Tagebuch und Hakenkreuz – Anne Frank-Lesung in der Union Halle

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red /

Hakenkreuzfahne, ein Metallschrank, ein Radio, ein Stuhl und ein Bett – das ist alles, was man auf der Szene sieht. Dann tritt ein junges Mädchen mit langem schwarzem Haar, weißem Hemd und olivgrünem Röckchen auf, in der Hand ein farbiges gebundenes Buch, zu dem sie spricht und dem sie ihre Gedanken, Sehnsüchte und Hoffnungen offenbart.



Das Mädchen ist niemand anders als Anne Frank, und das Büchlein in ihrer Hand ihr weltberühmt gewordenes Tagebuch, dem sie liebevoll den Namen „Kitty“ gab. Die szenische Lesung „Anne Frank: Das Tagebuch“ in der Union Halle konzentriert sich ganz auf Anne Frank, ihre Eltern, ihre Schwester und die anderen Menschen, die über zwei Jahre lang in einem Amsterdamer Verstreck auf engstem Raum miteinander leben mussten, sieht man dagegen nur aus Sicht der Tagebuchführenden.



Gespielt wird Anne Frank in dieser szenischen Lesung von der in Darmstadt geborenen Asli Bayram, türkischstämmige Schauspielerin und ehemalige Miss Germany. Sie stellt Ausschnitte aus Tagebucheintragungen szenisch dar, die vom Jahre 1942, dem ersten im Amsterdamer Versteck, bis zu der letzten Eintragung vom 1. August 1944, vor der Verhaftung durch die Gestapo, reichen. Auf einer Leinwand werden die jeweiligen Daten in Sütterlinschrift eingeblendet. Mal stehend, mal sitzend, ohne große Gestik und mit sparsamer Mimik spricht Bayram die Texte. Man hört und spürt, dass Anne Frank jede ihrer Stimmungen in ihrem Tagebuch plastisch zu schildern wusste, auch im Verlauf der Lesung heißt es: „Durch Worte kann ich alles ausdrücken, ich lebe in der Sprache“.



Umso störender wirkt die Tatsache, dass Asli Bayram die Tagebucheintragungen relativ unpointiert und unreflektiert vorträgt. Es klingt hektisch, exaltiert, wenn sich Anne Frank über die Ermahnungen ihrer Mutter oder die zahlreichen anderen Ärgernisse ihres Lebens auslässt, eigentlich zu schnell und aufgetragen runtergesprochen, um authentisch zu wirken. Auch wenn sie über die schreckliche Ungerechtigkeit der Welt und die Verfolgung Unschuldiger klagt, dann tut sie es fast in der gleichen Stimmlage, zu laut und erneut viel zu geradeheraus, ohne richtige Pausen, ohne Tonwechsel. Nach knapp einer Stunde ist ein Parforceritt durch jugendliche Verliebtheiten, unerfüllte Freiheitswünsche und blauäugig-sympathischen Optimismus zurückgelegt, an dessen Ende man sich dennoch nicht wirklich vorstellen kann, wie Anne Frank wirklich gewesen sein könnte.



Eindringlichkeit verleiht der einstündigen Lesung aber ihre intime Atmosphäre, die durch Beleuchtung und schmale Szene erzeugt wird. Störend wiederum wirkt die Musik des jüdischen Komponisten Erich Korngold, die zwischen einzelnen Tagebucheintragungen eingespielt wird und in unpassend hoher Lautstärke, überdramatisch und unvermittelt in Anne Franks Sätze platzt, als dass sie sich in den stillen Rahmen der Lesung einfügen könnte. Viel interessanter hätte es sein können, wenn das auf der Szene stehende Radio zum Einsatz gekommen und leise aufgedreht worden wäre, wie es in dem Versteck wirklich nötig war, um nicht von Außen gehört zu werden. Überhaupt ist es schade, dass die wenigen Requisiten das ganze Stück über nur Requisiten bleiben und sie, wie eben das Radio, in keiner Form in die szenische Lesung mit einbezogen werden.



Lobenswert ist, daran zu erinnern, was blinder Hass und wütende Verfolgung des Fremden an nicht wieder gut zu machenden Katastrophen bewirken können. Die szenische Lesung hat gegenüber den Musicals und Opern, zu denen Anne Franks Schicksal schon inszeniert worden ist, den Vorteil, dass sie dem echten Tagebuch treu bleibt, das mit seiner Natürlichkeit und eindringlichen Sprache eigentlich keiner Aufbauschung bedarf. Die szenische Lesung „Anne Frank: Das Tagebuch“ lässt den Zuschauer „Kittys“ Seiten in Gedanken durchblättern und kann vielleicht dazu beitragen, in manch einem, der sich noch nicht mit Anne Frank beschäftigt hat, Interesse für ihr Schicksal zu wecken.




Gary Vanisian


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