Partner
Hélio Oiticica im MMK
Brasilianische Farben und Formen
Das Museum für Moderne Kunst zeigt eine umfangreiche Retrospektive des Künstlers Hélio Oiticica, der 1980 verstarb. Anlass für die Werkschau ist die Buchmesse, bei der dieses Jahr Brasilien Gastland ist.
Laut dem MMK ist es die bislang größte Retrospektive des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica (1937–1980) in Deutschland. Sie umfasst Arbeiten aus allen Werkphasen seines Schaffens.
„Während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn war Oiticica von einem ständigen Drang nach Erneuerung sowie Experiment erfüllt und war mit seinen Ansätzen der Zeit wie kaum ein anderer Künstler voraus: Die Begriffe ‚Partizipation’, ‚Environment’ und ‚Proposition’, die in Europa und Nordamerika den künstlerischen Diskurs erst Jahre später bestimmten, griff er bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf, was seinem Werk bis heute zentrale Bedeutung verleiht“, sagt Museumsdirektorin Susanne Gaensheimer.
Oiticica hinterließ umfangreiche Aufzeichnungen – Notizen, Essays, Briefe und Tonbandaufnahmen. Auf Grundlage dieser lassen sich Verbindungslinien von seinen künstlerischen Anfängen im Rio de Janeiro der 50er-Jahre bis in die europäische Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, in der sein Werk gedanklich verankert war und die sein Schaffen inspirierte. „Die aktive Einbindung und Beteiligung des Betrachters waren ein wesentliches Merkmal in seiner künstlerischen Arbeit. Zur gleichen Zeit wie Joseph Beuys in Deutschland strebte er danach, die traditionelle Vorstellung von einem Kunstwerk aufzubrechen und die Kunst für die Gesellschaft sowie die Gesellschaft für die Kunst zu öffnen“, so Kurator Peter Gorschlüter.
In den 50er-Jahren war es ein zentrales Anliegen von Oiticica, das Zusammenspiel von Farbe und Form zu erforschen. Getrieben von der Überzeugung, dass sich Farbe und Form von der Fläche befreien müssten, entwickelte der aus der Malerei kommende Künstler in Rio de Janeiro Ideen zu einer neo-konkreten Kunst. Diese sollte sich von den schematischen und in Oiticicas Augen festgefahrenen Formen der Abstraktion abwenden. Die Ausstellung im MMK zeichnet nach, wie Oiticica die Malerei im Laufe seines Schaffens sukzessive in den dreidimensionalen Raum überführte. Sein Werk reicht von frühen abstrakten Malereien über frei im Raum schwebende Reliefs, den „Relevos Espaciais“ und „Bilaterals“, bis hin zu labyrinthartigen Räumen. Als Konsequenz der Experimente mit Malerei im Raum entwickelte er die „Núcleos“ – freischwebende Skulpturen, in denen er die Beziehung von architektonischen Strukturen und Farbe untersuchte. Fast zeitgleich entstand sein erstes „Penetrável PN 1“ (vom Portugiesischen „penetrar“ für „durchdringen“), ein begehbarer Farb-Raum, in dem der Betrachter mittels Schiebetüren verschiedene Farb-Raum-Konstellationen bilden kann.
Diese Entwicklung ging einher mit Oiticicas Überlegungen zu einer veränderten Beziehung zwischen Werk und Betrachter. Er begann, den Betrachter als elementaren Teil der Kunsterfahrung in seine raumgreifenden Installationen zu integrieren. Das Eintauchen, Versinken, Aufgehen in Farbe, Raum, Zeit, Gesellschaft, Musik und Delirium wurden zentral in Oiticicas Schaffen. Es folgten die „Bólides“ (Feuerbälle), Objekte, die Farbe endgültig von ihrer repräsentativen und dienenden Funktion Bilder zu erschaffen, loslösen sollten. In der Ausstellung zu sehen sind Oiticicas „Bólides Vidro“, Glasgefäße, in denen neben dem haptisch-sinnlichen Moment des Eingreifens ins Material auch dessen visuelle Farbeigenschaft durch die Transparenz der Hülle zum Tragen kommt.
Noch einen Schritt weiter ging er 1964 mit seinen „Parangolés“– textilen Werken, die aus farbigen Stoffschichten bestehen und zum Überziehen und Agieren gedacht sind. Zu dieser Zeit interessierte sich Oiticica zunehmend für die organischen Strukturen der brasilianischen Favelas, die Straßenkultur ihrer Bewohner, den Samba sowie das Außenseiter-Dasein, was sein Werk grundlegend beeinflusste und ihn zu einem umfassenderen Verständnis der Einheit von Kunst und Leben führte. Sein bekanntestes Werk „Tropicália“, eine begehbare Installation aus Sand, Pflanzen, lebenden Papageien und zeltartigen Behausungen, ist inspiriert von den Favelas in Rio de Janeiro. Er propagierte damit ein offenes Verständnis brasilianischer Einflüsse in der Kultur und verschmolz diese mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Entwicklung der Kunst. Nach dieser Rauminstallation wurde in Brasilien eine der wichtigsten kulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts benannt, die neben der bildenden Kunst vor allem in der Musik ihren Niederschlag fand.
