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Neuer Roman
Bodo Kirchhoff und die Liebe in groben Zügen
Bodo Kirchhoffs neuer Roman geht der Liebe auf den Grund, und damit auch der Biografie des Frankfurter Schriftstellers. Ein mutiges Buch, das bis an die Schmerzgrenze geht, meint Literaturredakteur Christoph Schröder.
Kürzlich ging ich über die Schweizer Straße, sah eine Frau, die einen Zwillingskinderwagen vor sich herschob und musste sofort an Bodo Kirchhoff denken. Warum? Weil es eine dieser Beobachtungen ist, die in seinem neuen Roman stehen, ganz beiläufig, aber sehr wahr: Dass man auf der Schweizer nur noch diese und keine anderen Kinderwagen mehr sieht, weil man mittlerweile Kinder auf die Welt bringt, indem man der Natur ein wenig nachhilft. Die Schadowstraße, ganz in der Nähe der Schweizer Straße, ist eine der beiden Heimaten der Protagonisten von Kirchhoffs neuem Roman. In der Schadowstraße wohnt auch der Autor selbst. Wie seine Hauptfigur hat er ein Haus am Gardasee. Auch sonst stimmen viele Details.
Renz und Vila heißen die beiden Hauptfiguren, kennengelernt haben sie sich am Silvesterabend 1984 im Plus, nicht dem Supermarkt, sondern dem Café in Sachsenhausen. Das gab es damals noch. Alle elf Jahre, so scheint es, schreibt Bodo Kirchhoff einen großen Roman: „Infanta“ 1990, „Parlando“ 2001 und nun also „Die Liebe in groben Zügen“. Ein radikaler Roman, ein grandioser. Einige wenige Leben nur, die aber unter der Lupe. Vila und Renz, Verena Wieland und Bernhard Renz. Sie Anfang 50, er Mitte 60. Ein Paar seit knapp 30 Jahren. Sie moderiert eine kleine Sendung im Fernsehen; er schreibt Seriendrehbücher. Früher war er „der Kinomann vom Pflasterstrand“. Zwei öffentlich-rechtlich abgefederte Mitglieder der goldenen Mediengeneration. Die Sommer verbringt man in besagtem Haus am Gardasee. Erstmals holen Vila und Renz sich einen Wintermieter ins Seehaus: Bühl, gescheiterter Lehrer aus Frankfurt, der in Italien an einem Buch über Franz von Assisi arbeiten will. Zwischen Vila und Bühl, er zwölf Jahre jünger als sie, geschieht etwas, spielt sich etwas ab, zunächst im Zwischenbereich des Unmerklichen.
Doch als Vila nach Havanna reist, wo ihre und Renz’ gemeinsame Tochter plant, eine Abtreibung vorzunehmen, fliegt Bühl ihr nach. Und es beginnt etwas, was man Liebe nennen kann, in all ihren Unmöglichkeiten. Die prallen hart aufeinander: Die Unmöglichkeit, aus einer Beziehung auszubrechen. Die Unmöglichkeit, überhaupt eine Beziehung zu führen. Lebensmodelle, Wünsche, Begierden, Realität, alles ganz dicht beieinander, alles scheinbar greifbar und doch nicht zu haben. Die Liebe und die Verliebtheit als Krankheitszustand. Und das im Wortsinn: Renz startet eine Affäre mit einer Producerin vom Fernsehen, Marlies Mattrainer; wie sich herausstellen wird, Bühls erste und bis zu Vila auch einzige Frau von Bedeutung. Marlies ist schwerkrank, und während Vila sich in die Bühl’schen Komplikationen verstrickt, begleitet Renz Marlies in den Tod.
Vila und Renz sind gezwungen, sich konkret mit ihrem Verhältnis auseinanderzusetzen. Die Erkenntnis: Dass es überhaupt schon eine Leistung ist, nach so langer Zeit noch zusammen zu sein. „Sie ertrug mehr als er, weil sie ihn ertrug“, das ist einer der nur scheinbar so leicht hingeworfenen Sätze, die so viel sagen, oder: „Jetzt hängt sie an ihm, weil ihre Zeit in ihm steckt.“ „Alte Paare sind Archive“, heißt es einmal, „weh dem, der sie öffnet.“ Genau das tut Kirchhoff, und dem Ausufernden, Ungeordneten des Ehearchives unterwirft sich der Roman in seiner Form. Doch es gibt noch eine andere Schublade, die „Die Liebe in groben Zügen“ öffnet, und das ist das Thema des sexuellen Missbrauchs.
Im März 2010, im Zuge der Debatte um die Odenwaldschule, bekannte Bodo Kirchhoff, als Zwölfjähriger in dem Bodensee-Internat seiner Jugend missbraucht worden zu sein. Den Missbrauch überträgt Kirchhoff nun im Roman auf die Bühl-Figur (die Ursache für deren Beziehungsunfähigkeit). In diesen Tagen erscheint eine Neuauflage von Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesung „Legenden um den eigenen Körper“ aus dem Jahr 1994, die der Autor ganz aktuell mit einem fünften Kapitel, „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“, ergänzt hat. Es liest sich wie ein Begleitbuch zum Roman und offenbart den Missbrauch durch den schönen, attraktiven Musik- und Sportlehrer als zentralen Antrieb des Schreibens. Erst vor diesem Hintergrund erhalten der Begriff der Liebe in all seiner Ambivalenz und Kirchhoffs Sprache ihre volle Plausibilität. Sexualität als Schicksal: „Jedes Erzählen davon ist einerseits Teil des Verhängnisses und andererseits, in seinem Gelingen, eine Loslösung davon, ohne dass der Erzählende damit befreit wäre.“ Auch in dieser Hinsicht ist „Die Liebe in groben Zügen“ ein mutiges Buch, das an die Schmerzgrenze geht.
>> Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen
Frankfurter Verlagsanstalt, 28 Euro, Buchpremiere: Frankfurt, Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 12.9., 19.30 Uhr, Eintritt: 9,–/erm. 6,–
Eine Version dieses Artikels erschien im Journal Frankfurt vom 28. August 2012. Lesen Sie dort auch ein Porträt von Kirchhoffs Verleger Joachim Unseld, dessen Frankfurter Verlagsanstalt in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert.
Renz und Vila heißen die beiden Hauptfiguren, kennengelernt haben sie sich am Silvesterabend 1984 im Plus, nicht dem Supermarkt, sondern dem Café in Sachsenhausen. Das gab es damals noch. Alle elf Jahre, so scheint es, schreibt Bodo Kirchhoff einen großen Roman: „Infanta“ 1990, „Parlando“ 2001 und nun also „Die Liebe in groben Zügen“. Ein radikaler Roman, ein grandioser. Einige wenige Leben nur, die aber unter der Lupe. Vila und Renz, Verena Wieland und Bernhard Renz. Sie Anfang 50, er Mitte 60. Ein Paar seit knapp 30 Jahren. Sie moderiert eine kleine Sendung im Fernsehen; er schreibt Seriendrehbücher. Früher war er „der Kinomann vom Pflasterstrand“. Zwei öffentlich-rechtlich abgefederte Mitglieder der goldenen Mediengeneration. Die Sommer verbringt man in besagtem Haus am Gardasee. Erstmals holen Vila und Renz sich einen Wintermieter ins Seehaus: Bühl, gescheiterter Lehrer aus Frankfurt, der in Italien an einem Buch über Franz von Assisi arbeiten will. Zwischen Vila und Bühl, er zwölf Jahre jünger als sie, geschieht etwas, spielt sich etwas ab, zunächst im Zwischenbereich des Unmerklichen.
Doch als Vila nach Havanna reist, wo ihre und Renz’ gemeinsame Tochter plant, eine Abtreibung vorzunehmen, fliegt Bühl ihr nach. Und es beginnt etwas, was man Liebe nennen kann, in all ihren Unmöglichkeiten. Die prallen hart aufeinander: Die Unmöglichkeit, aus einer Beziehung auszubrechen. Die Unmöglichkeit, überhaupt eine Beziehung zu führen. Lebensmodelle, Wünsche, Begierden, Realität, alles ganz dicht beieinander, alles scheinbar greifbar und doch nicht zu haben. Die Liebe und die Verliebtheit als Krankheitszustand. Und das im Wortsinn: Renz startet eine Affäre mit einer Producerin vom Fernsehen, Marlies Mattrainer; wie sich herausstellen wird, Bühls erste und bis zu Vila auch einzige Frau von Bedeutung. Marlies ist schwerkrank, und während Vila sich in die Bühl’schen Komplikationen verstrickt, begleitet Renz Marlies in den Tod.
Vila und Renz sind gezwungen, sich konkret mit ihrem Verhältnis auseinanderzusetzen. Die Erkenntnis: Dass es überhaupt schon eine Leistung ist, nach so langer Zeit noch zusammen zu sein. „Sie ertrug mehr als er, weil sie ihn ertrug“, das ist einer der nur scheinbar so leicht hingeworfenen Sätze, die so viel sagen, oder: „Jetzt hängt sie an ihm, weil ihre Zeit in ihm steckt.“ „Alte Paare sind Archive“, heißt es einmal, „weh dem, der sie öffnet.“ Genau das tut Kirchhoff, und dem Ausufernden, Ungeordneten des Ehearchives unterwirft sich der Roman in seiner Form. Doch es gibt noch eine andere Schublade, die „Die Liebe in groben Zügen“ öffnet, und das ist das Thema des sexuellen Missbrauchs.
Im März 2010, im Zuge der Debatte um die Odenwaldschule, bekannte Bodo Kirchhoff, als Zwölfjähriger in dem Bodensee-Internat seiner Jugend missbraucht worden zu sein. Den Missbrauch überträgt Kirchhoff nun im Roman auf die Bühl-Figur (die Ursache für deren Beziehungsunfähigkeit). In diesen Tagen erscheint eine Neuauflage von Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesung „Legenden um den eigenen Körper“ aus dem Jahr 1994, die der Autor ganz aktuell mit einem fünften Kapitel, „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“, ergänzt hat. Es liest sich wie ein Begleitbuch zum Roman und offenbart den Missbrauch durch den schönen, attraktiven Musik- und Sportlehrer als zentralen Antrieb des Schreibens. Erst vor diesem Hintergrund erhalten der Begriff der Liebe in all seiner Ambivalenz und Kirchhoffs Sprache ihre volle Plausibilität. Sexualität als Schicksal: „Jedes Erzählen davon ist einerseits Teil des Verhängnisses und andererseits, in seinem Gelingen, eine Loslösung davon, ohne dass der Erzählende damit befreit wäre.“ Auch in dieser Hinsicht ist „Die Liebe in groben Zügen“ ein mutiges Buch, das an die Schmerzgrenze geht.
>> Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen
Frankfurter Verlagsanstalt, 28 Euro, Buchpremiere: Frankfurt, Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 12.9., 19.30 Uhr, Eintritt: 9,–/erm. 6,–
Eine Version dieses Artikels erschien im Journal Frankfurt vom 28. August 2012. Lesen Sie dort auch ein Porträt von Kirchhoffs Verleger Joachim Unseld, dessen Frankfurter Verlagsanstalt in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert.
31. August 2012, 11.16 Uhr
Christoph Schröder
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