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Foto: Salman Rushdie erhielt im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels © Arne Dedert/dpa
Foto: Salman Rushdie erhielt im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels © Arne Dedert/dpa

Demokratie gestalten

Wogegen leistet ein (literarischer) Verlag Widerstand?

Die Literatur und das Lesen von Literatur sind fester Bestandteil unseres Lebens. Doch die Lesekompetenz der Bürger lässt nach – und stellt eine Gefahr dar. Ein Gastbeitrag von Joachim Unseld.
Literatur bietet Vielfalt, in ihr erscheint eine unendliche Zahl an unterschiedlichen sozialen Gegenwarten. Die nur auf den ersten Blick erstaunliche Zahl von 70 000 jährlich neu in Deutschland erscheinenden Büchern legt davon ein beredtes Zeugnis ab. In einer solchen Vielfalt spiegelt sich das demokratische, verschiedene Kulturen einschließende Verständnis der Gesellschaft. Und in der Definition einer anspruchsvollen literarischen Belletristik entspricht die Literatur, die auch gerade durch Übersetzungen aus anderen Sprachen eine solche gesellschaftliche Vielfalt abbildet, nicht den Erwartungen des Marktes.

Ein literarischer Verlag leistet diesen Widerstand. Sosehr gegenständlich betrachtet die Ware Buch im normalen Marktgeschehen bestehen muss, also den Urheber ernähren, Produktion finanzieren und den Vertrieb in den Handel möglich machen muss, damit das Buch zum Leser findet, so wenig orientiert sich die Literatur in der genannten Definition am Marktgeschehen. Es gilt das nicht utiliaristische, nicht populistische Konzept „Literatur als Kunst“.

„Bücher sind das Medium, um frei und ohne Zwang Optionen auszuüben, autonom Entscheidungen zu treffen und intellektuelle Debatten zu initiieren“

Inhaltlich sucht Literatur die Abbildung von Wirklichkeiten, und die Bücher, die den Inhalt transportieren, bieten Orientierung für unsere geistige Architektur. In der Beschreibung des Gegenwärtigen (und hier auch einbezogen die Beschreibung ihrer Missstände, der ständigen Herausforderungen, ihrer täglichen Zumutungen) beginnt in der Literatur die Suche nach dem Neuen, dem Anderen, es geschehen Ausbrüche, Fluchtpunkte werden skizziert, eine für die Zukunft des Menschen produktive Neugier entsteht. Neugier für
etwas anderes als wir selbst es im gegenwärtigen Moment noch sind, Neugier nach dem, was unsere Welt kreativ voranbringt, das unsere condition humana verbessert. Hier verfolgen literarische Verlage ihr wichtiges gesellschaftliches Engagement.

Beginnend mit der bahnbrechenden Erfindung des Buchdrucks, die das Schlüsselelement einer weltumfassenden gesellschaftlichen Bildungsrevolution darstellt, sind Bücher das Medium, frei und ohne Zwang Optionen auszuüben, autonom Entscheidungen zu treffen, intellektuelle Debatten zu initiieren, die die persönliche Freiheit innerhalb einer Gemeinschaft beschreiben und zu sichern vermögen. Sich in solcher Freiheit – ohne Denkverbote und Zensur – auf Neues einzulassen hat spätestens seit der Aufklärung Sinn für unser Verständnis von Demokratie.

Nicht im Bestehenden steckenbleiben, sondern den Erfahrungshorizont ständig auf den Prüfstand stellen und weiterentwickeln, ist die Aufgabe. Den Zugang zu Anderen, zu dem Anderen – auch dem Fremden – suchen. Somit Ambiguitätstoleranz fördern. Eine Zensur existiert nicht in unserem Verständnis von Demokratie. Wir können aus unserer Sicht heute alles sagen und schreiben. Aber es gibt sie natürlich, die Vielzahl von Ländern, in denen Verlage aus machtpolitischen Gründen überwacht, Autoren verfolgt und Bücher verboten werden. In denen die Voraussetzung der durch demokratischen Rückhalt abgesicherten freien Meinungsäußerung fehlt.

„Es hat Gründe, dass Bücher verboten werden“

Und es hat Gründe, dass Bücher verboten werden. In Büchern findet auf vielfältige Weise Widerstand statt, Widerstand gegen oktroyierte undemokratische gesellschaftliche Verhältnisse, die die persönliche Freiheit der Menschen einschränken, die unveräußerliche Menschenrechte erodieren lassen und schließlich Demokratie durch Autokratie ersetzen. Dies kann durch einen politischen Umsturz plötzlich geschehen, und es geschieht vielerorts.

