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Fechenheim

Tief im Osten

Wo Hühner unter Palmen scharren, Kunst den Friedhof belebt, aus einem Bunker neues Wohnen wächst und Industriekultur zum Schauplatz für Oldtimer wird – Fechenheim offenbart unter seinem Shabby Look einen charmanten Kern.
Es geht laut los. An einer der längsten Straßen Frankfurts, ganz im Osten, wo der Main um die Stadt einen Bogen macht, donnert der Verkehr über die Mainkur. Ein merkwürdiges Sammelsurium an Kleingewerbe flankiert die Einfahrt von der Hanauer nach Fechenheim: Imbiss-Kiosk, Balkan-Grill und Sports-Pub. Ein bisschen schrottig wirkt das im Vorbeifahren, ist aber erstaunlich geschichtsträchtig. Wie auf einer Insel steht das Alte Zollhaus, 1768 als „Main Cur“ an der Kreuzung von Handelsstraßen erwähnt. Gegenüber ein gelber Rokkokobau mit grünen Fensterläden: „Napoleon‘s Alte Mainkur“. Der Name erinnert an einen Franzosen, der hier für eine Nacht sein Pferd angebunden, aber mitnichten Zoll gezahlt haben soll. Auf der anderen Seite, zum Main hin, trotzt die Kleinbrauerei Bier-Hannes wie ein Fels in der Brandung. 1989 wurde hier der erste Sud eingebraut. Kreideschrift fleht die Durchreisenden an: „Rettet die Brauerei, kauft Bier!“ Es scheint zu zischen: „Aushilfe gesucht“ steht jetzt auf der Tafel.

Fechenheim: Mit der 11 in Richtung Osten

Um die Kurve des Allessa-Areals herum, immer den Straßenbahnschienen nach, passiert man das „Tor nach Fechenheim“. Ein Schild hängt nett über der Straße, längs große Plakate an roten Backsteinmauern – Fotokunst mit Fabrikcharme. Die Motive wechseln. Für die neuste Ausgabe haben die Fechenheimer Fotofreunde ein Architekturporträt ihres Stadtteils erstellt, der sich auf einer Fläche von 1000 Fußballfeldern erstreckt.

Die Bauwerke reichen vom Wasserturm im Wald über die Undine, wie die „Fechemer“ das Türmchen der Ruderer an der Carl-Ulrich-Brücke nennen, über das von Martin Elsaesser im Bauhausstil entworfene Gartenbad bis hin zum futuristischen UFO Loft- und Gewerbehaus in der Carl-Benz-Straße, lange Sitz des legendären Techno-Clubs Cocoon, seit 2022 Herberge des Musikclubs Zoom. „Wir haben hier zwar kein Schloss, aber einzigartige Gebäude, die man nur in Fechenheim findet“, sagt Sabine Lauer, Vorsitzende von PolymerFM e.V. Kunst Kultur Bildung. Das „Tor“ ist eins von vielen kreativen Projekten des Vereins, der mit „PositivBotschaften“ Identität stärkt und mit viel Herzblut das Image von Frankfurts östlichstem Stadtteil aufwertet.

Fechenheim atmet Kunst an jeder Ecke


Fechenheim kann mehr als Baumärkte, Lagerhallen und Carwash. Der alte Ortskern atmet Kunst an jeder Ecke. Achtung, jetzt kommt ein Cartoon! An der Haltestelle der Tramlinie 11 am Arthur-von-Weinberg-Steg hat der Karikaturist Klaus Puth lokale Szenen auf eine Mauer gezeichnet. Auch der rote Schlot der Chemiefabrik will im Wimmelbild entdeckt werden. Vom Steg aus kann man ihn real sehen. Er bildet mit der Herz-Jesu-Kirche und den grün-grauen Hochbehältern für die Abwasserreinigung die Fechenheimer Skyline. Das Dorf und die „Chemisch“- das war lange eins.

Um das Jahr 1900 wuchs die Cassella Farbwerke Mainkur zur weltweit größten Fabrik für synthetische Farben und machte Fechenheim weit über die Grenzen hinaus bekannt. Fuchsin-Rot war der Marker. Was mit ein paar Arbeitern begann, erreichte Mitte der 1920er mit fast 4000 Beschäftigten einen Rekord. Aktuell steht das Allessa-Areal, auf dem etwa 1500 Menschen arbeiten, zum Verkauf.