1970 zog Oiticica nach New York, wo er bis 1978 seinen Lebensmittelpunkt hatte. In New York entwickelte Oiticica das Konzept des »Quasi-Cinema«, wozu die 1973 zusammen mit dem Filmemacher Neville D’Almeida entwickelte Serie der „Cosmococa“ gehört. In diesen multisensorischen, psychedelischen Räumen – von denen einer im MMK zu sehen ist – verband Oiticica seine Ideen der „Penetráveis“ mit dem Einsatz von raumgreifenden Projektionen und Sound. In den projizierten Fotografien kombinierte er hoch- und popkulturelle Phänomene der Zeit, wie Alltagsgegenstände, Buchtitel, Platten- und Magazincover mit Porträts bekannter Popstars, deren Konturen von Kokain-Linien nachgezeichnet sind.
In New York traf Oiticica auf Jack Smith, Mario Montez und andere Protagonisten des New Yorker Underground-Films. Er selbst drehte mit Mario Montez „Agripina é Roma-Manhattan“ und arbeitete an weiteren unabgeschlossenen Experimentalfilmen. 1978 kehrte Oiticica nach Rio de Janeiro zurück. Seine künstlerische Produktion verlagerte sich neben Happenings zunehmend auf Pläne, Modelle und Instruktionen für zukünftig zu realisierende Werke. Oiticica konzipierte diese als offene Projekte, deren Umsetzung nicht an ihn selbst gebunden war. Damit brach er einmal mehr mit gängigen Konventionen des Kunstbetriebs und warf Fragen nach dem Begriff der Autorschaft und Originalität auf, die bis heute im Kontext der Gegenwartskunst diskutiert werden.
Ergänzt wird die Ausstellung im MMK um drei begehbare Außenarbeiten, die bis zum 27. Oktober 2013 im Palmengarten präsentiert werden und zur Interaktion einladen.
Oiticica hinterließ umfangreiche Aufzeichnungen – Notizen, Essays, Briefe und Tonbandaufnahmen. Auf Grundlage dieser lassen sich Verbindungslinien von seinen künstlerischen Anfängen im Rio de Janeiro der 50er-Jahre bis in die europäische Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, in der sein Werk gedanklich verankert war und die sein Schaffen inspirierte. „Die aktive Einbindung und Beteiligung des Betrachters waren ein wesentliches Merkmal in seiner künstlerischen Arbeit. Zur gleichen Zeit wie Joseph Beuys in Deutschland strebte er danach, die traditionelle Vorstellung von einem Kunstwerk aufzubrechen und die Kunst für die Gesellschaft sowie die Gesellschaft für die Kunst zu öffnen“, so Kurator Peter Gorschlüter.
In den 50er-Jahren war es ein zentrales Anliegen von Oiticica, das Zusammenspiel von Farbe und Form zu erforschen. Getrieben von der Überzeugung, dass sich Farbe und Form von der Fläche befreien müssten, entwickelte der aus der Malerei kommende Künstler in Rio de Janeiro Ideen zu einer neo-konkreten Kunst. Diese sollte sich von den schematischen und in Oiticicas Augen festgefahrenen Formen der Abstraktion abwenden. Die Ausstellung im MMK zeichnet nach, wie Oiticica die Malerei im Laufe seines Schaffens sukzessive in den dreidimensionalen Raum überführte. Sein Werk reicht von frühen abstrakten Malereien über frei im Raum schwebende Reliefs, den „Relevos Espaciais“ und „Bilaterals“, bis hin zu labyrinthartigen Räumen. Als Konsequenz der Experimente mit Malerei im Raum entwickelte er die „Núcleos“ – freischwebende Skulpturen, in denen er die Beziehung von architektonischen Strukturen und Farbe untersuchte. Fast zeitgleich entstand sein erstes „Penetrável PN 1“ (vom Portugiesischen „penetrar“ für „durchdringen“), ein begehbarer Farb-Raum, in dem der Betrachter mittels Schiebetüren verschiedene Farb-Raum-Konstellationen bilden kann.
