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Eleonore Wiedenroth-Coulibaly
„Solange es nicht allen Menschen gut geht, ist es keine Demokratie“
Am Freitag wurde Eleonore Wiedenroth-Coulibaly im Kaisersaal mit dem Tony-Sender-Preis ausgezeichnet. Seit Jahrzehnten setzt sie sich gegen Rassismus und für die Rechte von Schwarzen Frauen ein. Im Interview erzählt sie, warum ihre Arbeit noch immer so wichtig ist.
JOURNAL FRANKUFURT: Frau Wiedenroth-Coulibaly, bei der Preisverleihung am Freitag sagte Frauendezernentin Rosemarie Heilig (Bündnis 90/Die Grünen), es sei allerhöchste Zeit, dass eine Schwarze Frankfurter Feministin mit dem Tony-Sender-Preis ausgezeichnet wird. Sehen Sie das auch so?
Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Es war mindestens allerhöchste Zeit. Wir haben in unserer Gesellschaft bestimmte Bewegungszusammenhänge, die immer ein wenig unter der Oberfläche gehalten werden. Sie laufen zwar mit und geben viel Input, aber die Bewegungen selbst und ihre Akteurinnen, Schwarze Aktivistinnen und Feministinnen, werden nicht benannt und nicht gesehen. Das wurde jetzt mit meiner Auszeichnung durchbrochen und für den Satz von Frau Heilig gab es übrigens auch Standing Ovations. Nach der Verleihung kamen einige Jury-Mitglieder zu mir, die mich gewählt hatten. Darunter waren viele junge Frauen und vielleicht wird sich allein dadurch ja etwas verändern und in Zukunft mehr Frauen wie ich ausgezeichnet. Vielleicht schaffen wir es ja auch, dass wir irgendwann in den Jurys sitzen und nicht nur gewählt werden. Ich bin jetzt die Türöffnerin – schauen wir mal, wer in Zukunft durch diese Tür geht.
Sie sind zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs als Tochter eines Schwarzen US-Soldaten und einer weißen deutschen Mutter in Wiesbaden geboren worden. Wie war es für Sie, in Deutschland aufzuwachsen?
Ich gehe ungern dahin zurück. Was ja hinter diesem „nach dem Zweiten Weltkrieg“ schnell wieder vergessen wurde und heute auch immer noch wird ist, dass der Krieg ja die Folge von etwas war, nämlich vom Nationalsozialismus. Ich wurde nach dem Nationalsozialismus geboren. Und die Leute, die in Ämtern saßen und Entscheidungen zu treffen hatten, waren immer noch dieselben. Sie haben das Ganze dann eben anders oder gar nicht benannt, aber der Geist war derselbe und das hat mein Leben ab meiner Geburt geprägt. Mein Vater ist durch das rassistische Politikregime gar nicht dazu gekommen, mich kennenlernen zu können. Er war bei meiner Geburt schon nicht mehr da. In meinen ersten Lebensjahren bis in meine Jugendzeit ging es mir nicht gut, ich war sehr verschlossen. Andere Kinder haben draußen gespielt und dabei auch ihre Umwelt entdeckt. Das war mir, wahrscheinlich als Vorsichtsmaßnahme, versagt. Und ich hatte keine Sprache, um zu erklären, wie es mir ging. Als ich dann irgendwann versucht habe, etwas zu sagen, hat mich der Spruch „Du bist zu überempfindlich“ durch meine ganze Jugend begleitet. Ich wurde immer als Widerspenstige gelabelt und wusste gar nicht warum, aber heute werde ich als die Widerständige geehrt. Dieser Wesensanteil in meinem Ich ist also immer noch der Gleiche.
Ist es heute für Schwarze Kinder einfacher?
Man möchte gerne sagen, es ist heute einfacher, aber für alle kann ich das nicht sagen. Mein Leben ist heute einfacher, ich bin angekommen, ich werde gesehen und jetzt sogar gefeiert. Aber wenn gleichzeitig Morde passieren, und dann auch noch Polizeimorde, kann es mir nicht gut gehen. Das betrifft meine innere Seele und die Person muss dann auch gar nicht mit mir verwandt sein, damit ich dieses Leiden sehe. Das ist sehr präsent im Moment und das tut weh. Unsere Kinder haben es insofern vielleicht einfacher, wenn sie Schwarze Bezugspersonen um sich herum haben und in ihrem Schwarzsein selbstverständlicher aufwachsen können, darin getragen werden und es mit Inhalt, Liebe und Wärme gefüllt wird. Ganz viele haben das aber auch heute nicht.
Mit der ISD und auch mit Ihrem Engagement generell versuchen Sie immer wieder, Menschen zu verbinden und Netzwerke aufzubauen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Als wir mit der ISD angefangen haben, war diese Vereinzelung ein großes Thema. Ich dachte eigentlich, das haben wir überwunden, aber je nachdem, wo die Menschen aufwachsen, ist es heute immer noch so. Wenn man vereinzelt aufwächst, als „gebrandmarkte Person“, ausgegrenzt und im negativen Sinne herausgestellt, dann braucht Mensch irgendwo einen Halt: entweder in anderen Menschen, oder in anderen Zusammenhängen wie zum Beispiel in der Natur. Beides war für mich schwierig und ist es heute für viele Menschen auch noch. Das ist der Antrieb, warum ich so auf das Vernetzen, das Zusammenkommen von Schwarzen Menschen agiere. Ich möchte, dass wir uns kennen, unsere Lebensgeschichten kennen und darin sehen, dass wir einfach Menschen sein können.
Sie haben die ISD schon 1985 mitgegründet und bis heute ist die Bewegung aktiv. Was wiegt denn heute schwerer: Der Stolz, das geschaffen zu haben, oder eine Wut, dass so eine Organisation heute immer noch nötig ist?
Beides. Zuerst sind die, die heute mitgestalten natürlich stolz, dass sie auf eine Tradition zurückblicken können. Der Nationalsozialismus hatte Schwarze oder afrozentrierte Bewegung zerschlagen. Im Kanon von dem, was Nationalsozialismus gemacht hat und welche Menschen getötet wurden, wird das bis heute nicht wirklich mitgedacht und mitgesagt. Wir versuchen heute, unter anderem diesen Teil der Geschichtsaufarbeitung zu fordern. Das ist immer noch der blinde Fleck. Wir haben aber auch heute einfach immer noch viel zu tun: Wenn Menschen aus der Ukraine geflüchtet und sogenannte „Drittstaatler“ sind, haben sie hier kein Bleiberecht bekommen. Die Geflüchteten aus der Ukraine werden in Deutschland so behandelt, dass sie hier verhältnismäßig gut ankommen können und hier nicht auch noch mit Problemen belastet sind. Dieses Privileg haben afrikanische Geflüchtete nie gehabt und das haben auch die „Drittstaatler“, die jetzt aus der Ukraine kommen, nicht. Sie werden teilweise schon an den Grenzen aussortiert, müssen häufig von Privatleuten aufgenommen werden, was eigentlich Aufgabe des Staates wäre, es gibt keine Sozialschirme für sie. Das zeigt: Es wird immer noch mit zweierlei Maß gemessen, das heißt die Notwendigkeit für eine Bewegung wie die ISD ist immer noch da. Auch, um Bewegung in die Köpfe zu bringen.
Sie setzen sich aber nicht nur für Schwarze Menschen generell, sondern insbesondere auch für Schwarze Frauen und queere Menschen ein. Warum braucht es in diesem Bereich nochmal mehr Engagement?
Es ist einfach wichtig, die Menschen, die am äußersten Rand stehen und „am meisten“ unterdrückt werden, in den Mittelpunkt einer Bewegung zu stellen und zu hören, und darauf zu achten, was tatsächlich ihre Bedürfnisse sind. Wenn wir es als Gesamtgesellschaft schaffen, für die am meisten marginalisierten Menschen Räume zu öffnen, damit sie sprechen können und sagen können, wo Änderungsbedarf ist, dann kommen wir alle weiter. Das ist das Ideal von „demokratischem Zusammenleben“. Nächstes Jahr wird die Demokratie, vor allem in Frankfurt, hochgelobt und es scheint, als wäre Demokratie etwas Gesetztes, worauf wir so stolz sein können. Ja und nein, denn in diesem demokratischen System gibt es ja diese ganzen Unterdrückungsmechanismen, in denen es einigen Menschen gut geht. Die müssen aufgerüttelt werden. Denn solange es nicht allen Menschen gut geht, ist es keine Demokratie.
Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Es war mindestens allerhöchste Zeit. Wir haben in unserer Gesellschaft bestimmte Bewegungszusammenhänge, die immer ein wenig unter der Oberfläche gehalten werden. Sie laufen zwar mit und geben viel Input, aber die Bewegungen selbst und ihre Akteurinnen, Schwarze Aktivistinnen und Feministinnen, werden nicht benannt und nicht gesehen. Das wurde jetzt mit meiner Auszeichnung durchbrochen und für den Satz von Frau Heilig gab es übrigens auch Standing Ovations. Nach der Verleihung kamen einige Jury-Mitglieder zu mir, die mich gewählt hatten. Darunter waren viele junge Frauen und vielleicht wird sich allein dadurch ja etwas verändern und in Zukunft mehr Frauen wie ich ausgezeichnet. Vielleicht schaffen wir es ja auch, dass wir irgendwann in den Jurys sitzen und nicht nur gewählt werden. Ich bin jetzt die Türöffnerin – schauen wir mal, wer in Zukunft durch diese Tür geht.
Sie sind zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs als Tochter eines Schwarzen US-Soldaten und einer weißen deutschen Mutter in Wiesbaden geboren worden. Wie war es für Sie, in Deutschland aufzuwachsen?
Ich gehe ungern dahin zurück. Was ja hinter diesem „nach dem Zweiten Weltkrieg“ schnell wieder vergessen wurde und heute auch immer noch wird ist, dass der Krieg ja die Folge von etwas war, nämlich vom Nationalsozialismus. Ich wurde nach dem Nationalsozialismus geboren. Und die Leute, die in Ämtern saßen und Entscheidungen zu treffen hatten, waren immer noch dieselben. Sie haben das Ganze dann eben anders oder gar nicht benannt, aber der Geist war derselbe und das hat mein Leben ab meiner Geburt geprägt. Mein Vater ist durch das rassistische Politikregime gar nicht dazu gekommen, mich kennenlernen zu können. Er war bei meiner Geburt schon nicht mehr da. In meinen ersten Lebensjahren bis in meine Jugendzeit ging es mir nicht gut, ich war sehr verschlossen. Andere Kinder haben draußen gespielt und dabei auch ihre Umwelt entdeckt. Das war mir, wahrscheinlich als Vorsichtsmaßnahme, versagt. Und ich hatte keine Sprache, um zu erklären, wie es mir ging. Als ich dann irgendwann versucht habe, etwas zu sagen, hat mich der Spruch „Du bist zu überempfindlich“ durch meine ganze Jugend begleitet. Ich wurde immer als Widerspenstige gelabelt und wusste gar nicht warum, aber heute werde ich als die Widerständige geehrt. Dieser Wesensanteil in meinem Ich ist also immer noch der Gleiche.
Ist es heute für Schwarze Kinder einfacher?
Man möchte gerne sagen, es ist heute einfacher, aber für alle kann ich das nicht sagen. Mein Leben ist heute einfacher, ich bin angekommen, ich werde gesehen und jetzt sogar gefeiert. Aber wenn gleichzeitig Morde passieren, und dann auch noch Polizeimorde, kann es mir nicht gut gehen. Das betrifft meine innere Seele und die Person muss dann auch gar nicht mit mir verwandt sein, damit ich dieses Leiden sehe. Das ist sehr präsent im Moment und das tut weh. Unsere Kinder haben es insofern vielleicht einfacher, wenn sie Schwarze Bezugspersonen um sich herum haben und in ihrem Schwarzsein selbstverständlicher aufwachsen können, darin getragen werden und es mit Inhalt, Liebe und Wärme gefüllt wird. Ganz viele haben das aber auch heute nicht.
