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Demokratie gestalten
Wir müssen streiten!
Eine offene Stadtgesellschaft braucht den Streit und die Kontroverse – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Widerspruch und Dissens gegenüber dem Ist-Zustand, sind kein Zeichen für die Krise der Demokratie, sondern vielmehr eine Quelle ihrer Erneuerung.
In Frankfurt wurde immer gestritten. Engagiert und leidenschaftlich. Laut und zornig. Intensiv und kreativ. Rauh und militant. An Anlässen herrschte kein Mangel: gegen Notstandsgesetze und Startbahn-West, für bezahlbaren Wohnraum und mehr Kita-Plätze, gegen die neue Altstadt, für eine andere Verkehrspolitik, gegen einen überforderten Oberbürgermeister. Streit gehört zum Sound der Stadt. Und das ist gut so.
Streit ist der Sauerstoff für eine offene, liberale Stadtgesellschaft. Streit ist gewissermaßen „systemrelevant“. Dissens, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Streit ist konstitutiv für die Demokratie – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Unsere Demokratie lebt von der Kontroverse. Nur durch ständige öffentliche Debatte können wir erfolgreich die unterschiedlichen Interessen koordinieren. „Nur im Streit klären wir, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche Werte wir grundsätzlich vertreten wollen und welche politischen Entscheidungen wir als Gesellschaft zu tragen bereit sind“, sagt Michel Friedman. Der Frankfurter Jurist, Publizist und Philosoph hat ein kompaktes, kluges Buch über das Streiten veröffentlicht (Streiten? Unbedingt!, Duden Verlag) – das auch als Plädoyer für das Bemühen um gesellschaftlichen Konsens gelesen werden soll, denn: „Am Ende steht der Kompromiss. Er darf nicht der Anfangspunkt einer streitbaren Diskussion sein, sondern deren Endpunkt“.
Freilich, nicht jeder Streit ist anregend, erhellend und klug. Oft geht es gemein, dumm und vulgär zu. Es wird gebrüllt, niedergebrüllt und beleidigt. Kultiviertes Streiten, das zeigt uns die Wirklichkeit, will gelernt, geübt und gepflegt werden.
Wann aber kann ein produktiver, ein erkenntnisreicher, guter Streit entstehen? „Das Formulieren der eigenen Position, der Haltung, der These, des Gedankens, das Deutlichmachen, wofür man steht, ist der erste Schritt eines produktiven Streits. Wenn alle Beteiligten den gleichen Raum und die gleiche Aufmerksamkeit bekommen, kann ein guter Streit beginnen...“, meint Michel Friedman. Und er verweist darauf, dass in den letzten Jahrzehnten unsere Konsens-Demokratie davon geprägt war, kontroverse Debatten zu vermeiden – und dort, wo sie auftraten eher zu nivellieren und zu befrieden. Zuviel – vor allem zu leicht und schnell erreichter – Konsens begünstigt schalen Opportunismus, er belohnt Kritiklosigkeit, er bedroht die Individualisierung des Denkens. Konformismus statt Pluralismus.
Hierzulande gilt der gerne und oft beschworene „Grundkonsens der Demokraten“ als das stabilisierende Fundament der Nachkriegsrepublik. Gestritten werden soll im Parlament, nicht auf Straßen und Plätzen. Öffentliche Orte gelten als notfalls auch mit (Gesetzes-)Gewalt zu verteidigende „Ruhezonen“. Lauter und widerspenstiger Streit wird von selbsternannten Musterdemokraten als Anomalie des politischen Regelbetriebs gebrandmarkt. Statt Streit und Debatte wünscht man sich Kompromiss und Konsens.
Für Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität und eine der Sprecherinnen des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)“, höchste Zeit, sich einzumischen. Nicht im Konsens, sondern in der Freiheit, diesen Konsens immer wieder infrage zu stellen, liege der normative Kern einer Demokratie. Sie ist Mit-Initiatorin des Projekts „Frankfurt streitet!“, das sich vorgenommen hat, die Streitkultur zu fördern und die Lust am Streiten zu wecken. In einem „StreitBus“, einem umgebauten Linienbus, macht sie Halt vor Gemeindehäuser, Cafés und Clubs, in Parks und bei Einkaufszentren und diskutiert mit spannenden Gästen und streitlustigen Einheimischen kontroverse Themen der Stadt – offen und pointiert. Produktives Streiten, so Nicole Deitelhoff, brauche Augenhöhe und Anerkennung und erfordert den Mut, sich Konflikten zu stellen und diese auszuhalten.