Eine Stunde von Höchst bis nach Fechenheim

Direkt am Steg hält die Linie 11. Gut eine Stunde dauert die Fahrt mit der längsten Tramstrecke der Stadt von Höchst über Gallus und Bahnhofsviertel bis Fechenheim. Wer mitfährt, bekommt einen Eindruck, wie international Frankfurt ist. Wer an der Schießhüttenstraße aussteigt, landet am wohl idyllischsten Stop der Metropole. Am Leinpfad entlang spaziert man im Schatten der Bäume zur Auenlandschaft mit Flussarm und Tümpeln. Während im Fechenheimer Wald Bäume für eine Autobahntrasse geopfert wurden, hat die Stadt hier im Grüngürtel eins ihrer größten Naturschutzprojekte verwirklicht.

Seit Ende 2019 können Mensch und Tier auf Entdeckung gehen. Die Auen waren lange das begehrte Revier von Jenny. Täglich spazierte die weiße Araberstute von ihrem Stall am dörflichen Linneplatz, wo Hühner unter Palmen scharren, hinaus zu den Wiesen. Jenny war der Star von Fechenheim. Für Touristen aus Ostasien war sie mindestens so sehenswert wie Dom und Römer zusammen. Nach ihrem Tod im März 2022 schickten Fans millionenfache Posts. Ihr Trinkeimer steht noch am Erdbeerfeld. Jenny wird ewig leben.

Fechenheim – out of Frankfurt

Irgendwie, scheint es, ist man hier out of Frankfurt. Oder auf dem Sprung rüber nach Offenbach, so wie „die Kids“ aus Fechenheim-Süd, wobei die aus Nord eher gen Bergen-Enkheim loszögen, sagt Christoph Wilkens vom Selbstverwalteten Jugendzentrum in der Starkenburger Straße. Das große Manko: Bahnline und Hanauer Landstraße zerschneiden den Stadtteil. Der Chemiepark hockt dazwischen. „Die Wege sind lang und kompliziert“, erklärt Wilkens, „das erschwert die Durchlässigkeit.“ Wer in Fechenheim mit Menschen arbeitet, spricht von zwei Sozialräumen, denn die Verwaltung zieht die Grenze anders. „Eine Herausforderung“, sagt Leonore Vogt vom Quartiersmanagement im „Frankfurter Programm – aktive Nachbarschaft“. Diese kurbelt man an zwei Orten der Begegnung an, getragen von der Diakonie Frankfurtund Offenbach. Knapp die Hälfte der Bürger haben ausländische Wurzeln und viele sind jung. Bei Urban Gardening, Fahrradwerkstatt, Frauencafé und Festen sollen sie zueinander finden. Die Vernetzung klappe sehr gut, sagt Vogt. Von Musikern bis zur Moscheegemeinde – viele seien dabei. Aktuelles Aufregerthema? Die Schließung der Kita im Alten Rathaus, auch der Pflegestützpunkt der Caritas hat zugemacht. Das treffe Jung und Alt durch die Bank weg.

Mythos vom Fischerdorf


Das Alte Rathaus, vor der Eingemeindung im Neorenaissancestil erbaut, kommt mit Giebeln, Erkern und Dekor pompös daher. Dank der „Chemisch“ sprudelte die Gewerbesteuer, das machte Fechenheim für Frankfurt attraktiv. Zu den Fassadenreliefs zählt das Ortswappen mit Fisch, Netz und Main. Es hält den Mythos vom Fischerdorf wach. Vis à vis die Melanchthonkirche mit lauschigem Hof. Ihr Glockenturm sitzt separat auf einem schnöden Sockel. Die einen sagen, es sei wegen des schweren Geläuts, die anderen behaupten, der Pfarrer hätte dem überbordenden profanen Rathaus eins draufgeben wollen. Ein Hauch von Don-Camillo-und-Peppone an den Gestaden von Fechenheim.

