paradox.
Gebauer: Was wir tun, ist eingebunden in eine große transnationale Gegenöffentlichkeit von Menschen aus aller Welt, die sich kennen und schätzen und austauschen - etwa des Peoples Health Movement. In dem ganzen Elend sieht man auch immer Möglichkeiten tatsächlicher Veränderung.
Journal Frankfurt: Also haben die 68er doch etwas erreicht.
Gebauer: Dass die 68er nichts erreicht hätten, wird derzeit ja nur von Leuten behauptet, die meinen diese Zeit geschichtlich entsorgen zu müssen. Aber am Beispiel der internationalen Solidarität kann man gut sehen, dass sich seither einiges weiterentwickelt hat. Es gab damals zwar globalisierte Konflikte, aber es gab nicht die Form der globalisierten Welt, wie wir sie heute vorfinden. Die technischen Möglichkeiten auch der Hilfsorganisationen haben sich gewandelt. Die Vernetzung, die globale alternative Öffentlichkeit hat sich schon deutlich verstärkt.
Journal Frankfurt: Was für Aufgaben sehen Sie für die Zukunft?
Gebauer: Die große Klammer unserer Arbeit ist das Streiten für das Recht auf bestmöglicher Gesundheit. Wir sehen, dass das Recht auf Gesundheit nach dem UN-Abkommen an Nationalstaaten gekoppelt ist. Wir sehen aber auch, dass die Nationalstaaten zunehmend in ihren Möglichkeiten beschränkt sind und stellen fest, das die sozialen Rechte in einem anderen globalen Kontext verwirklicht werden müssen. Da haben wir so verwegene Ideen wie eine Weltgesundheitskassen. Dass was etwa im nationalen Rahmen mit dem Länderfinanzausgleich existiert und auch in der Europäischen Union existiert, das nämlich die reicheren Regionen für die ärmeren zahlen, das könnte auch im globalen Kontext funktionieren. Es wäre das Prinzip der Solidargemeinschaft, der solidarischen Krankenversicherung zu internationalisieren. Das wird durchaus ernsthaft diskutiert, zumal es finanzierbar wäre: wir sprechen hier von Beträgen von 30 Dollar pro Kopf und Jahr. Damit wäre diesem Recht auf Gesundheit wirklich entsprochen.
Bromberger: Und das ist wirklich machbar. Ein weiteres ist die Patentkampagne ...
Gebauer: ... also der Zugang zu Arzneimitteln. Das sind Projekte, an denen wir arbeiten, wo wir merken, das wir auch nicht allein sind, weil es Entsprechungen in der Politik und internationalen Organisationen gibt wie der ILO, nur die Zeit noch nicht so ganz reif ist.
Journal Frankfurt: Vielleicht haben Sie recht: erstmal werden Sie für solche Vorschläge ausgelacht und am Ende gibt es einen Preis.
Bromberger: Bei der Weltgesundheitskasse lachen tatsächlich erstmal alle. Es hört sich ja auch absurd an, aber es ist machbar. Es braucht aber seine Zeit.
[credit2 Harald Schröder] Thomas Gebauer und Mathis Bromberger im Februar 2007 vor dem alten Telex-Gerät in Gebauers Büro
Gebauer: Wobei wir als wir die Minenkampagne entworfen haben, an keinen Preis gedacht haben. Eher daran, ob man so etwas überhaupt wagen kann. Aber damals wie heute bedarf es Öffentlichkeit. Eine Hilfsorganisation ist immer nur so stark wie die soziale Bewegung die sie trägt. Dazu sollte man auch noch sagen: wir haben in den vergangenen Jahren das Problem gehabt, das sich die Politik zurückgezogen hat, weil sie dachte: richtig bewirken können wir ja gar nichts. Das ist das, was Pierre Bourdieu mit der Politik der Entpolitisierung gemeint hat. Wir stellen aber jetzt fest, dass es insgesamt wieder politischer wird und dass das Denken in Kategorien von öffentlichen Gütern und sozialen Rechten wieder zurückkommt.
Journal Frankfurt: Warum?
Gebauer: Weil man gesehen hat, dass das andere nicht funktioniert. Der Neoliberalismus hat seine Versprechungen ja nicht erfüllt. Es sind keine Arbeitsplätze geschaffen, der Wohlstand ist nur für ganz wenige gesteigert worden, die Gewalt hat zugenommen. Das sind Kontexte, die global stattfinden. Die Menschen sehen ja, was anders werden muss und bleiben wir ruhig beim Beispiel von Gonoshasthaya Kendra: sie packen es auch an, die sind initiativ. Die global formulierten Ziele können dort erfüllt werden. Da sieht man, dass es geht. Dass das, was unter dem Stichwort "Eine andere Welt ist möglich" zusammengefasst wird, nicht in eine ferne Zukunft verlegt werden muss, sondern schon heute praktisch auflebt.
Beachten Sie auch unseren ausführlichen Bericht über medico international im aktuellen Journal Frankfurt (erschienen am 19. Februar 2008).