Fest steht: „Demokratie leben“ stellt immer auch ein Wagnis dar. Demokratie ist nicht unbedingt Gemeinschaft. Demokratie ist vor allem Gesellschaft, also das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen, Sichtweisen und Meinungen. Vielfalt statt Einfalt. Man möchte gerne, aber man kann ( ... und muss!) nicht mit jedem streiten. Fanatiker, Extremisten und Populisten hören ohnehin nicht gern zu. Sie interessieren sich nicht für andere Meinungen. Sie bewegen sich lieber in ihren abgeschotteten Echoräumen.
In den sozialen Medien, die einmal für die Verwirklichung des demokratischen Traums standen, jeder und jede könne überall über alles reden, werden komplexe Themen gerne auf 280 Zeichen heruntergekürzt, was jede Differenzierung verhindert, dafür aber Polarisierung maximal beschleunigt. Da bleibt wenig Raum für Kompliziertes, Uneindeutiges, Widersprüchliches. Statt Empathie erleben wir Empörung, statt Fakten dominiert Bauchgefühl, Geschrei statt Gespräch. Demokratie gerät da in eine prekäre Schieflage.
Die österreichische Autorin und Psychiaterin Heidi Kastner ist der Ansicht, man müsse nicht unbedingt die Mühsal des Streitens auf sich nehmen, vor allem dann nicht, wenn keinerlei Dialog- und Kompromiss-Bereitschaft bei den Beteiligten vorhanden ist. Dann, so Kästner in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, verzichte man besser darauf und benennt es als das, was es ist: „nämlich eine zweckbefreite und absehbar ergebnislose Kombination zweier Monologe, und spart sich Mühe, Ärger und Zeit, mit Menschen zu diskutieren, die das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln.”
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Zur Person: Helmut Ortner war Chefredakteur des JOURNAL FRANKFURT. Er hat mehr als zwanzig Bücher – überwiegend politische Sachbücher – geschrieben. Zuletzt erschienen: Ohne Gnade – Eine– Geschichte der Todesstrafe (2019), Widerstreit – Über Macht und Widerstand (2021) sowie Volk im Wahn – Von der Gegenwart der Vergangenheit (2022). Seine Bücher sind bislang in 14 Sprachen übersetzt.
www.helmutortner.de
Streit ist der Sauerstoff für eine offene, liberale Stadtgesellschaft. Streit ist gewissermaßen „systemrelevant“. Dissens, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Streit ist konstitutiv für die Demokratie – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Unsere Demokratie lebt von der Kontroverse. Nur durch ständige öffentliche Debatte können wir erfolgreich die unterschiedlichen Interessen koordinieren. „Nur im Streit klären wir, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche Werte wir grundsätzlich vertreten wollen und welche politischen Entscheidungen wir als Gesellschaft zu tragen bereit sind“, sagt Michel Friedman. Der Frankfurter Jurist, Publizist und Philosoph hat ein kompaktes, kluges Buch über das Streiten veröffentlicht (Streiten? Unbedingt!, Duden Verlag) – das auch als Plädoyer für das Bemühen um gesellschaftlichen Konsens gelesen werden soll, denn: „Am Ende steht der Kompromiss. Er darf nicht der Anfangspunkt einer streitbaren Diskussion sein, sondern deren Endpunkt“.
Freilich, nicht jeder Streit ist anregend, erhellend und klug. Oft geht es gemein, dumm und vulgär zu. Es wird gebrüllt, niedergebrüllt und beleidigt. Kultiviertes Streiten, das zeigt uns die Wirklichkeit, will gelernt, geübt und gepflegt werden.
Wann aber kann ein produktiver, ein erkenntnisreicher, guter Streit entstehen? „Das Formulieren der eigenen Position, der Haltung, der These, des Gedankens, das Deutlichmachen, wofür man steht, ist der erste Schritt eines produktiven Streits. Wenn alle Beteiligten den gleichen Raum und die gleiche Aufmerksamkeit bekommen, kann ein guter Streit beginnen...“, meint Michel Friedman. Und er verweist darauf, dass in den letzten Jahrzehnten unsere Konsens-Demokratie davon geprägt war, kontroverse Debatten zu vermeiden – und dort, wo sie auftraten eher zu nivellieren und zu befrieden. Zuviel – vor allem zu leicht und schnell erreichter – Konsens begünstigt schalen Opportunismus, er belohnt Kritiklosigkeit, er bedroht die Individualisierung des Denkens. Konformismus statt Pluralismus.
