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"Du hast keine Chance, also nutze sie"



Til Schulz wohnt noch immer in der Eppsteiner Straße 47, einem Haus, welches er 1970 mit einigen Mitstreitern besetzte. Im Interview mit dem Journal Frankfurt spricht er über die wilden Anfangsjahre, das Westend als Wohngebiet und die Wege der Protestbewegung.

Journal Frankfurt: Herr Dr. Schulz, 1970 wurde dieses Haus besetzt ...

Til Schulz: Ja. Vorher gab es schon einen bürgerlichen Widerstand in der Aktionsgemeinschaft Westend, der aber offensichtlich hilflos war und keine Zeichen setzte. Nach unserer Besetzung, die die erste im Westend war, wurde die Problematik bundesweit bekannt. Es folgten noch zwei weitere Besetzungen in der Liebigstraße und der Corneliusstraße, aber danach waren anderthalb Jahre Ruhe. In dieser Zeit hat die Stadt den Bebauungsplan geändert, an den sie sich später im Übrigen nie gehalten hat, und wollte den Protest ersticken, in dem sie das Haus einer Stiftung für soziales Wohnen übereignet hat.

Das Haus gehörte vorher jedoch einem Spekulanten.

Genau. Der bekam von der Stadt einen sogenannten Bauvorteil für die Aufgabe dieses Hauses, er durfte auf der Mainzer Landstraße ein Hochhaus errichten. Das war schon im Februar 1971.

Zu Beginn der Besetzung mussten Sie mit einigen Widrigkeiten kämpfen, so etwa einer abgestellten Heizung.

Abgestellt, aber nicht defekt. Das Haus wurde ja gerade deswegen besetzt, weil es noch leidlich funktionsfähig war. Die Heizung war im Originalzustand von 1907, Sie können sich das vorstellen, aber sie funktionierte. Einige Wohnungen waren noch belegt und mit Strom und Wasser versorgt, das ging also auch für die dann besetzten Wohnungen. Ein völlig ruiniertes Haus hätte nicht besetzt werden können, das traf auch auf die späteren Hausbesetzungen zu. Oft haben die Spekulanten gleich nach Auszug der regulären Mieter die ganzen Wasserleitungen und sanitären Anlagen zerstört.

Wer traf damals die Entscheidung, dieses Haus hier zu besetzen?

Das war ein gemeinsamer Prozess von Leuten, die sich bereits im Sommer zuvor getroffen hatten. Ziemlich versprengt und aus verschiedenen sozialen Schichten.

Nicht nur Studenten ...

Die waren eher nur eine stabile Minderheit. Sieben Wohnungen waren mit ausländischen und deutschen Arbeitern und deren Familien besetzt, drei mit Studenten.

Dachten Sie damals, dass sie so lange hier wohnen bleiben würden?

Ich persönlich habe das sehr pessimistisch eingeschätzt. Wir wohnten ja schließlich legal, aber nach den damaligen Gesetzen hätte man uns recht schnell rausklagen können. Diese Angst blieb auch noch in den 70er-Jahren.

Woher kam diese Befürchtung, dass dieses Haus weiterhin Spekulationsobjekt sei?

Vor allem weil sich die Stadt an ihre Versprechungen und an ihre Baupläne nicht gehalten hat. Eine besonders geringe Rolle spielte dabei der Denkmalschutz. Das ist bis heute zu beobachten, denn die Fassaden der alten Häuser sind geschützt, dennoch ist dies gegenüber wirtschaftlichen Gesichtspunkten drittrangig. Man muss sich nur einmal den Streit um die Großmarkthalle anschauen.

Wie hat sich das in den 70er-Jahren weiterentwickelt?

Das bekam rasch eine ganz andere Qualität. Im Herbst 1971 haben Gruppen des damaligen sogenannten Revolutionären Kampfes, dem ja etliche Prominente entsprossen sind, versucht das Haus im Grüneburgweg 135 zu besetzen. Da kam sehr schnell die Polizei und es entwickelte sich eine Straßenschlacht, wobei das wie damals üblich eher eine Schlacht der Polizei gegen die Besetzer war. Das äußerste was die machten, war Kastanien zu werfen. Steine gab es nicht.

Waren Sie dabei?

Ich stand dabei rum, protestierte, doch so aktiv war ich nicht. Ich wusste, wenn ich etwas werfe, dann treffe ich eher die eigenen Leute.

Im RK des Joschka Fischers waren Sie demnach auch nicht aktiv?

Ich hatte früher zusammen mit Joschka gewohnt, aber danach hatten wir keinerlei Verbindung mehr. Er hatte mich noch versucht zu überzeugen, in den RK einzutreten, aber ich entgegnete, dass wir selber doch diskutiert hatten, das mit dem hiesigen Proletariat keine Revolution zu machen ist. Da hat er drauf geantwortet, es wird alles nicht so heiß gegessen wie's gekocht wird. Naja, seitdem hab ich ihn eigentlich nur sporadisch gesehen. Im Zusammenhang mit den ersten Hausbesetzungen stand er überhaupt nicht. Auch nicht Dany und andere Leute.

