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Wider das Vergessen
Ein besonderer Spaziergang über den Hauptfriedhof
Widerstandskämpfer, Drogenentwickler, Opfer und Aufklärer - eine spannende Führung durch den Frankfurter Hauptfriedhof lässt ein Stück deutscher Historie anhand von Gräbern und ihren Geschichten lebendig werden.
Der Hauptfriedhof ist, wenn man genauer hinsieht, ein ganz spannender Ort. Das liegt nicht nur an den teilweise recht ausgefallen gestalteten Gräbern und Mausoleen, oder an den großen Namen, die dort beerdigt sind, ganz viele interessante Geschichten gibt es auch über jene Gräber zu erzählen, die eben nicht sofort ins Auge fallen. Bei einer außergewöhnlichen Führung mit Christian Setzepfandt, Ardi Goldman und Andreas Dickerboom vom Verein „Gegen Vergessen“ lag der Fokus auf der NS-Zeit, auf den Menschen, die sich gegen die Nazis auflehnten oder dem Regime aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit, ihrer sexuellen Neigung oder ihrer Krankheit zum Opfer fielen und auf denen, die die Gräueltaten aufklärten und versuchten, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Für Ardi Goldman wurde der Rundgang am Freitag unerwartet zu einer ganz persönlichen Erfahrung.
Das Ehrengrab der Schriftstellerin Ricarda Huch sieht gar nicht so spektakulär aus. Anschaulich berichtet Christian Setzepfandt über ihr Publikationsverbot und wie Huch sich im Widerstand engagierte. Doch ein Werk zu verfassen, über all jene, die sich den Nazis widersetzten, sei ihr nicht mehr vergönnt gewesen. Auch dass sie in Frankfurt beerdigt worden ist, sei keineswegs beabsichtigt gewesen. Sie sei während des schlimmsten Winters seit der Wetteraufzeichnung gestorben, man habe auch vom „Weißen Tod“ gesprochen, daher habe man sie umständehalber eben in Frankfurt beerdigt.
Weiter geht der Rundgang, unter anderem zum Grab von Hans Rose, einem in Frankfurt geborenen Kunsthistoriker. Setzepfandt berichtet, dass die Nazis den Paragraphen 175 verschärft hätten, so dass nun nicht mehr nur die tätliche „Unzucht zwischen Männern“ strafbar war, sondern auch das homosexuell sein an sich. Rose sei denunziert worden und in Haft gekommen, wo er Briefe von Ricarda Huch bekam. Doch vorbei war es mit seiner Professur an der Universität in Jena. Nach der Haft floh er nach Berlin, um später erschossen zu werden, weil er seine Haushälterin vor einer Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten retten wollte. „Zwischen 1933 und 1945 sind 30.000 Männer und 200 Frauen wegen ihrer anderen Sexualität ermordet worden, 6000 Menschen wurden verstümmelt und kastriert“, nennt Setzepfandt die erschreckenden Zahlen. Auch erfährt man, dass seiner Zeit ein Institut für Rassenhygiene zur Frankfurter Universität gehörte, das dort stand, wo heute das Allianzgebäude ist. Otmar von Verschuer habe dort gelehrt und Josef Mengele sei dort Doktorand gewesen. Ein anderer Wissenschaftler, der Thema der Führung ist, ist der Chemiker Martin Freund. Mit anderen habe Freund einen opiumähnlichen Stoff entwickelt, der später auch in der sogenannten Panzerschokolade enthalten war, die während des Dritten Reiches an die Soldaten verteilt wurde, „damit sie länger durchhalten und angstfrei werden“, so Setzepfandt.
Der Stadtführer berichtet über den Juristen Winfried Hassemer, der sich in den 50er-Jahren so enttäuscht darüber zeigte, dass die Gesellschaft die Freiheiten und Veränderungen nicht nutzte, um eine andere, offenere Geisteshaltung zu entwickeln. Auch das KZ Katzbach in den Adlerwerken macht Setzepfandt bei dem Rundgang zum Thema, wo die Todesrate vergleichsweise am Höchsten war, was an den Bedingungen gelegen haben soll. In seiner größten Belegungsrate vegetierten 2000 Menschen dort, wovon Zweidrittel nicht überlebten. Ein Gemeinschaftsgrab mit einem Fries, in den die Namen der polnischen Ermordeten eingemeißelt worden, zeugt von diesem düsteren Kapitel. Auch das Grab des 2002 verstorbenen Pfarrers Dieter Trautwein befindet sich am Hauptfriedhof. Gemeinsam mit den Eltern Michel Friedmans soll er sich um den Industriellen Oskar Schindler gekümmert haben, der nach dem Krieg finanziell nicht mehr auf die Beine kam und in einem kleinen Zimmer am Frankfurter Hauptbahnhof unterkam.