Diese Entwicklung ging einher mit Oiticicas Überlegungen zu einer veränderten Beziehung zwischen Werk und Betrachter. Er begann, den Betrachter als elementaren Teil der Kunsterfahrung in seine raumgreifenden Installationen zu integrieren. Das Eintauchen, Versinken, Aufgehen in Farbe, Raum, Zeit, Gesellschaft, Musik und Delirium wurden zentral in Oiticicas Schaffen. Es folgten die „Bólides“ (Feuerbälle), Objekte, die Farbe endgültig von ihrer repräsentativen und dienenden Funktion Bilder zu erschaffen, loslösen sollten. In der Ausstellung zu sehen sind Oiticicas „Bólides Vidro“, Glasgefäße, in denen neben dem haptisch-sinnlichen Moment des Eingreifens ins Material auch dessen visuelle Farbeigenschaft durch die Transparenz der Hülle zum Tragen kommt.
Noch einen Schritt weiter ging er 1964 mit seinen „Parangolés“– textilen Werken, die aus farbigen Stoffschichten bestehen und zum Überziehen und Agieren gedacht sind. Zu dieser Zeit interessierte sich Oiticica zunehmend für die organischen Strukturen der brasilianischen Favelas, die Straßenkultur ihrer Bewohner, den Samba sowie das Außenseiter-Dasein, was sein Werk grundlegend beeinflusste und ihn zu einem umfassenderen Verständnis der Einheit von Kunst und Leben führte. Sein bekanntestes Werk „Tropicália“, eine begehbare Installation aus Sand, Pflanzen, lebenden Papageien und zeltartigen Behausungen, ist inspiriert von den Favelas in Rio de Janeiro. Er propagierte damit ein offenes Verständnis brasilianischer Einflüsse in der Kultur und verschmolz diese mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Entwicklung der Kunst. Nach dieser Rauminstallation wurde in Brasilien eine der wichtigsten kulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts benannt, die neben der bildenden Kunst vor allem in der Musik ihren Niederschlag fand.
1970 zog Oiticica nach New York, wo er bis 1978 seinen Lebensmittelpunkt hatte. In New York entwickelte Oiticica das Konzept des »Quasi-Cinema«, wozu die 1973 zusammen mit dem Filmemacher Neville D’Almeida entwickelte Serie der „Cosmococa“ gehört. In diesen multisensorischen, psychedelischen Räumen – von denen einer im MMK zu sehen ist – verband Oiticica seine Ideen der „Penetráveis“ mit dem Einsatz von raumgreifenden Projektionen und Sound. In den projizierten Fotografien kombinierte er hoch- und popkulturelle Phänomene der Zeit, wie Alltagsgegenstände, Buchtitel, Platten- und Magazincover mit Porträts bekannter Popstars, deren Konturen von Kokain-Linien nachgezeichnet sind.
In New York traf Oiticica auf Jack Smith, Mario Montez und andere Protagonisten des New Yorker Underground-Films. Er selbst drehte mit Mario Montez „Agripina é Roma-Manhattan“ und arbeitete an weiteren unabgeschlossenen Experimentalfilmen. 1978 kehrte Oiticica nach Rio de Janeiro zurück. Seine künstlerische Produktion verlagerte sich neben Happenings zunehmend auf Pläne, Modelle und Instruktionen für zukünftig zu realisierende Werke. Oiticica konzipierte diese als offene Projekte, deren Umsetzung nicht an ihn selbst gebunden war. Damit brach er einmal mehr mit gängigen Konventionen des Kunstbetriebs und warf Fragen nach dem Begriff der Autorschaft und Originalität auf, die bis heute im Kontext der Gegenwartskunst diskutiert werden.
Ergänzt wird die Ausstellung im MMK um drei begehbare Außenarbeiten, die bis zum 27. Oktober 2013 im Palmengarten präsentiert werden und zur Interaktion einladen.
Web: www.mmk-frankfurt.de
27. September 2013, 12.25 Uhr
Nils Bremer
Mehr Nachrichten aus dem Ressort Kultur
Sieben Vorführungen in Frankfurt
Italo-Französische Filmwoche
Auch in diesem November heißt es wieder: Frankreich gegen Italien. Die französische Filmwoche und Verso Sud buhlen erneut parallel um die Zuschauergunst als letzte Frankfurter Filmreihen in diesem Jahr.
Text: Gregor Ries / Foto: Der Porträtfilm „Ciao, Marcello - Mastroianni L'Antidivo” von Regisseur Fabrizio Corallo © DFF
KulturMeistgelesen
- Kunstausstellung in EschbornGesammelte Fotografien der Deutschen Börse
- Lilian Thuram in FrankfurtFranzösische Fußballlegende spricht über Rassismus
- Literatur in FrankfurtNeue Lesebühne im Café Mutz
- Filmfestival in WiesbadenExground Filmfest legt Fokus auf Flucht und Migration
- No Other LandEin Skandalfilm, der keiner sein will
23. November 2024
Journal Tagestipps
Freie Stellen