Polizeigewalt

Über Moral, Polizei und Gewalt

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Die Debatte über Rassismus und Gewaltmissbrauch innerhalb der Polizei ist von Unklarheiten, Missverständnissen und Widersprüchen gekennzeichnet. Auch die Gegenwahrnehmung einer „neuen Qualität der Gewalt gegen den Staat“ ist eher moralisch als empirisch wahr. Ein Gastbeitrag von Rafael Behr.

Rafael Behr /

Wenn es zu Übergriffen oder rassistischen Entgleisungen in der Polizei kommt, dann bemühen die Verteidiger der „guten Polizei“ – unter ihnen besonders lautstark die Berufsvertretungen – mantramäßig die EinzeltäterHypothese: Demnach bilden gewaltsame Übergriffe und rassistische Handlungen von Beamtinnen und Beamten nur die absolute Ausnahme, keinesfalls aber die Regel. Man vergisst dann nicht darauf hinzuweisen, dass so und so viel Prozent (in der Regel 99,9) der Beamtinnen und Beamten ihren Dienst ordnungsgemäß machen. Die Gewalt gegenüber der Polizei wie auch vermeintlich wuchernde Respektlosigkeiten führen sie hingegen auf eine „zunehmende Verrohung der Gesellschaft und einen deutlich sichtbaren Werteverfall“ zurück. Geht es also um Insubordination gegenüber dem Staat, bewegen sich die Verteidiger der guten Polizei durchaus auf einer strukturellen Ebene. Steht jedoch polizeiliches Fehlverhalten im Fokus, widersetzen sie sich heftig einer Analyse der solches Verhalten begünstigenden Organisationsstrukturen.

Man darf, so scheint es, im Zusammenhang mit Polizei nicht über Strukturen reden, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, ein „generelles Misstrauen“ oder einen „Generalverdacht“ gegen die Polizei zu hegen. Das ist natürlich Unsinn. Strukturen sind überall, in jeder Dienstgruppe, jeder Hundertschaft und in jedem Polizeipräsidium. Keiner sagt, dass 275 000 Polizist:innen manifest Rassist:innen sind. Und es kommt im Übrigen auch nicht darauf an, was sie sind, sondern was sie tun. Rassismus als bloße Haltung kann unentdeckt bleiben, diskriminierende Kontrollen und Gewaltexzesse erzeugen immer Opfer.

Es ist hoch umstritten, ob Gewalt und Rassismus in der Gesellschaft und in der Polizei zunehmen: Der öffentliche Diskurs um Gewalt hat sich weitgehend verselbständigt. Selten werden empirische Befunde dazu ernst genommen, und so kommt es tatsächlich zu einem Auseinanderdriften von Gewaltwahrnehmung und statistischem Gewaltaufkommen. Geht ein Videoschnipsel viral, auf dem prügelnde Polizisten zu sehen sind, skandalisiert das die Netzgemeinde; in der folgenden Woche gehen wieder Jugendliche auf die Polizei los, und das wird von den Gewerkschaften zum Anlass genommen, auf die exorbitant zunehmende Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten, auf den fehlenden Respekt und auf die Verrohung der ganzen Gesellschaft hinzuweisen. Bezeichnenderweise sehen beide Parteien stets nur die „Gewalt der Anderen“. Es ist den „Es-wird-immer-alles-Schlimmer“-Apologeten egal, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik sehr differenziert Zu- und Abnahmen der Kriminalität registriert.

Eine neue Qualität von was?

Wie bei fast allen größeren Polizeieinsätzen in der jüngeren Vergangenheit (z.B. die Randale in Stuttgart am 20./21. Juni und in Frankfurt am Main am 18./19. Juli 2020) sprach die Polizei auch schon beim G20-Gipfel von einer neuen Qualität der Gewalt. Dies ist schon deshalb schwer zu verifizieren, weil die Referenzgrößen nicht genannt wurden. Auf welchen Zeitraum und auf welche Ereignisse bezieht sich das „Neue“ an der Gewalt? Die neue Qualität wird tatsächlich nur behauptet und der Terminus dient vor allem dazu, das Ausmaß der Zerstörung zu beschreiben und darzustellen, warum die Polizei nicht in der Lage war, dies zu verhindern. Auch die weitgehend unpolitischen, eher spontan-destruktiven Gewaltereignisse, die man vielleicht etwas grob, als „Event-Gewalt“ bezeichnen könnte, in Stuttgart und Frankfurt sind nicht neu – weder im Ausmaß noch im Entstehungszusammenhang. Schon die sogenannten „Schwabinger Krawalle“ im Jahr 1962 haben gezeigt, dass Spontanerhebungen gegen die Obrigkeit durchaus Kontinuität in der Bundesrepublik haben, und dass sie auch schon früher viel Schaden angerichtet haben (man denke an die 1.-Mai-Krawalle in Berlin oder die „Chaostage“ in Hannover).