Nicht weit davon, in der Gründenseestraße, steht noch eine Kirche – nein, ein Fake. Es ist ein Kriegsbunker, getarnt als Basilika, der knapp 700 Menschen Schutz vor Bomben bot. Heute beherbergt er neues Wohnen. Der Sachsenhäuser Rechtsanwalt Dr. Ekkehard Moeser ließ sich von der Idee treiben, den Bunker umzuwidmen. Die Stadt zeichnete die private Initiative als Denkmal des Jahres aus. Auf das Ergebnis ist Moeser stolz: „Es ist das ökologischste Haus, was es gibt. Völlig ohne Versiegelung und ohne Beton.“

Will heißen: Um Fenster zu gewinnen, wurde Beton aufwendig mit der Diamantfräse entfernt. So entstanden neun Einheiten über zwei Etagen, darunter Maisonetten, manche mit Terrasse. Im Sommer 2019 zogen die ersten Mieter ein, fast alle sind laut Eigentümer geblieben. Der Arkadenvorbau dient als Schaufenster-Kunstgalerie. Zur Eröffnung, erzählt Moeser, sei auch ein Mann gekommen, der als Kind im Bunker überlebt hatte.





In Fechenheim steckt „großes Stadtentwicklungspotenzial“

Der Mix von altem Fachwerk, einst bäuerlichen Höfen und großstädtischen Gründerzeitbauten, macht für Ferdinand Heide den typischen Charme von Fechenheim aus. Neues füllt Nischen. Der renommierte Architekt lebt und arbeitet mit einem 20-köpfigen Team dort, wo die Geschäftsmeile Alt-Fechenheim, „Langgass“ genannt, um die Ecke zur Leinwebergasse zur Ruhe kommt. Über Generationen hat die Familie Heide hier einen Ort mit Charakter geschaffen. Die Handschrift ist kennzeichnend: „Ein Bemühen um Mischstruktur, in der Bestehendes unterstützt wird,“ sagt der Architekt. Heide hat das Stadtbild von Frankfurt mitgeprägt.

Ein Beispiel ist die Liaison von Honsellbrücke und Mainbrücke Ost nahe der EZB. Nach seinem Entwurf wird bald im Europaviertel der „Millenium Tower“ entstehen – ein 280 Meter hoher Wolkenkratzer mit „Himmelsleiter“, der die Spitze von Mainhatten markieren und weitere Rekorde brechen wird. Auch im Heimathafen Fechenheim steckt laut Heide „großes Stadtentwicklungspotenzial“. Frankfurt habe sich stark in Richtung Osten entwickelt: „Irgendwann kommt das auch hier an.“

Ein Bummel in Fechenheim lohnt sich

Selbst in der lauschigen Leinwebergasse steht die Zeit nicht still. Demnächst will dort das Lokal „MANO im Engelhof“ als Nachfolger der „Kastanie“ eröffnen. Heide freut sich auf saisonale, kreative Küche im Sommergarten: „Der Standort für Gastronomie ist gut, nicht nur mittags für Berufstätige, auch für Radfahrer und Ausflügler.“ Der Engelhof, früher Wirtshaus mit Saalbau und Kegelbahn, bildet die historische Mitte des Ensembles. Hier soll bereits 1711 ein Kaiser gefrühstückt haben. Etwa 200 Jahre später hielt Rosa Luxemburg im Engelhof eine flammende Rede an die Arbeiterklasse. Zum Areal zählt ferner das Einrichtungshaus Heide, das ebenso wie Heide & Bechthold den Standort Fechenheim für Wohnideen über die Grenzen hinaus bekannt gemacht hat.

Vom Design-Sofa bis zur Asia-Nudel: Auf der Langgass gibt es alles – fast. Ein Bummel lohnt sich, ein Stop an der Bäckerei Ewald erst recht. Der Familienbetrieb existiert trotz oder gerade wegen zweier Großbetriebe, die vom Ort aus ihre Filialen beliefern. Ewald überzeugt mit leckeren Torten und hausgemachtem Hefegebäck.