„Das ist aber nicht Theodor Adorno“, platzt es aus Ardi Goldman heraus, als Setzepfandt ein Bild am Grab des Philosophen hochhält, das Fritz Bauer zeigt. Ganz richtig, denn der Stadtführer möchte nur Parallelen aufzeigen zwischen den Biografien, beide berühmten Männer wurden 1903 geboren. Man erfährt von den Auschwitzprozessen, von Bauers mysteriösen Todesumständen und steht bei der Führung plötzlich vor einem 1958 eingerichteten NS-Opferfeld, das als solches kaum erkennbar ist. Ein Pilz hat die liegenden roten Sandsteinplatten überzogen, die Inschriften, die ohnehin nicht korrekt sind, sind kaum mehr zu lesen. Kulturwissenschaftler Christoph Schneider hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehr über die dort liegenden Toten, die in Hadamar ums Leben kamen, zu erfahren, deren Todesdaten mit großer Sicherheit von den Nazis gefälscht, beziehungsweise um sechs bis 21 Wochen nach hinten datiert wurden, weil so – so erläutert Schneider – unrechtmäßig Pflegegelder eingestrichen wurden von Menschen, die man längst beseitigt hatte. Bei 10.000 Opfern habe sich das gelohnt.
Dass bei dem Rundgang auch ein Halt am Grab von Henry Ormond alias Hans Ludwig Jacobsohn eingeplant ist, trifft den Immobilieninvestor Ardi Goldman wie ein Blitz. Keine Ahnung habe er von dem Grab des Juristen gehabt, der bei den Auschwitzprozessen als Nebenkläger aufgetreten war. „Als mein Vater starb, war Ormond mein Vormund. Damals war ich fünf oder sechs. Er ist vom deutschen Staat eingesetzt worden und hatte im Westend seine Kanzlei gehabt, ich durfte immer auf seinem klassischen Stuhl sitzen“, entfährt es Goldman gerührt. Ormond war ein Aufklärer und ein solcher war auch Joachim Kügler, der auf Initiative von Fritz Bauer gegen die Nazi-Mörder vorging. Sein Wunsch sei es immer gewesen, in Frankfurt beerdigt zu werden. Goldman hatte die Umbettung und Überführung organisiert und die Kosten übernommen, eine Aufgabe, die er eigentlich als moralische Pflicht der Stadt Frankfurt angesehen hätte. Die Stadt habe aber nur abgewunken, „Er war doch nur ein Staatsanwalt“, habe man Goldman auf seine Anfrage hin geantwortet. Für Goldman sei es eine Herzensangelegenheit gewesen, Kuglers letzten Wunsch zu erfüllen. Auf seinem Grabstein steht: „Sie haben es nicht gewusst, wollen sie sagen“, der Satz, den der Strafverfolger den Angeklagten entgegnete. „Langsam sterben die Zeitzeugen aus“, bedauert Goldman und auch, dass man so schlecht nachfragen könne, wie denn die Menschen früher die Gefangenenzeit überlebten. Sein Vater habe das Warschauer Ghetto überlebt. „Wie kann man an so einem Ort überleben, so eine Widerstandskraft und einen Überlebenswillen entwickeln, das wäre heute doch undenkbar?“, fragt sich Goldman. „Aber darüber reden die Zeitzeugen nicht.“
Das Ehrengrab der Schriftstellerin Ricarda Huch sieht gar nicht so spektakulär aus. Anschaulich berichtet Christian Setzepfandt über ihr Publikationsverbot und wie Huch sich im Widerstand engagierte. Doch ein Werk zu verfassen, über all jene, die sich den Nazis widersetzten, sei ihr nicht mehr vergönnt gewesen. Auch dass sie in Frankfurt beerdigt worden ist, sei keineswegs beabsichtigt gewesen. Sie sei während des schlimmsten Winters seit der Wetteraufzeichnung gestorben, man habe auch vom „Weißen Tod“ gesprochen, daher habe man sie umständehalber eben in Frankfurt beerdigt.
Weiter geht der Rundgang, unter anderem zum Grab von Hans Rose, einem in Frankfurt geborenen Kunsthistoriker. Setzepfandt berichtet, dass die Nazis den Paragraphen 175 verschärft hätten, so dass nun nicht mehr nur die tätliche „Unzucht zwischen Männern“ strafbar war, sondern auch das homosexuell sein an sich. Rose sei denunziert worden und in Haft gekommen, wo er Briefe von Ricarda Huch bekam. Doch vorbei war es mit seiner Professur an der Universität in Jena. Nach der Haft floh er nach Berlin, um später erschossen zu werden, weil er seine Haushälterin vor einer Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten retten wollte. „Zwischen 1933 und 1945 sind 30.000 Männer und 200 Frauen wegen ihrer anderen Sexualität ermordet worden, 6000 Menschen wurden verstümmelt und kastriert“, nennt Setzepfandt die erschreckenden Zahlen. Auch erfährt man, dass seiner Zeit ein Institut für Rassenhygiene zur Frankfurter Universität gehörte, das dort stand, wo heute das Allianzgebäude ist. Otmar von Verschuer habe dort gelehrt und Josef Mengele sei dort Doktorand gewesen. Ein anderer Wissenschaftler, der Thema der Führung ist, ist der Chemiker Martin Freund. Mit anderen habe Freund einen opiumähnlichen Stoff entwickelt, der später auch in der sogenannten Panzerschokolade enthalten war, die während des Dritten Reiches an die Soldaten verteilt wurde, „damit sie länger durchhalten und angstfrei werden“, so Setzepfandt.