Was ist mit Hans-Joachim Klein?

Klein habe ich erst in der Roten Hilfe, so ein, zwei Jahre nach der Besetzung kennengelernt. Der ist hier häufig freundschaftlich verkehrt. Der hat zwar radikale Sprüche von sich gelassen, aber das haben damals ungefähr alle gemacht, so dass er nicht besonders aufgefallen ist, und wir waren alle schwer schockiert, als er an der Opec-Sache teilnahm. Zusammen mit einigen anderen habe ich dann die Rote Hilfe aufgelöst, weil wir nicht das Rekrutierungsfeld für die RAF sein.

Aber abzusehen war es nicht?

Leute, die von Bomben sprachen und davon, dass man die Bullen erschießen müsste, die gab es massenhaft, die traf man an jeder Ecke. Typen, die bei Demonstrationen, die wildesten Sprüche von sich gaben. Einige Jahre später waren die brave Lehrer, Rechtsanwälte oder sonst irgendwas. Radikales Reden war kein Anzeichen dafür, auch zur Tat zu schreiten.

Wie sieht Ihr persönlicher Lebensweg aus?

Ich habe damals ziemlich lange in der Studentenzeit bei diskus gearbeitet, da war ich bis 1979 Herausgeber. Währenddessen war ich freier Mitarbeiter beim Funk, davon habe ich mich ernährt. Dadurch hat sich natürlich mein Studium unangemessen verlängert, so dass ich erst nach einem Promotionsstipendium 1978/79 meine Promotion zu Ende schreiben konnte. Danach war ich als freier Funkautor tätig, aber auch in politischen Zusammenhängen mit der SPD. Hab viel für die Neue Gesellschaft geschrieben, dann sehr eng in den Wahlinitiativen mit Volker Hauff zusammengearbeitet. Als er Bürgermeister war habe ich dann auch manche seiner Reden vorentworfen.

Das mit der SPD interessiert mich, die wird ja aus historischer Sicht als die Partei beschrieben, die den Niedergang des Westends eingeleitet hat ...

Man muss da zwischen der Frankfurter Partei und seinen Untergliederungen unterscheiden. Der Ortsverein Westend war immer auf der Seite des Viertels, also auch der Hausbesetzungen. Am ersten oder zweiten Tag nach der Besetzung erschien hier Karsten Voigt, der war damals Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, und bekundete seine Solidarität und sagte, wir bleiben in Verbindung.

Trotz allem: wie hat sich diese Parteimitgliedschaft mit der Zerstörung des Viertels vertragen?

Die Untergliederung hat immer gegen diese Entwicklung des SPD- wie des CDU-Magistrats gekämpft. Dabei ist sie leider in der Minderheit geblieben, so dass die Zerstörung des Westends zwar aufgehalten, aber nicht wesentlich beeinflusst werden konnte.

Es ist ja erstaunlich, dass einige dieser Häuser wie etwa jenes in der Siesmayerstraße 6 jetzt wieder den Banken gehören, die sich auch damit schmücken und ihre höchsten Mitarbeiter dort unterbringen.

Es ist eine objektive Ironie, das vielleicht auch durch die Hausbesetzungen die Aufmerksamkeit auf die Schönheit und die Bequemlichkeit dieser alten Wohnungen im Westend gelegt wurde. Früher gab es eine Mischbevölkerung, heute sind wir schon fast Außenseiter.

Es ist ein Finanzdistrikt geworden.

Nicht nur. Es gibt sehr viele Anwälte, sehr viele Ärzte, sehr viele Friseursalons, gehobene Restaurants, wenig einfache Restaurants. Die Infrastruktur ist kaputt, es gibt nur das übliche Supermarktangebot, also gehe ich, wenn ich vernünftig einkaufen will, nach Bockenheim. Wir sind nicht abgeschnitten.

War diese Entwicklung schon in den 70er-Jahren abzusehen?

Ja, anhand der Bebauungspläne, die dann dahingehend geändert wurden, dass nur noch Hochhäuser an den großen Verkehrsadern entstehen sollten. Das ist durchbrochen worden, weil der Denkmalschutz, wie gesagt, keine große Rolle spielte. Die Mischbevölkerung wurde praktisch vertrieben von den begüterten Schichten.

Lässt sich das noch umdrehen?

Die alten Häuser sind nun mal kaputt und an vielen Ecken stehen große Bank-Paläste wie vorne an der Ecke die KfW, die momentan ja rühmlich in den Schlagzeilen steht. Auch viele ausländische Banken haben die Tendenz, sich hier zumindest mit einer Dependance niederzulassen. Da sind die sonderbarsten Institute darunter: Bank of China, Aserbaidschan und weiß der Teufel.

