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Atelier Goldstein
Hierarchien? Brechen!
Nennt es nicht Outsider Art: Dreizehn Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung arbeiten aktuell im Atelier Goldstein, quer durch alle Medien. Viele bleiben bis ins hohe Alter, der Jüngste ist gerade einmal 25 Jahre alt.
Julia Krause-Harder „verfolgt ein klares künstlerisches Konzept“, schreibt die Sammlerin Hannah Rieger über die 1973 in Kronberg geborene Künstlerin. Denn Krause-Harder fertigt Dinosaurier-Skulpturen. Ihr Ziel ist es, irgendwann alle 860 bisher bekannten Arten nachgebildet zu haben – mit Alltagsmaterialien, Nippes, Spielzeug, Stoff, Plastik, Dingen aus dem Baumarkt, zusammengehalten von zahllosen Kunststoffbindern. Die Suche nach dem großen Ganzen gehört zu Krause-Harders Konzept: Neben zahllosen Dinosauriern hat sie zum Beispiel eine 400 Quadratmeter große, textile Weltkarte angefertigt – die Räume, um das Werk auszustellen, müssten noch gesucht werden. Zumindest Krause-Harders Nanotyrranus konnte man 2019 schon einmal im Wiener Kunstforum entdecken, gemeinsam mit Werken ihrer Kolleginnen Perihan Arpacilar und Birgit Ziegert.
Alle drei Künstlerinnen arbeiten oder arbeiteten im Atelier Goldstein, das Frankfurt auf die Liste der wichtigsten Entstehungsorte für Kunst setzt, genauer für – ja, was eigentlich? Art Brut, „rohe“ Kunst, wie es der französische Künstler Jean Dubuffet in den 1940er-Jahren formulierte, nachdem er das Buch des Psychiaters Hans Prinzhorn gelesen hatte? Outsider Art, wie sie der britische Kunstkritiker Roger Cardinal 1972 nannte und damit dasselbe meinte – Kunst also, die, aus unterschiedlichen Gründen, außerhalb des regulären Kunstbetriebs entsteht? „Ich fühle mich nicht als Außenseiter“, machte Julius Bockelt, Künstler im Atelier Goldstein, 2019 auf einer Tagung im Wilhelm-Hack-Museum deutlich. „Es ist eher die Öffentlichkeit, die sich eine solche Einordnung wünscht.“ Freilich war eine Begriffsdefinition ursprünglich Voraussetzung für einen Zugang zum Kunstmarkt, für eine künstlerische Anerkennung der oft bildgewaltigen Arbeiten. Doch warum sollte die Biografie heute noch eine gewichtigere Rolle spielen als bei anderen?
Dreizehn Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung arbeiten aktuell im Atelier Goldstein, quer durch alle Medien. Viele bleiben bis ins hohe Alter. Zu den Jüngsten zählt der 1995 geborene Juewen Zhang, der es mit seinen großformatigen Kohlezeichnungen nun als erster ordentlich immatrikulierter Student mit mentalen Einschränkungen an die Offenbacher HfG geschafft hat. Unterstützung, wo nötig, bieten die Assistent:innen im Atelier, die künstlerische Praxis bleibt ganz bei Zhang, Krause-Harder und Co. „Manche Künstler brauchen bei der künstlerischen Arbeit kaum Assistenz“, meint Sophia Edschmid, die seit diesem Jahr gemeinsam mit Sven Fritz die Leitung des Ateliers übernommen hat. „Dann gibt es aber einige, die allein aus körperlichen Gründen mehr Unterstützung benötigen, zum Beispiel, weil sie den Überblick über eine große Leinwand verlieren.“ Die Arbeitsplätze im Atelier sind begehrt. Die Aufnahme neuer Künstler:innen bleibt Edschmid, Fritz und den Assistenzkräften vorbehalten, die allesamt selbst künstlerisch tätig sind.
Die Corona-Pandemie betrachte man als kreative Herausforderung. „Wir haben wirklich alles ausprobiert, um die künstlerische Arbeit weiter zu ermöglichen“, betont Sven Fritz. Während des harten Lockdowns im Frühjahr brachten die Assistenzkräfte den Künstlerinnen und Künstlern Leinwände und Farben direkt nach Hause. Und um Julius Bockelts Kunstunterricht zu digitalisieren, baute sich sein Assistent ein Gerüst um seinen Körper, mit dem er den Künstler in 360 Grad abfilmte. Denn Bockelt, der Klangerlebnisse unter anderem in filigrane Papierarbeiten übersetzt, ist aktuell als Kunstlehrer an einer Frankfurter Schule im Einsatz. Zur großen Begeisterung seiner Schülerinnen und Schüler. „Da brechen alle Hierarchien zusammen, wenn plötzlich ein Mensch mit Beeinträchtigung als Experte in seinem Feld auftritt“, meint Edschmid. Inzwischen wollen immer mehr Schulen Kunstlehrer aus dem Atelier engagieren – manchmal zu viele, um die Nachfrage zu bedienen.
