Am heutigen Donnerstag erscheint die April-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT. In ihrem Editorial fasst Chefredakteurin Ronja Merkel die aktuelle Titelstory zusammen und stellt die Frage: Hat die Stadt Frankfurt das Drogenproblem noch im Griff?
Ronja Merkel /
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes. Seit ziemlich genau 70 Jahren bildet dieser schlichte Satz die Grundlage unserer demokratischen Gesellschaft. Am 24. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft und markierte die finale Überwindung des nationalsozialistischen Regimes. Die Menschenwürde „zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, heißt es weiter, und: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Hat unser Grundgesetz recht? Ist die Menschenwürde tatsächlich ein so hohes, schützenswertes Gut? Unantastbar und nicht zu rauben? Wenn ich durch Frankfurt laufe, kommen mir manchmal Zweifel an dieser schönen These. Die Redaktion des JOURNAL FRANKFURT liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs; wenn ich zur Arbeit gehe, sehe ich auf wenigen Metern mehr Leid und Elend als in manchen Städten im gesamten Innenstadtbereich verteilt. Menschen, die sich Spritzen zwischen die schmutzverkrusteten Zehen setzen, oder in ihren eigenen Exkrementen bewusstlos auf der Straße liegen. Und so sehr ich das Bahnhofsviertel liebe, es gibt wohl kaum einen Ort in Hessen, der übler nach Pisse riecht. Der Geruch ist eine ständige Erinnerung an das Versagen der Politik in dieser Stadt.
Für unsere Titelgeschichte haben wir mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Politikern, Sozialarbeitern und Wissenschaftlern über die Drogenpolitik der Stadt gesprochen. Vor allem aber haben wir uns mit den Menschen unterhalten, die in der Drogenszene leben, von ihr und dem Frankfurter Weg abhängig sind. Der Frankfurter Weg wurde viele Jahre hochgelobt, als ein Instrument, das den Menschen in der Drogenszene ihre Würde zurückgeben sollte. Doch wo ist diese Würde heute, wenn ebendiese Menschen gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden und die allgemeine Empörung weniger das menschliche Elend als vielmehr das persönliche Störempfinden berücksichtigt? Die Würde des Menschen ist antastbar.
Ich habe keine Lösung für das Problem. Auch unsere Titelgeschichte wird die Situation in Frankfurt nicht entschärfen. Aber unsere Reportage, so meine kleine, bescheidene Hoffnung, gibt den Menschen der Szene, wenn schon kein besseres Leben, doch zumindest ein wenig Würde zurück. Und sei es nur für den Moment.
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin.