Mit dem Rollstuhl durchs Großstadtgewirr, unsere Autorin hat das ausprobiert. Eine Probefahrt in Sachen Barrierefreiheit. Gott sei Dank mit fachkundiger Begleitung.
Laura J Gerlach /
Ich habe zwei gesunde, glückliche Beine, die ich zwar manchmal verfluche (meine Knie erscheinen mir von Zeit zu Zeit viel zu dick, die Muskeln in den Oberschenkeln zu wenig definiert), aber de facto liebe und schätze ich die beiden sehr und springe gerne damit herum. Insofern ist auch das Einzige, was in meinem Leben Rollen hat, neben einem alten Fahrrad, ein Polyerythan-Rollkoffer in extra large. Doch auch der ist augenöffnend: Er rollt vorzugsweise ebenerdig, auf glattem Terrain, Treppen: aussichtslos. Und da wären wir genau beim Punkt: Es gibt weit weniger Aufzüge, als Frankfurt guttun. Während mein Problem mit dem Koffer auch mit meiner Faulheit zu tun hat, sind entsprechende Umstände für einen Rollstuhlfahrer ein, nun ja, echtes Hindernis. Sich selbst im Rolli die Treppe runterschleifen? Oder rauf? Der Gedanke erübrigt sich.
Man könnte sagen: Tja, Pech, so ist es halt, bedauernswert, so ein Leben im Rollstuhl, aber was will man machen? Man könnt eben aber auch sagen: Sind wir nun eine hoch zivilisierte Gesellschaft, die technisch wie organisatorisch in der Lage ist, den Weltraum zu bereisen. Ein paar Aufzüge mehr oder weniger, daran kann es ja wohl nicht scheitern! Martin sitzt im Rollstuhl, bis zum Zeitpunkt eines Motorradunfalls war er ein viel gebuchter Fotograf. Ich schlage ihm vor, die Rollstuhltauglichkeit der Stadt zu überprüfen, mein Guide zu sein bei einer „Probefahrt in Sachen Barrierefreiheit“. Er ist einverstanden. Und amüsiert sich schon im Voraus über meine Zuversicht, die Stadt zu erobern wie ein Fußgänger.
Das lerne ich schon mal als Erstes, nämlich die Sprachregelung unter Rollstuhlfahrern und Nicht-Rollstuhlfahrern: Das Gegenteil von „Fußgänger“ ist nicht, wie ich bisher dachte „Autofahrer“. Es ist eben „Rollstuhlfahrer“. Meint und sagt Martin. Für einen Nachmittag werde ich mich so bewegen wie er sein halbes Leben. Ein bisschen üben vorab, rät mir Martin. Nicht doch, das kann ja nicht so schwierig sein. Unsere Route startet im Nordend und mit einer Tasse Tee im Café an der Ecke. Dann wollte ich mit der U-Bahn zum Schweizer Platz rübermachen, von dort zum Main fahrend meine Armkraft im Selbstanschieben trainieren. Und natürlich die ganze Zeit über Barrierefreiheit sprechen.
Wir treffen uns zum Start der Stadttour auf je zwei Rädern (plus je zwei kleinen Vorderrollen). Die Verhältnisse sind nun umgedreht: Ich bin ziemlich behindert und ungelenk mit meinem ausgeliehenen Gefährt, während mein fahrender Anführer behände und wendig vorausfährt, gelegentlich weit voraus, hie und da an Bordsteinkanten auf mich wartet, wo er mit besorgter Miene meine Aktionen im Erlernen der Ankipptechnik zur Hindernisüberwindung begleitet. Gut, dass der Rollstuhl einen Kippschutz hat.
Wir rollen also den Bürgersteig entlang, umschiffen großzügig Mülltonnen, parkende Autos, vertrocknete Weihnachtsbäume. Martin schlägt einen kleinen Schlenker in den Supermarkt vor. Einkaufen, sagt er, das wäre so eine Sache …
Die Regale: sehr schwierig, da locker hinzugreifen. Die oberen Fächer: unerreichbar. Man kann sich denken, dass es nicht funktioniert. Bei der Schokolade, die ganz oben steht, hätte ich zwar keinen Bedarf, aber dass der Sojajoghurt im Kühlregal nicht griffbereit steht: erste Diskriminierungserfahrung. Ohne Begleitung wird es da schwierig. Doch Martin hat positive Erfahrungen gemacht: Das Personal sei meistens sehr nett und hilfsbereit.
