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Es leuchtet im Xmas-Kiez
Eine Weihnachtsgeschichte von Eva Demski
Das fette kleine Mädchen hält eine Tüte Spekulatius vom Schlecker in der Hand. Es nimmt einen Keks nach dem anderen raus, betrachtet ihn aufmerksam, beißt ihn an und schmeißt ihn dann weg. Ein Schäferhundmischling folgt ihr in einigem Abstand und freut sich. Eine Philosophin, denke ich. Und doch so hoffnungsvoll! Ein Plätzchen sieht aus wie das andere, schmeckt genauso wenig wie sein Vorgänger, und trotzdem: Nur die Hoffnung nicht aufgeben! Vielleicht wartet ja auf dem Grund der Tüte der einzig wahre, göttliche Keks.
Bei uns im Viertel ist rechts fein und links Hartz Vier. Das ist interessant, denn um die Welten zu wechseln, braucht man nur über die Straße zu gehen, so oder so. Es gibt auch Grenzbewohner. Rechts sind die Hunde kleiner als links. Links wohnen mehr Kinder, rechts mehr Greise. Da rattern die Baumscheren, Rasenmäher und Laubsauger, hier sind’s Motorräder und die Musik plärrt einen aus offenen Autofenstern an. Dafür drehen rechts die Fahrschulen ihre zaghaften Runden.
Es wird Weihnachten, das merkt man nicht nur am Spekulatius. Früher wurden die Besuche der linken Seite auf der rechten zahlreicher, so war es immer in den Wochen vor dem Fest. Und wie das kleine Mädchen, das unverdrossen ein fades Plätzchen nach dem anderen probiert, weil es einen Traum hat, machte sich die Welt von links der Straße auf den Weg hinüber auf die rechte Seite, weil sie etwas Besonderes erwartete. Pracht und Herrlichkeit zum Anschauen, wenigstens einmal im Jahr! Stattdessen sahen sie allweihnachtlich die gleichen trockenen Türkränze und um rundgeschnittene Bäumchen gewickelte Lichterketten vom Supermarkt. Das war kein Ersatz für die Amerikaner mit ihren leuchtenden Rentieren, den Balkonweihnachtsmännern und maßlosem Buntflimmer in allen Fenstern! Nach denen sehnten wir uns an Weihnachten nämlich alle zurück, links und rechts, eine klassenlose Sehnsucht. Sie waren ja längst verschwunden und schmückten wieder ihre Vereinigten Staaten, während wir Zurückgelassenen unter Dezenz und sogenanntem gutem Geschmack leiden mußten, fade wie Spekulatius.
Aber seit ein paar Jahren gibt es einen Retter. Er ließe selbst den amerikanischen Weihnachtsglanz, wenn es ihn noch gäbe, verblassen. Ganz zu schweigen von den vornehm tuenden Schwach-glitzerern auf der rechten Seite. Links hatte man sich in den amerikanerlosen Jahren schon ein wenig zu helfen gewußt, aber vieles wirkte ungelenk: Zum Beispiel sahen die fassadenerklimmenden Nikoläuse wie Erhängte aus, die Leuchträder drehten sich nicht, und Rudi das Rentier erinnerte in seinen Kiezvarianten eher an übergewichtige Sofahirsche. Es fehlte die amerikanische Lust an der Prächtigkeit, vielleicht waren auch die Sicherungen zu schwach – aber jetzt ist ja er da, der Lichtbringer in dunkler Zeit. Sogar Leute aus Berlin haben wir da schon hingeführt, damit sie sehen, was wahrer Reichtum zustandezubringen weiß!
Es ist nicht einmal ein Eckhaus und steht in einem wohlhabend aussehenden Sträßlein. So viel kann man verraten. Seit die ersten Auffahrunfälle und Kinderwagenkarambolagen zu beklagen sind, haben wir hier im Kiez unsere Informationspolitik geändert. Wenn erst einmal die Asiaten von dem Haus erfahren, ist sowieso alles zu spät. Aus der Luft ist es leicht zu erkennen, man hört das weihnachtliche Geknatter der Hubschrauber. Es heißt, Fluglotsen hätten schon eigenmächtige Routenänderungen zu beklagen.