Denen ist die Adresse wichtig?

Ja, Freiherr-vom-Stein-Straße, Bockenheimer Landstraße - das ist so die Wall Street von Deutschland.

Einige von denen sind ja auch in alten Villen ansässig. Ein trauriges Kapitel hingegen ist die KfW, wo vorher ein wunderschöner Villenblock stand ...

Ja, der war wirklich wundervoll und erhaltenswert. Da ging es aber um eine politische Machtprobe, in der der Häuserkampf schließlich untergegangen ist. Es gab nach dem Abriss noch einige machtvolle Demonstrationen mit Straßenschlachten und allem Möglichen. Aber gegen die Brutalität des Abrisses konnte man nichts mehr machen. Dies, im Frühjahr 1974, war die letzte Welle von 1968. Die Leute, die nachgedacht haben und nicht in den K-Gruppen organisiert waren, haben sich neu zusammengeschlossen, etwa zu den Grünen, wo dann ja Joschka, Tom Koenigs und Dany untergekommen sind.

Und ihren Aufstieg begonnen haben ...

Das ist Ihre Äußerung.

Johnny Klinke hält sich ja gern zu Gute, dass er trotz seiner Biografie weder Lehrer noch Grüner geworden ist.

Ich bin nie aus der SPD ausgetreten, seit ich 1965 eintrat. Nicht mal rausgeschmissen worden. Wolfgang Abendroth, der ja ein dezidierter Linker war, hat gesagt: "Aus der SPD tritt man nicht aus, da wird man höchstens ausgeschlossen."

Warum sind Sie damals eingetreten?

Das war schon fast ein Akt der Radikalität, nur drei vor 1968. Das war die einzige sichtbare, linke Kraft, von der auch nur irgendeine, wenn auch nur geringe Perspektive ausging. Sonst gab's nur die DFU und die verbotene KPD, die erst in den 70ern neugegründet wurde. Wenn ich also politisch legal tätig werden wollte, dann nur in der SPD.

Außerparlamentarisch war für Sie keine Option?

Na, neben der DFU gab's nur die Ostermarschbewegung, sicher ehrenwert dort zu sein, doch völlig wirkungslos.

Kommen wir zum Schluss noch einmal zum Westend. Warum spielt das Viertel heute gerade im Vergleich zu den 50er- und 60er-Jahren kaum noch eine Rolle in der Stadtgesellschaft?

Die Bevölkerungszusammensetzung ist ein völlig andere als 1970. Das Kleinbürgertum und der bürgerliche Mittelstand ist vertrieben worden, der gehobene Mittelstand hat sich mit großem Vergnügen von den Banken auskaufen lassen. Diese Umschichtung hat der politischen Betätigung im Sinne einer Verteidigung des alten Stadttteils den Resonanzboden entgezogen.

Die Aktionsgemeinschaft Westend gibt es nach wie vor ...

Wie ich glaube mittlerweile ein recht kleiner Verein für alte Leute. Ich bin ja schon alt. Die sind älter.

Da kommt nichts mehr nach?

Mit Prognosen wäre ich vorsichtig. Anfang der 60er-Jahre hat Herr von Friedeburg noch in einer empirischen, soziologischen Untersuchung festgestellt, dass die westdeutschen Jugendlichen und im Besonderen die Studenten im Wesentlichen apolitisch seien. Und zwei Jahre später haben sich dann alle gewundert. Es wäre sicher wünschenswert, wenn sich ein neuer Widerstand formiert, aber der müsste auch von jüngeren Leuten getragen werden. Das könnte sich aber aus den genannten Gründen am ehesten in anderen Stadtteilen entzünden. Anlässe gibt es ja. Der Flughafen ist so ein Beispiel. Andererseits ist er der größte Arbeitgeber der Region, was es, wo die Menschen die Massenarbeitslosigkeit gerade hinter sich und die Auswirkungen der Finanzkrise vor sich haben, doch recht schwierig macht. Da kann man es den Menschen nicht verübeln, wenn sie zurückhaltend sind.

Na, ich denke, dass man durch die letztlich erfolglosen Proteste gegen die Startbahn West resigniert hat.

Solche sozialen Bewegungen kann man nicht wiederauflegen wie ein Buch.

Wenn keine Chance besteht, warum sollte man auch?

Nun, da gibt es ja den alten Sponti-Spruch: Du hast keine Chance, also nutze sie. Gemessen an dem, was damals möglich schien, ist doch erstaunlich viel erreicht worden durch die 68er. Wir wissen nicht, wie sich die verschiedenen Krisen auswirken werden.

Foto: Dirk Ostermeier
 
Fotogalerie:
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31. Oktober 2008, 14.18 Uhr
Nils Bremer
 
 
 
 
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