Mit der ISD und auch mit Ihrem Engagement generell versuchen Sie immer wieder, Menschen zu verbinden und Netzwerke aufzubauen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Als wir mit der ISD angefangen haben, war diese Vereinzelung ein großes Thema. Ich dachte eigentlich, das haben wir überwunden, aber je nachdem, wo die Menschen aufwachsen, ist es heute immer noch so. Wenn man vereinzelt aufwächst, als „gebrandmarkte Person“, ausgegrenzt und im negativen Sinne herausgestellt, dann braucht Mensch irgendwo einen Halt: entweder in anderen Menschen, oder in anderen Zusammenhängen wie zum Beispiel in der Natur. Beides war für mich schwierig und ist es heute für viele Menschen auch noch. Das ist der Antrieb, warum ich so auf das Vernetzen, das Zusammenkommen von Schwarzen Menschen agiere. Ich möchte, dass wir uns kennen, unsere Lebensgeschichten kennen und darin sehen, dass wir einfach Menschen sein können.
Sie haben die ISD schon 1985 mitgegründet und bis heute ist die Bewegung aktiv. Was wiegt denn heute schwerer: Der Stolz, das geschaffen zu haben, oder eine Wut, dass so eine Organisation heute immer noch nötig ist?
Beides. Zuerst sind die, die heute mitgestalten natürlich stolz, dass sie auf eine Tradition zurückblicken können. Der Nationalsozialismus hatte Schwarze oder afrozentrierte Bewegung zerschlagen. Im Kanon von dem, was Nationalsozialismus gemacht hat und welche Menschen getötet wurden, wird das bis heute nicht wirklich mitgedacht und mitgesagt. Wir versuchen heute, unter anderem diesen Teil der Geschichtsaufarbeitung zu fordern. Das ist immer noch der blinde Fleck. Wir haben aber auch heute einfach immer noch viel zu tun: Wenn Menschen aus der Ukraine geflüchtet und sogenannte „Drittstaatler“ sind, haben sie hier kein Bleiberecht bekommen. Die Geflüchteten aus der Ukraine werden in Deutschland so behandelt, dass sie hier verhältnismäßig gut ankommen können und hier nicht auch noch mit Problemen belastet sind. Dieses Privileg haben afrikanische Geflüchtete nie gehabt und das haben auch die „Drittstaatler“, die jetzt aus der Ukraine kommen, nicht. Sie werden teilweise schon an den Grenzen aussortiert, müssen häufig von Privatleuten aufgenommen werden, was eigentlich Aufgabe des Staates wäre, es gibt keine Sozialschirme für sie. Das zeigt: Es wird immer noch mit zweierlei Maß gemessen, das heißt die Notwendigkeit für eine Bewegung wie die ISD ist immer noch da. Auch, um Bewegung in die Köpfe zu bringen.
Sie setzen sich aber nicht nur für Schwarze Menschen generell, sondern insbesondere auch für Schwarze Frauen und queere Menschen ein. Warum braucht es in diesem Bereich nochmal mehr Engagement?
Es ist einfach wichtig, die Menschen, die am äußersten Rand stehen und „am meisten“ unterdrückt werden, in den Mittelpunkt einer Bewegung zu stellen und zu hören, und darauf zu achten, was tatsächlich ihre Bedürfnisse sind. Wenn wir es als Gesamtgesellschaft schaffen, für die am meisten marginalisierten Menschen Räume zu öffnen, damit sie sprechen können und sagen können, wo Änderungsbedarf ist, dann kommen wir alle weiter. Das ist das Ideal von „demokratischem Zusammenleben“. Nächstes Jahr wird die Demokratie, vor allem in Frankfurt, hochgelobt und es scheint, als wäre Demokratie etwas Gesetztes, worauf wir so stolz sein können. Ja und nein, denn in diesem demokratischen System gibt es ja diese ganzen Unterdrückungsmechanismen, in denen es einigen Menschen gut geht. Die müssen aufgerüttelt werden. Denn solange es nicht allen Menschen gut geht, ist es keine Demokratie.
17. Oktober 2022, 12.25 Uhr
Laura Oehl
Laura Oehl
Jahrgang 1994, Studium der Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, Journalismus-Master an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, seit Dezember 2020 beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Laura
Oehl >>
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Text: Lukas Mezler / Foto: Gloriosa, die größte Glocke Frankfurts © Harald Schröder
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