Wer in dem Haus wohnt, weiß man so wenig, wie seinerzeit die um Neuschwanstein herumstaunenden Bauern gewußt hätten, wie dessen Bewohner aussieht. Der hat da ja nie gewohnt, vielleicht wohnt in dem weihnachtswahnsinnigen Zauberhaus auch keiner, wenn man’s recht bedenkt: Er könnte bei der Helligkeit ja gar nicht schlafen! Aber das ist eigentlich nicht wichtig, und wir bleiben stehen und sperren Mund und Nase auf. (Musik und Proviant allerdings sind mitzubringen) Das ganze, nicht eben kleine Haus, auf dessen First ganzjährig eine Art Leopard kauert, ist in Licht eingewickelt, und da Stillstand Rückschritt bedeutet, kommt jedes Jahr was dazu. Figuren glitzern ums Dach herum, eine Art Leuchtcomic, und die Farben! Natürlich kommen auch importierte Santacläuse zu ihrem Recht, Rudi Rednose allenthalben, und er sieht sich ähnlich, aber das Figürliche (wie es in der Kunst ja sein soll) spielt eine Nebenrolle. Es geht ums Licht, nur ums Licht. Ein beliebtes Spiel, ja ein Muß im Kiez ist es, das Spektakel bei allen vorkommenden Wetterverhältnissen zu betrachten: Nebel? Da kriegt es was Tragisches! Schnee? Wahrhaftig vor Schönheit kaum auszuhalten, ist aber sehr selten. Regen läßt das Surreale in den Vordergrund treten, Realisten hingegen warten auf Kurzschluss oder Netzzusammenbruch. Seltsamerweise ist es niemandem, den ich kenne, je gelungen, die Entstehung dieser allweihnachtlichen Lichtwerdung zu beobachten. Dabei muß es doch dauern, bis an Haus, Bäumen Balkonen und Büschen die Milliarden Lämpchen aufgefädelt sind! (Wenn ich überlege, wie lange ich zur Entwirrung einer einzigen Lichterkette brauche, um nach getaner Arbeit festzustellen, daß sie nicht funktioniert!)
An Weihnachten will jedermann gut sein. Und es gut haben. Auf jeden Fall beides zusammen, was sich seit Menschengedenken als sehr anstrengend herausgestellt hat. Deswegen geht so viel schief. Dazu kommt der ganze Kram, der alljährlich aus dem Keller geholt wird und irgendwo drangehängt wird. Das sind nicht nur angedetschte Kugeln und verbeulte Kerzenhalter, sondern auch Wörter, zum Beispiel: die Kassen, die süßer nicht klingeln. Wir lesen das seit Menschengedenken, zwei Generationen mindestens haben schon keine Kasse mehr klingeln gehört. Es ist einer von den Sätzen, die mitsamt dem maroden Rauschgoldengel in einer alten Schachtel aufs Fest gewartet haben. Aber wer wäre so mutig, von den Scannern, die süßer nie fiepen, zu schreiben? Und der Lebkuchen-und Glühweinduft! Glühwein stinkt, und Lebkuchen riechen nach gar nichts. Sie haben ja immer solche Lebkuchenpariser um sich herum.
Aber Weihnachten scheint ohne den maroden Wörterplunder so wenig zu funktionieren wie ohne Vergangenheitsverklärung, gottseidank hat’s jetzt biologisch bedingt mit den Geschichten von den Kriegsweihnachtsfesten ein Ende, die eine ganze Kindergeneration einen dritten Weltkrieg hat herbeiwünschen lassen, weil’s ja im zweiten offenbar so schöne Weihnachten gab. Von dem waren letztendlich die schmerzlich vermißten Amerikaner übriggeblieben, aber das ist jetzt eine andere Geschichte.