Hierzulande gilt der gerne und oft beschworene „Grundkonsens der Demokraten“ als das stabilisierende Fundament der Nachkriegsrepublik. Gestritten werden soll im Parlament, nicht auf Straßen und Plätzen. Öffentliche Orte gelten als notfalls auch mit (Gesetzes-)Gewalt zu verteidigende „Ruhezonen“. Lauter und widerspenstiger Streit wird von selbsternannten Musterdemokraten als Anomalie des politischen Regelbetriebs gebrandmarkt. Statt Streit und Debatte wünscht man sich Kompromiss und Konsens.
Für Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität und eine der Sprecherinnen des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)“, höchste Zeit, sich einzumischen. Nicht im Konsens, sondern in der Freiheit, diesen Konsens immer wieder infrage zu stellen, liege der normative Kern einer Demokratie. Sie ist Mit-Initiatorin des Projekts „Frankfurt streitet!“, das sich vorgenommen hat, die Streitkultur zu fördern und die Lust am Streiten zu wecken. In einem „StreitBus“, einem umgebauten Linienbus, macht sie Halt vor Gemeindehäuser, Cafés und Clubs, in Parks und bei Einkaufszentren und diskutiert mit spannenden Gästen und streitlustigen Einheimischen kontroverse Themen der Stadt – offen und pointiert. Produktives Streiten, so Nicole Deitelhoff, brauche Augenhöhe und Anerkennung und erfordert den Mut, sich Konflikten zu stellen und diese auszuhalten.
Fest steht: „Demokratie leben“ stellt immer auch ein Wagnis dar. Demokratie ist nicht unbedingt Gemeinschaft. Demokratie ist vor allem Gesellschaft, also das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen, Sichtweisen und Meinungen. Vielfalt statt Einfalt. Man möchte gerne, aber man kann ( ... und muss!) nicht mit jedem streiten. Fanatiker, Extremisten und Populisten hören ohnehin nicht gern zu. Sie interessieren sich nicht für andere Meinungen. Sie bewegen sich lieber in ihren abgeschotteten Echoräumen.
In den sozialen Medien, die einmal für die Verwirklichung des demokratischen Traums standen, jeder und jede könne überall über alles reden, werden komplexe Themen gerne auf 280 Zeichen heruntergekürzt, was jede Differenzierung verhindert, dafür aber Polarisierung maximal beschleunigt. Da bleibt wenig Raum für Kompliziertes, Uneindeutiges, Widersprüchliches. Statt Empathie erleben wir Empörung, statt Fakten dominiert Bauchgefühl, Geschrei statt Gespräch. Demokratie gerät da in eine prekäre Schieflage.
Die österreichische Autorin und Psychiaterin Heidi Kastner ist der Ansicht, man müsse nicht unbedingt die Mühsal des Streitens auf sich nehmen, vor allem dann nicht, wenn keinerlei Dialog- und Kompromiss-Bereitschaft bei den Beteiligten vorhanden ist. Dann, so Kästner in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, verzichte man besser darauf und benennt es als das, was es ist: „nämlich eine zweckbefreite und absehbar ergebnislose Kombination zweier Monologe, und spart sich Mühe, Ärger und Zeit, mit Menschen zu diskutieren, die das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln.”
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Zur Person: Helmut Ortner war Chefredakteur des JOURNAL FRANKFURT. Er hat mehr als zwanzig Bücher – überwiegend politische Sachbücher – geschrieben. Zuletzt erschienen: Ohne Gnade – Eine– Geschichte der Todesstrafe (2019), Widerstreit – Über Macht und Widerstand (2021) sowie Volk im Wahn – Von der Gegenwart der Vergangenheit (2022). Seine Bücher sind bislang in 14 Sprachen übersetzt.
www.helmutortner.de
19. Januar 2023, 12.45 Uhr
Helmut Ortner
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23. November 2024
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