Denn wir leben aktuell in einer für die Demokratie gefährlichen Zeit, über die Salman Rushdie in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2023 sagte: „Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen, in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche einzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben.“

„Sind das Lesen und Schreiben im Zeitalter von Digitalem und Künstlicher Intelligenz noch von Bedeutung?“

Ein solcher Umbruch kann aber auch schleichend geschehen, im Nachlassen unseres Willens und unserer Aufmerksamkeit, die Demokratie zu bewahren. Und zwar im allmählichen Verschwinden unserer Kompetenz, reaktionäre und machtpolitische Einflüsse zu erfassen und zu analysieren. Und dadurch die richtigen, die Demokratie erhaltenden Schlüsse zu ziehen. Die Literatur und das Lesen von Literatur sind fester Bestandteil unseres Lebens.

Aber sind das Lesen und das Schreiben als älteste Kulturtechnik im Zeitalter von Digitalem und Künstlicher Intelligenz für uns noch von Bedeutung? Wissen wir eigentlich, welch große Bedeutung richtiges Lesen, ich betone richtiges, für uns hat. Welche Auswirkungen Lesen auf unsere Kultur hat, welche Konsequenzen für ein aufgeklärtes und mündiges Miteinander, ja am Ende sogar für die Demokratie überhaupt? Ich gebe zu, ich bin besorgt über ein Nachlassen unserer Lesekompetenz, besorgt darum, dass durch dieses Nachlassen fahrlässig gefährliche Inhalte in unser Leben eindringen, in dem sie nichts zu suchen haben.

„Digital natives verlernen zusehends ihre Lesekompetenz und die Fähigkeit, Wahr von Falsch zu unterscheiden“

Es besteht bei uns seit 2012 eine Vollversorgung mit digitalen Geräten. Bereits unsere Grundschüler sind, nennen wir sie digital natives, Digitalspezialisten, bevor sie lesen lernen. Und verlieren inzwischen durch Studien nachgewiesen (unter anderem „Karolinska Institut“, „Stavanger“, „Ljubljana-Manifest“) zusehends ihre Lesekompetenz, und damit jene so wichtige kritische Widerstandsfähigkeit gegen die zunehmende Einflussnahme von außen, gegen die Allgegenwart des Internets mit einer nie dagewesenen Informationsflut. Sie verlieren zusehends die Fähigkeit, Wahr von Falsch zu unterscheiden. Eine Entwicklung, die, inzwischen neurologisch nachgewiesen (unter anderem Maryanne Wolf ), Folgen für die plastische Entwicklung des lesenden Hirns hat.

Es gibt bereits jetzt nicht mehr die früheren hirnphysiologischen Voraussetzungen zum Verständnis langer und mühsam zu rezipierender Texte. Kinder, die zu spät mit Sprache und Texten in Berührung kommen, sind deutlich benachteiligt. Ein seit Jahren immer weiter fortschreitendes Nachlassen der Lesemotivation und ein Schrumpfen der Lesepraxis führt gerade bei Kindern und Jugendlichen zur Routine des flüchtigen Lesens (oder soll ich sagen: des flüchtigen Verstehens). Es fehlt hier an der Bereitschaft zur Anstrengung. Und so wird man am Ende dieser fehlenden Leseerziehung hilfloses Opfer einer ungebremsten Welle populistischer Vereinfachung, schließlich der absurdesten und manipulativsten Fake News.

Mario Vargas Llosa: „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, in dem man viel liest, eine stärker verankerte Demokratie besitzt, als Länder, in denen Romane geringgeschätzt werden“

Es geht um unsere Fähigkeiten, Wirklichkeit zu erkennen und zu beurteilen. Um die Erziehung der Gefühle, unser Einfühlungsvermögen in auch widersprüchliche menschliche Beweggründe. Und fremde Kulturen. Wir bleiben Demokraten, weil wir in der Lage sind, die Welt zu verstehen, Ambiguitäten gutzuheißen oder zumindest zu tolerieren, die existierende Vielfalt zu begrüßen, Engstirnigkeit zu bekämpfen und Widerstandskraft zu schöpfen für die langsamen, manchmal frustrierenden Prozeduren, die unsere Menschenrechte schützen. Wir brauchen den informierten, resilienten, lesekompetenten Bürger, der in der Lage ist, zwischen validen oder invaliden Inhalten zu unterscheiden. Um es mit den Worten eines der großen Schriftsteller zu sagen, dem berühmten Mario Vargas Llosa: „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, in dem man viel liest, eine stärker
verankerte Demokratie besitzt, als Länder, in denen Romane geringgeschätzt werden.“

Frank E. P. Dievernich, Jasmin Schülke, Paula Macedo Weiß (Hrsg.): Demokratie gestalten. Eine Aufforderung zum Handeln. Hardcover, 208 Seiten, 22 €, Frankfurter Allgemeine Buch, ISBN 978-3-96251-182-1



Joachim Unseld © Laura Gerlach

Info
Dr. Joachim Unseld, 1953 in Frankfurt geboren, ist seit 30 Jahren Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt, der Übersetzer von Jean-Philippe Toussaint und Vorsitzender des Vorstands des Literaturhaus Frankfurt und der Stiftung Buchkunst.
 
Fotogalerie:
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16. Oktober 2024, 10.40 Uhr
Joachim Unseld
 
 
 
 
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