Unser Haus steht da und funkelt ganz voraussetzungslos vor sich hin, ein Wunder der Moderne, eine reine Existenz aus Licht und Überwindung ästhetischer und technischer Gesetze. Die Pilger von der linken Seite vermischen sich mit den Anwohnern von rechts, die ihre schmächtigen Bemühungen, ihre Häuser weihnachtlich herzurichten, angesichts dieses Triumphs gänzlich eingestellt haben. Eine heilige Dunkelheit ist um das strahlende Haus, Schatten schleichen herbei, der Leopard auf dem Dach beobachtet sie. Auch der Garten funkelt, man sieht es durch die dichten Büsche, blau, wie Laurins Höhle.
Das Tor war immer geschlossen gewesen, nicht unfreundlich, üppige Lichtgirlanden waren drübergeworfen, aber es sagte doch deutlich: Es gibt ein Innen, und das zu sehen steht Euch nicht zu. Bis gestern. Gestern in der Dämmerung hatten wir, Linkswohner und Rechtswohner und auch die Grenzsiedler, uns wieder auf den Weg gemacht, um es anzuschauen, das Haus. Jeder hat übrigens seine bevorzugte Route, es gibt mehrere Möglichkeiten, des Lichthauses ansichtig zu werden. Manche wollen es lang aus der Ferne heranflimmern sehen, andere, wie ich, bevorzugen den Schock, den Glanz-Überfall gewissermaßen. Auch Hunde reagieren übrigens unterschiedlich, manch friedlicher Gassigeher kann nicht aufhören zu heulen, wenn er das Haus sieht, andere bleiben bocksteif stehen und wollen nicht vorbei.
Gestern stand das Tor weit offen und bot einen überirdisch strahlenden Innenhof dar. Das erschreckte uns Schatten zunächst, man blieb, wo man war, in größerer Entfernung als sonst stehen. Es ist nicht üblich, sich miteinander zu unterhalten. Selten bietet einem einer der Bewunderer einen Keks oder eine Zigarette an, das geschieht stumm, mit einem so ernsten Gesicht, als sei man auf der documenta und wisse nicht, wie man angemessen auf ein Werk reagieren soll.
Also: Das Tor stand offen. Leuchtende Gestalten im Innenhof, Weihnachtspersonal in Überlebensgröße, zwischen denen lautlos Kellner mit Tabletts umhergingen. Den Boden bedeckte dicker Schnee,ob er aus Schnee oder aus Styropor war, konnte man nicht erkennen. Im Hintergrund sah man eine blau leuchtende Bar. Licht hing in dicken Trauben an unsichtbaren Schnüren. Der Leopard lauerte wie immer auf dem Dach. Schweigend standen die von links und rechts im Kiez und trauten sich nicht näher heran. Das offene Tor hielt uns ab. Genauer gesagt machte es uns Angst. Diese Art Leben kannten wir nicht, höchstens aus Büchern. Es war nicht unseres. Nur die Kinder zerrten so heftig dort hin wie die Hunde wegzerrten.
Ich bin dann früher heimgegangen als sonst, habe nicht einmal mehr die völlige Dunkelheit, die stärkste Intensität des Strahlens abgewartet. Das geöffnete Tor ärgerte mich, aber ich wußte nicht, warum.
Heute werde ich nicht hingehen, werde erst jemanden hinschicken, der mir sagt, ob das Tor wieder geschlossen ist. Ich will gar nicht auf den Gedanken kommen, daß man so etwas einfach machen kann, wenn es einem paßt, so ein Leuchtwerk. Lieber soll’s am ersten Advent vom Himmel stürzen und an Dreikönig wieder hinaufgezogen werden, das ist mir lieber.
Ich sehe auf der linken Straßenseite das fette kleine Mädchen einherspazieren, sie hat wieder eine Tüte in der Hand, und die Promenadenmischung geht diesmal neben ihr. Sie teilen sich Mohrenköpfe, und so sehen sie auch aus, mit weißem Schaum bedeckt wie mit Schnee.