>> Arbeiten der Atelierkünstler:innen werden z.B. in der Galerie Goldstein, Schweizer Straße 84, in Sachsenhausen präsentiert. Aktuelle
Ausstellungen und Besuchszeiten unter www.atelier-goldstein.de
Dieser Text ist zuerst in der Dezember-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (12/2020) erschienen.
Alle drei Künstlerinnen arbeiten oder arbeiteten im Atelier Goldstein, das Frankfurt auf die Liste der wichtigsten Entstehungsorte für Kunst setzt, genauer für – ja, was eigentlich? Art Brut, „rohe“ Kunst, wie es der französische Künstler Jean Dubuffet in den 1940er-Jahren formulierte, nachdem er das Buch des Psychiaters Hans Prinzhorn gelesen hatte? Outsider Art, wie sie der britische Kunstkritiker Roger Cardinal 1972 nannte und damit dasselbe meinte – Kunst also, die, aus unterschiedlichen Gründen, außerhalb des regulären Kunstbetriebs entsteht? „Ich fühle mich nicht als Außenseiter“, machte Julius Bockelt, Künstler im Atelier Goldstein, 2019 auf einer Tagung im Wilhelm-Hack-Museum deutlich. „Es ist eher die Öffentlichkeit, die sich eine solche Einordnung wünscht.“ Freilich war eine Begriffsdefinition ursprünglich Voraussetzung für einen Zugang zum Kunstmarkt, für eine künstlerische Anerkennung der oft bildgewaltigen Arbeiten. Doch warum sollte die Biografie heute noch eine gewichtigere Rolle spielen als bei anderen?
Dreizehn Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung arbeiten aktuell im Atelier Goldstein, quer durch alle Medien. Viele bleiben bis ins hohe Alter. Zu den Jüngsten zählt der 1995 geborene Juewen Zhang, der es mit seinen großformatigen Kohlezeichnungen nun als erster ordentlich immatrikulierter Student mit mentalen Einschränkungen an die Offenbacher HfG geschafft hat. Unterstützung, wo nötig, bieten die Assistent:innen im Atelier, die künstlerische Praxis bleibt ganz bei Zhang, Krause-Harder und Co. „Manche Künstler brauchen bei der künstlerischen Arbeit kaum Assistenz“, meint Sophia Edschmid, die seit diesem Jahr gemeinsam mit Sven Fritz die Leitung des Ateliers übernommen hat. „Dann gibt es aber einige, die allein aus körperlichen Gründen mehr Unterstützung benötigen, zum Beispiel, weil sie den Überblick über eine große Leinwand verlieren.“ Die Arbeitsplätze im Atelier sind begehrt. Die Aufnahme neuer Künstler:innen bleibt Edschmid, Fritz und den Assistenzkräften vorbehalten, die allesamt selbst künstlerisch tätig sind.
Die Corona-Pandemie betrachte man als kreative Herausforderung. „Wir haben wirklich alles ausprobiert, um die künstlerische Arbeit weiter zu ermöglichen“, betont Sven Fritz. Während des harten Lockdowns im Frühjahr brachten die Assistenzkräfte den Künstlerinnen und Künstlern Leinwände und Farben direkt nach Hause. Und um Julius Bockelts Kunstunterricht zu digitalisieren, baute sich sein Assistent ein Gerüst um seinen Körper, mit dem er den Künstler in 360 Grad abfilmte. Denn Bockelt, der Klangerlebnisse unter anderem in filigrane Papierarbeiten übersetzt, ist aktuell als Kunstlehrer an einer Frankfurter Schule im Einsatz. Zur großen Begeisterung seiner Schülerinnen und Schüler. „Da brechen alle Hierarchien zusammen, wenn plötzlich ein Mensch mit Beeinträchtigung als Experte in seinem Feld auftritt“, meint Edschmid. Inzwischen wollen immer mehr Schulen Kunstlehrer aus dem Atelier engagieren – manchmal zu viele, um die Nachfrage zu bedienen.
>> Arbeiten der Atelierkünstler:innen werden z.B. in der Galerie Goldstein, Schweizer Straße 84, in Sachsenhausen präsentiert. Aktuelle
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Dieser Text ist zuerst in der Dezember-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (12/2020) erschienen.
4. Januar 2021, 12.48 Uhr
Katharina J. Cichosch
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Text: Katharina J. Cichosch / Foto: © Lebohang Kganye, Ke bala buka ke apere naeterese II, 2013
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17. November 2024
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