Seit seine Arbeit auf der documenta 13 zu sehen war, ist Kader Attia ein viel beachteter Künstler. Nun widmet ihm das Museum für Moderne Kunst eine Einzelausstellung. Eine Verbindung des Ästhetischen mit dem Ethischen.
Tamara Marszalkowski /
In der sehr offenen, zentralen Halle des Museums für Moderne Kunst (MMK) ist eine Art Metallkäfig installiert. Der Besucher kann durch diesen lang gestreckten Gang laufen. Das Gefühl ist jedoch beklemmend. Die Decke des Käfigs ist niedrig und auf dem Metallgitter liegt Müll jeglicher Art: Eine alte Schreibmaschine, eine Plastiktüte, Obstkisten. Die großflächige Installation ist eine Arbeit von Kader Attia. Er wird nun bis August im MMK zu sehen sein.
Die Arbeit trägt den Namen "Los de arriba y los de abajo" und bedeutet so viel wie "Die von Oben und die von Unten". Die Arbeit spiegelt die Situation in der Altstadt von Hebron im Westjordanland wider. Dort schützen sich die Palästinenser mit solchen Gittern vor dem Müll, den die oberhalb lebenden jüdischen Siedler auf die Straße werfen - die horizontale Spaltung einer Gesellschaft.
Der französische Künstler behandelt in seinen Arbeiten das Thema der Reparatur. Dabei unterscheidet er die Reparatur in zwei Ansätze: In der westlichen Welt folgt die Reparatur dem Ideal der Perfektion, sie muss unsichtbar sein, das Objekt makellos. Sonst wird ein kaputter Gegenstand einfach entsorgt und durch einen neuen ersetzt. Dadurch ist an dem Gegenstand nie eine Geschichte ablesbar. Im Gegensatz zu den Artefakten ethnologischer Sammlungen. Sie zeigen eine ganz offensichtliche Reparatur. Nähte, Klammern und sonstige Hilfsmittel sind sichtbar, eine Geschichte des Gegenstands lesbar.
Seine Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich einer kulturellen Zuordnung entziehen. Bei Attia verschieben sich unterschiedliche kulturelle Konzepte und zeigen gleichzeitig ihre Differenzen auf. Zum Beispiel ist in einem Raum eine Sammlung von Interviews mit Philosophen, Ethnologen, Musikwissenschaftlern, Psychiatern und Heilern zu sehen. Sie sprechen über Themen wie "Völkermord", "Totem und Fetisch", "Vernunft und Politik" oder "Trance". Dabei zeigen sie die Unterschiede auf zwischen der Auffassung einer traditionell nicht-westlichen Kultur und einer modernen westlichen Gesellschaft.
Ein weiteres zentrales Werk in der Ausstellung ist die Rauminstallation "J'Accuse". Dort sieht man ein Dutzend monumentale Holzbüsten, die ihre Köpfe auf eine Leinwand richten. Die Büsten hat der Künstler mit lokalen Bildschnitzern im Senegal hergestellt. Ihre Gesichter sind entstellt. Dem einen fehlt der Unterkiefer, der andere hat riesige Narben, die sich quer durch sein Gesicht ziehen. Manche erinnern an Gesichter des deutschen Expressionismus oder gar Picasso. Die Gesichter hat der Künstler nach Fotografien verletzter Soldaten aus dem ersten Weltkrieg geschaffen. Die Köpfe schauen sich einen Film aus dem Jahr 1938 an.
In dem Film "J'Accuse" von Abdel Gance geht es um einen prophetischen Mann, der den 2. Weltkrieg vorhersieht. Doch niemand will ihm Glauben schenken. Zur Unterstützung lässt er die Gefallenen aus dem ersten Weltkrieg von ihren Gräbern wiederauferstehen. Für den Aufstand der Untoten konnte Gance tatsächlich entstellte Männer aus dem 1. Weltkrieg gewinnen. Immer wieder ist die Szene zu sehen, in der der prophetische Mann die Toten aus ihren Gräbern wiederauferstehen lässt und sie in einem Zug durch die Stadt gehen und die noch Lebenden warnen.
>>> "Kader Attia. Sacrifice and Harmony", 16. April bis 14. August 2016, MMK Museum für Moderne Kunst, Domstraße 10.