Erschienen im Journal Frankfurt, Dezember 2006; Illustrationen: Stephan Rürup
Das fette kleine Mädchen hält eine Tüte Spekulatius vom Schlecker in der Hand. Es nimmt einen Keks nach dem anderen raus, betrachtet ihn aufmerksam, beißt ihn an und schmeißt ihn dann weg. Ein Schäferhundmischling folgt ihr in einigem Abstand und freut sich. Eine Philosophin, denke ich. Und doch so hoffnungsvoll! Ein Plätzchen sieht aus wie das andere, schmeckt genauso wenig wie sein Vorgänger, und trotzdem: Nur die Hoffnung nicht aufgeben! Vielleicht wartet ja auf dem Grund der Tüte der einzig wahre, göttliche Keks.
Bei uns im Viertel ist rechts fein und links Hartz Vier. Das ist interessant, denn um die Welten zu wechseln, braucht man nur über die Straße zu gehen, so oder so. Es gibt auch Grenzbewohner. Rechts sind die Hunde kleiner als links. Links wohnen mehr Kinder, rechts mehr Greise. Da rattern die Baumscheren, Rasenmäher und Laubsauger, hier sind’s Motorräder und die Musik plärrt einen aus offenen Autofenstern an. Dafür drehen rechts die Fahrschulen ihre zaghaften Runden.
Es wird Weihnachten, das merkt man nicht nur am Spekulatius. Früher wurden die Besuche der linken Seite auf der rechten zahlreicher, so war es immer in den Wochen vor dem Fest. Und wie das kleine Mädchen, das unverdrossen ein fades Plätzchen nach dem anderen probiert, weil es einen Traum hat, machte sich die Welt von links der Straße auf den Weg hinüber auf die rechte Seite, weil sie etwas Besonderes erwartete. Pracht und Herrlichkeit zum Anschauen, wenigstens einmal im Jahr! Stattdessen sahen sie allweihnachtlich die gleichen trockenen Türkränze und um rundgeschnittene Bäumchen gewickelte Lichterketten vom Supermarkt. Das war kein Ersatz für die Amerikaner mit ihren leuchtenden Rentieren, den Balkonweihnachtsmännern und maßlosem Buntflimmer in allen Fenstern! Nach denen sehnten wir uns an Weihnachten nämlich alle zurück, links und rechts, eine klassenlose Sehnsucht. Sie waren ja längst verschwunden und schmückten wieder ihre Vereinigten Staaten, während wir Zurückgelassenen unter Dezenz und sogenanntem gutem Geschmack leiden mußten, fade wie Spekulatius.
Aber seit ein paar Jahren gibt es einen Retter. Er ließe selbst den amerikanischen Weihnachtsglanz, wenn es ihn noch gäbe, verblassen. Ganz zu schweigen von den vornehm tuenden Schwach-glitzerern auf der rechten Seite. Links hatte man sich in den amerikanerlosen Jahren schon ein wenig zu helfen gewußt, aber vieles wirkte ungelenk: Zum Beispiel sahen die fassadenerklimmenden Nikoläuse wie Erhängte aus, die Leuchträder drehten sich nicht, und Rudi das Rentier erinnerte in seinen Kiezvarianten eher an übergewichtige Sofahirsche. Es fehlte die amerikanische Lust an der Prächtigkeit, vielleicht waren auch die Sicherungen zu schwach – aber jetzt ist ja er da, der Lichtbringer in dunkler Zeit. Sogar Leute aus Berlin haben wir da schon hingeführt, damit sie sehen, was wahrer Reichtum zustandezubringen weiß!
Es ist nicht einmal ein Eckhaus und steht in einem wohlhabend aussehenden Sträßlein. So viel kann man verraten. Seit die ersten Auffahrunfälle und Kinderwagenkarambolagen zu beklagen sind, haben wir hier im Kiez unsere Informationspolitik geändert. Wenn erst einmal die Asiaten von dem Haus erfahren, ist sowieso alles zu spät. Aus der Luft ist es leicht zu erkennen, man hört das weihnachtliche Geknatter der Hubschrauber. Es heißt, Fluglotsen hätten schon eigenmächtige Routenänderungen zu beklagen.