Der Stadtführer berichtet über den Juristen Winfried Hassemer, der sich in den 50er-Jahren so enttäuscht darüber zeigte, dass die Gesellschaft die Freiheiten und Veränderungen nicht nutzte, um eine andere, offenere Geisteshaltung zu entwickeln. Auch das KZ Katzbach in den Adlerwerken macht Setzepfandt bei dem Rundgang zum Thema, wo die Todesrate vergleichsweise am Höchsten war, was an den Bedingungen gelegen haben soll. In seiner größten Belegungsrate vegetierten 2000 Menschen dort, wovon Zweidrittel nicht überlebten. Ein Gemeinschaftsgrab mit einem Fries, in den die Namen der polnischen Ermordeten eingemeißelt worden, zeugt von diesem düsteren Kapitel. Auch das Grab des 2002 verstorbenen Pfarrers Dieter Trautwein befindet sich am Hauptfriedhof. Gemeinsam mit den Eltern Michel Friedmans soll er sich um den Industriellen Oskar Schindler gekümmert haben, der nach dem Krieg finanziell nicht mehr auf die Beine kam und in einem kleinen Zimmer am Frankfurter Hauptbahnhof unterkam.
„Das ist aber nicht Theodor Adorno“, platzt es aus Ardi Goldman heraus, als Setzepfandt ein Bild am Grab des Philosophen hochhält, das Fritz Bauer zeigt. Ganz richtig, denn der Stadtführer möchte nur Parallelen aufzeigen zwischen den Biografien, beide berühmten Männer wurden 1903 geboren. Man erfährt von den Auschwitzprozessen, von Bauers mysteriösen Todesumständen und steht bei der Führung plötzlich vor einem 1958 eingerichteten NS-Opferfeld, das als solches kaum erkennbar ist. Ein Pilz hat die liegenden roten Sandsteinplatten überzogen, die Inschriften, die ohnehin nicht korrekt sind, sind kaum mehr zu lesen. Kulturwissenschaftler Christoph Schneider hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehr über die dort liegenden Toten, die in Hadamar ums Leben kamen, zu erfahren, deren Todesdaten mit großer Sicherheit von den Nazis gefälscht, beziehungsweise um sechs bis 21 Wochen nach hinten datiert wurden, weil so – so erläutert Schneider – unrechtmäßig Pflegegelder eingestrichen wurden von Menschen, die man längst beseitigt hatte. Bei 10.000 Opfern habe sich das gelohnt.
Dass bei dem Rundgang auch ein Halt am Grab von Henry Ormond alias Hans Ludwig Jacobsohn eingeplant ist, trifft den Immobilieninvestor Ardi Goldman wie ein Blitz. Keine Ahnung habe er von dem Grab des Juristen gehabt, der bei den Auschwitzprozessen als Nebenkläger aufgetreten war. „Als mein Vater starb, war Ormond mein Vormund. Damals war ich fünf oder sechs. Er ist vom deutschen Staat eingesetzt worden und hatte im Westend seine Kanzlei gehabt, ich durfte immer auf seinem klassischen Stuhl sitzen“, entfährt es Goldman gerührt. Ormond war ein Aufklärer und ein solcher war auch Joachim Kügler, der auf Initiative von Fritz Bauer gegen die Nazi-Mörder vorging. Sein Wunsch sei es immer gewesen, in Frankfurt beerdigt zu werden. Goldman hatte die Umbettung und Überführung organisiert und die Kosten übernommen, eine Aufgabe, die er eigentlich als moralische Pflicht der Stadt Frankfurt angesehen hätte. Die Stadt habe aber nur abgewunken, „Er war doch nur ein Staatsanwalt“, habe man Goldman auf seine Anfrage hin geantwortet. Für Goldman sei es eine Herzensangelegenheit gewesen, Kuglers letzten Wunsch zu erfüllen. Auf seinem Grabstein steht: „Sie haben es nicht gewusst, wollen sie sagen“, der Satz, den der Strafverfolger den Angeklagten entgegnete. „Langsam sterben die Zeitzeugen aus“, bedauert Goldman und auch, dass man so schlecht nachfragen könne, wie denn die Menschen früher die Gefangenenzeit überlebten. Sein Vater habe das Warschauer Ghetto überlebt. „Wie kann man an so einem Ort überleben, so eine Widerstandskraft und einen Überlebenswillen entwickeln, das wäre heute doch undenkbar?“, fragt sich Goldman. „Aber darüber reden die Zeitzeugen nicht.“
3. Oktober 2016, 10.00 Uhr
Nicole Brevoord
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Zu Heiligabend findet in Frankfurt wie in jedem Jahr das traditionelle Stadtgeläute statt. An diesen Orten der Innenstadt wird das Konzert der Kirchenglocken am besten zu hören sein.
Text: Lukas Mezler / Foto: Gloriosa, die größte Glocke Frankfurts © Harald Schröder
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