Neben der Einkaufsmeile zeigt die Langgass ihre bunte Seite – vom Kleedreieck, wo die Mosaikfiguren Nixe und Fischer wie stille Wächter sitzen, über den fröhlichen Palettenzaun an Eis-Café und Döner-Imbiss bis zur Gabelung mit dem Laden „Bücher VorOrt“ und dem Atelier des Vereins PolymerFM. Hier bereiten junge Talente des „frankfurt eastSide Stipendiums“ ihre Debüts vor.

„Hier ist eine gute Kombination aus Stadt und Natur“

Einen besonderen Rahmen dafür bietet neuerdings der Kulturpavillon auf dem Friedhof. PolymerFM setzte 2021 mit dem Grünflächenamt eine ehemalige, zum Geräteschuppen verkümmerte Totenhalle aus dem Spätbiedermeier instand. Passend dazu rief die Kulturmanagerin Sabine Lauer die Reihe „IN MEMORIAM“ mit Kunst, Literatur und Musik ins Leben. Für sein Engagement erhielt der Verein 2022 den Frankfurter Bürgerpreis. Der hübsche creme-altrosafarbene Pavillon steht regionalen Künstlern offen.

„Die Räume sind etwas Wunderbares. Hier stellt man Werke unter einem anderen Blickwinkel aus als in einer Galerie“, sagt Almut Martiny, die in diesem Sommer „Segmente der Natur“ in Ölmalerei und Fotografien zeigt. Auch die Malerin und Illustratorin Mariia Bykova, geboren in Kiew, seit zehn Jahren Wahl-Fechenheimerin, nutzt den Pavillon. Ihre Motive findet sie in der Umgebung. „Hier ist eine gute Kombination aus Stadt und Natur“, sagt sie. Bykova sammelt Wildblumen am Mainufer, zeichnet und koloriert sie. Dazu schreibt sie in ukrainischer Sprache Gedanken zum Krieg – Kunst als Ventil für Wut. Alle Ausstellungen werden von Sabine Lauer kuratiert. Ihr Anspruch: „Besucher sollen die Künstlerin, den Künstler spüren können, wenn sie in den Pavillon eintreten.“

„Mittlerweile ist es ein bisschen cool geworden, im Frankfurter Osten zu sein“

Szenenwechsel: Fechenheim-Nord, Orber Straße. Road to Nowhere? Keineswegs. Die Orber ist die Adresse des multinationalen Theaters Antagon, des Imam Sadjad Kulturzentrums und der Klassikstadt – Mekka für Oldtimer-Freunde. Hinter der markanten Backsteinfassade mit Bogenfenstern, früher Sitz der Mayfarth‘schen Landmaschinenfabrik, stehen gepflegte Schätzchen in der Boxengasse. Full-Service, Werkstatt, Spezialisten – alles an einem Ort. Die Werkskantine bietet raffinierte Wirthausküche mit Retro-Charme an. Zahlreiche Open-Air-Events, von Feinkost bis Food-Truck, locken nicht nur Fans der Motorkultur auf das Gelände der Klassikstadt. „Familien können hier einen schönen Sonntag erleben“, sagt Geschäftsführer Titus Schneider. Vater mit Sohn – da würden Erinnerungen ans Autoquartett wach. Oder an den Geruch von Omas erstem Wagen. Schneider selbst ist in einer

Pfälzer Bierbrauerfamilie groß geworden. Die Klassikstadt liegt an der Route der Industriekultur und steht als Location bei Unternehmen hoch im Kurs. Dass sie von 2008 bis 2010 in „Frankfurts East Side“ entstand, ist laut Schneider eher Zufall. Das Gelände habe zum Plan gepasst. „Damals war die Hanauer Landstraße mit dem Union-Areal hip.“ Alles jenseits des „magischen Kreisels“ habe als „more shabby“ gegolten. Und heute? „Mittlerweile ist es ein bisschen cool geworden, im Frankfurter Osten zu sein“, sagt der Chef der Klassikstadt.

Dieser Text erschien zuerst in der Juni-Print-Ausgabe (JF6/23) des JOURNAL FRANKFURT.

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Für alle, die noch mehr über Fechenheim erfahren wollen, bieten die Frankfurter Stadtevents gleich mehrere Führungen an. Alle Infos dazu finden Sie hier.
 
24. Juni 2023, 11.30 Uhr
Annette Friauf
 
 
Fotogalerie:
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