Wer in dem Haus wohnt, weiß man so wenig, wie seinerzeit die um Neuschwanstein herumstaunenden Bauern gewußt hätten, wie dessen Bewohner aussieht. Der hat da ja nie gewohnt, vielleicht wohnt in dem weihnachtswahnsinnigen Zauberhaus auch keiner, wenn man’s recht bedenkt: Er könnte bei der Helligkeit ja gar nicht schlafen! Aber das ist eigentlich nicht wichtig, und wir bleiben stehen und sperren Mund und Nase auf. (Musik und Proviant allerdings sind mitzubringen) Das ganze, nicht eben kleine Haus, auf dessen First ganzjährig eine Art Leopard kauert, ist in Licht eingewickelt, und da Stillstand Rückschritt bedeutet, kommt jedes Jahr was dazu. Figuren glitzern ums Dach herum, eine Art Leuchtcomic, und die Farben! Natürlich kommen auch importierte Santacläuse zu ihrem Recht, Rudi Rednose allenthalben, und er sieht sich ähnlich, aber das Figürliche (wie es in der Kunst ja sein soll) spielt eine Nebenrolle. Es geht ums Licht, nur ums Licht. Ein beliebtes Spiel, ja ein Muß im Kiez ist es, das Spektakel bei allen vorkommenden Wetterverhältnissen zu betrachten: Nebel? Da kriegt es was Tragisches! Schnee? Wahrhaftig vor Schönheit kaum auszuhalten, ist aber sehr selten. Regen läßt das Surreale in den Vordergrund treten, Realisten hingegen warten auf Kurzschluss oder Netzzusammenbruch. Seltsamerweise ist es niemandem, den ich kenne, je gelungen, die Entstehung dieser allweihnachtlichen Lichtwerdung zu beobachten. Dabei muß es doch dauern, bis an Haus, Bäumen Balkonen und Büschen die Milliarden Lämpchen aufgefädelt sind! (Wenn ich überlege, wie lange ich zur Entwirrung einer einzigen Lichterkette brauche, um nach getaner Arbeit festzustellen, daß sie nicht funktioniert!)
An Weihnachten will jedermann gut sein. Und es gut haben. Auf jeden Fall beides zusammen, was sich seit Menschengedenken als sehr anstrengend herausgestellt hat. Deswegen geht so viel schief. Dazu kommt der ganze Kram, der alljährlich aus dem Keller geholt wird und irgendwo drangehängt wird. Das sind nicht nur angedetschte Kugeln und verbeulte Kerzenhalter, sondern auch Wörter, zum Beispiel: die Kassen, die süßer nicht klingeln. Wir lesen das seit Menschengedenken, zwei Generationen mindestens haben schon keine Kasse mehr klingeln gehört. Es ist einer von den Sätzen, die mitsamt dem maroden Rauschgoldengel in einer alten Schachtel aufs Fest gewartet haben. Aber wer wäre so mutig, von den Scannern, die süßer nie fiepen, zu schreiben? Und der Lebkuchen-und Glühweinduft! Glühwein stinkt, und Lebkuchen riechen nach gar nichts. Sie haben ja immer solche Lebkuchenpariser um sich herum.
Aber Weihnachten scheint ohne den maroden Wörterplunder so wenig zu funktionieren wie ohne Vergangenheitsverklärung, gottseidank hat’s jetzt biologisch bedingt mit den Geschichten von den Kriegsweihnachtsfesten ein Ende, die eine ganze Kindergeneration einen dritten Weltkrieg hat herbeiwünschen lassen, weil’s ja im zweiten offenbar so schöne Weihnachten gab. Von dem waren letztendlich die schmerzlich vermißten Amerikaner übriggeblieben, aber das ist jetzt eine andere Geschichte.