Wir gehen, nein: rollen ins Café – die Eingangstür breit genug, um mit dem Rollstuhl einzufahren. Ich übe mich selbst im Türöffnen, keine einfache Angelegenheit, jemand hilft mir sofort. „Einmal Ingwertee, bitte, und einen Kaffee mit Sojamilch.“ Martin erzählt mir von seinem veränderten Leben als rollstuhlfahrender Bewohner und Benutzer unserer Stadt. Er berichtet von Erleichterungen und Vorteilen, die in der Stadt ermöglicht werden, etwa einem jährlichen Kontingent an freien Taxifahrten, was die Fortbewegung natürlich enorm erleichtert. Von kostenfreien Eintrittskarten in Kulturveranstaltungen für Rollstuhlfahrer und deren Begleitung; er erzählt aber auch von der Problematik, unterwegs ein barrierefreies stilles Örtchen zu finden. Und von der Schwierigkeit, mit der U-Bahn zu fahren, weil der Zugang zum Bahnsteig nicht überall erreichbar ist.
Zum Beispiel auch nicht am Schweizer Platz, Pech, wenn man es nicht vorher weiß, dann muss man wieder zurückfahren. Ich weiß es ja jetzt von ihm, so beschließen wir, vom Merianplatz nur bis zum Römer zu fahren, um an den Main zu gelangen. Bevor wir das Café verlassen, springe ich noch mal schnell aus dem Rollstuhl, die übrigen Gäste drehen sich um und setzen leicht empörte Blicke auf: Aha, die tut wohl nur so. Aber Test hin oder her: Ich muss mal, und dazu die Kellertreppe runter. Zur U-Bahn-Station nehmen wir den Lift, erst Martin, dann ich – nur ein Rollstuhl auf einmal passt in die Kabine. Martin fragt per SMS, wo ich bleibe. Habe mich verfahren, bin im Stockwerk zu früh ausgestiegen, falsche Richtung, falsches Gleis. Noch mal in den Aufzug. Noch einen Stock weiter runter. Ticketautomaten gibt es hier weit und breit keinen, er ist irgendwo, der Weg mit dem Aufzug führt jedenfalls nicht daran vorbei. Es macht aber auch nichts, denn mit einem Behindertenausweis ist U-Bahn-Fahren in Frankfurt gratis. Gute Sache, das. Zurückrollen, die Bahn kommt! Und nach einer Tür mit gelber Markierung Ausschau halten, nur da ist das Zusteigen barrierefrei möglich.
Am Ziel. Aufzug rauf, Römerberg runter. Vorsicht, Schlaglöcher und Stolpersteine – Kopfsteinpflaster rütteln einen ganz schön durch. Statt Anschubkraft braucht es jetzt Bremskraft in den Oberarmmuckis. Die sind völlig schlapp, die Grünphase zum Überqueren der Straße schaffe ich als Anfänger und so ermüdet kaum. Ich will mit Martin über den Eisernen Steg rollen, um im Rolli sitzend die (Stadt-)Lage zu überblicken. Fast scheitere ich auf den letzten Metern, das unebene Pflaster ist schier unüberwindbar, da bleibe ich auch noch in der Rille der Straßenbahnschienen stecken. Körpergefühl und Gleichgewichtssinn braucht ein Rollstuhlfahrer, der einigermaßen zügig vorwärtskommen will, eben schon.
Der Eiserne Steg, auch per Aufzug zu besteigen – der funktioniert ebenfalls –, ist der Abschluss unserer kleine Reise. Ja, man kommt durch Frankfurt mit dem Rollstuhl, aber das Bewusstsein der Stadtarchitekten für die Barrierefreiheit muss sich erst noch entwickeln. Es ist kompliziert. Und dauert. Ich bin müde. Meine Begleiterin muss mich schieben. Martin ist noch fit. Der Mann macht ja auch Rollstuhl-Curling. Sich schieben lassen? Kommt nicht in Frage. Das wäre ja unsportlich!
Fotos: Martin Schllitt, Laura J Gerlach; Mitarbeit: Corinna Hunger