Unser Haus steht da und funkelt ganz voraussetzungslos vor sich hin, ein Wunder der Moderne, eine reine Existenz aus Licht und Überwindung ästhetischer und technischer Gesetze. Die Pilger von der linken Seite vermischen sich mit den Anwohnern von rechts, die ihre schmächtigen Bemühungen, ihre Häuser weihnachtlich herzurichten, angesichts dieses Triumphs gänzlich eingestellt haben. Eine heilige Dunkelheit ist um das strahlende Haus, Schatten schleichen herbei, der Leopard auf dem Dach beobachtet sie. Auch der Garten funkelt, man sieht es durch die dichten Büsche, blau, wie Laurins Höhle.
Das Tor war immer geschlossen gewesen, nicht unfreundlich, üppige Lichtgirlanden waren drübergeworfen, aber es sagte doch deutlich: Es gibt ein Innen, und das zu sehen steht Euch nicht zu. Bis gestern. Gestern in der Dämmerung hatten wir, Linkswohner und Rechtswohner und auch die Grenzsiedler, uns wieder auf den Weg gemacht, um es anzuschauen, das Haus. Jeder hat übrigens seine bevorzugte Route, es gibt mehrere Möglichkeiten, des Lichthauses ansichtig zu werden. Manche wollen es lang aus der Ferne heranflimmern sehen, andere, wie ich, bevorzugen den Schock, den Glanz-Überfall gewissermaßen. Auch Hunde reagieren übrigens unterschiedlich, manch friedlicher Gassigeher kann nicht aufhören zu heulen, wenn er das Haus sieht, andere bleiben bocksteif stehen und wollen nicht vorbei.
Gestern stand das Tor weit offen und bot einen überirdisch strahlenden Innenhof dar. Das erschreckte uns Schatten zunächst, man blieb, wo man war, in größerer Entfernung als sonst stehen. Es ist nicht üblich, sich miteinander zu unterhalten. Selten bietet einem einer der Bewunderer einen Keks oder eine Zigarette an, das geschieht stumm, mit einem so ernsten Gesicht, als sei man auf der documenta und wisse nicht, wie man angemessen auf ein Werk reagieren soll.
Also: Das Tor stand offen. Leuchtende Gestalten im Innenhof, Weihnachtspersonal in Überlebensgröße, zwischen denen lautlos Kellner mit Tabletts umhergingen. Den Boden bedeckte dicker Schnee,ob er aus Schnee oder aus Styropor war, konnte man nicht erkennen. Im Hintergrund sah man eine blau leuchtende Bar. Licht hing in dicken Trauben an unsichtbaren Schnüren. Der Leopard lauerte wie immer auf dem Dach. Schweigend standen die von links und rechts im Kiez und trauten sich nicht näher heran. Das offene Tor hielt uns ab. Genauer gesagt machte es uns Angst. Diese Art Leben kannten wir nicht, höchstens aus Büchern. Es war nicht unseres. Nur die Kinder zerrten so heftig dort hin wie die Hunde wegzerrten.
Ich bin dann früher heimgegangen als sonst, habe nicht einmal mehr die völlige Dunkelheit, die stärkste Intensität des Strahlens abgewartet. Das geöffnete Tor ärgerte mich, aber ich wußte nicht, warum.
Heute werde ich nicht hingehen, werde erst jemanden hinschicken, der mir sagt, ob das Tor wieder geschlossen ist. Ich will gar nicht auf den Gedanken kommen, daß man so etwas einfach machen kann, wenn es einem paßt, so ein Leuchtwerk. Lieber soll’s am ersten Advent vom Himmel stürzen und an Dreikönig wieder hinaufgezogen werden, das ist mir lieber.
Ich sehe auf der linken Straßenseite das fette kleine Mädchen einherspazieren, sie hat wieder eine Tüte in der Hand, und die Promenadenmischung geht diesmal neben ihr. Sie teilen sich Mohrenköpfe, und so sehen sie auch aus, mit weißem Schaum bedeckt wie mit Schnee.
Erschienen im Journal Frankfurt, Dezember 2006; Illustrationen: Stephan Rürup
25. Dezember 2008, 10.00 Uhr
Redaktion
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