Als „neu“ werden auch Ausmaß und Qualität der rassistischen Vorfälle und Artikulationen in der Polizei empfunden. Auch hier ist Vorsicht angezeigt. Soziale Medien überwinden frühere Raum- und Zeitgrenzen. Da hat man schnell 30 Mitglieder in einer Chatgruppe zusammen. Das sind aber wahrscheinlich keine 30 Nazis. Die meisten machen mit, bilden den Ermöglichungsraum für Entgrenzung, sie steigen nicht früh genug aus, weil sie fürchten, sonst ausgegrenzt zu werden. Und Isolation kann in Gefahrengemeinschaften buchstäblich tödlich enden. Deshalb schweigt man manchmal, wo man reden sollte, man sieht nicht genau hin, denkt nicht zu Ende, dreht sich weg. Aber wenn dann die Mobiltelefone der ganzen Dienstgruppe sichergestellt werden, ist man Beschuldigte:r.

Die Gewalt des Staates muss erlernt und domestiziert werden

Um erfolgreich arbeiten zu können, müssen Polizeibeamt:innen in ihrer Ausbildung gewaltfähig gemacht werden, ohne dabei in Gewaltaffinität zu entgleiten. Aufgabe der Organisation ist es, genau diesen Gewaltlegitimitätskorridor herzustellen, der nach dem Grundsatz verfährt, so wenig Gewalt wie möglich und so viel wie nötig und vom Gesetz erlaubt, einzusetzen. Dies funktioniert völlig unabhängig von individuellen Dispositionen, von einem Wesen des Menschen, von der Annahme einer genetischen Veranlagung oder der Entwicklung einer autoritären Persönlichkeit. Polizist:innen müssen mit dem „crimen“ in Kontakt kommen, ohne sich von ihm infizieren zu lassen. Diese Trennung ist nur in der Theorie sauber. In Wirklichkeit ist nicht immer klar, wann die Polizei vom Teil der Lösung von Gewalt zum Teil des Problems von Gewalt wird.

In der Ausbildung lernt man noch, dass den Anweisungen und Maßnahmen Folge geleistet werden muss und dass „das polizeiliche Gegenüber“ (wie die Klient:innen häufig im Amtsdeutsch bezeichnet werden), im täglichen Umgang eben kein „Kunde“, sondern im Prinzip „Herrschaftsunterworfener“ ist. Und dass sie im Zweifel ihre Maßnahmen auch gegen Widerstand mit Gewalt durchsetzen können. Ziel der polizeilichen Ausbildung ist es einzuüben, unter besonderen Umständen Menschen Schmerzen zuzufügen, ohne dass man selbst in einen emotionalen Ausnahmezustand (Gewaltrausch, Angstschock) gerät. Ein Problem, mit dem Polizist:innen ständig konfrontiert sind, was aber sowohl für den Dienstherrn als auch in der Gewaltsoziologie fast völlig unthematisiert bleibt, besteht darin, dass die legale Staatsgewalt („potestas“) und die illegale schädigende Gewalt („violentia“) auch bei Polizist:innen in einer Handlung zusammenfallen können. Wenn also diejenigen, die legitim Gewalt ausüben dürfen, dies in einer Weise oder Ausprägung tun, die die Legitimität aufhebt, dann wird aus der legitimen „Staatsgewalt“ illegitime „Polizeigewalt“.

In der Polizeitheorie und auch in der polizeilichen Praxis wird eine affirmative Beziehung zum Überwältigungshandeln quasi ausgeblendet, das heißt für den Umstand, dass ein:e Polizist:in nicht nur überwältigen muss, sondern daran auch Freude hat, gibt es überhaupt keine Sprache. Auf der Handlungsebene kommt Gewalt nicht ohne Aggressivität aus. Diese ist sogar die Voraussetzung, um Staatsgewalt in konkrete Handlungen zu übersetzen. Eine aggressive Grundhaltung bereitet aber Schwierigkeiten, wenn sie den Kontext verlässt, in dem Aggressivität noch erlaubt und funktional erforderlich ist. Wird die Gewaltausübung habitualisiert und zu einem Teil der eigenen Identitätskonstruktion, dann werden Polizistinnen und Polizisten in einem Konflikt Teil des Problems und sind nicht mehr Teil der Lösung. Der Videoausschnitt aus Frankfurt, der damit endet, dass ein hinzukommender Polizist mit seinem Fuß nach dem am Boden liegenden Mann tritt, ist ein gutes Beispiel dafür. Vielleicht war die vorangehende Maßnahme, auch das Zu-Boden-bringen, rechtmäßig. Aber dann kommt der Übergriff, er schleicht sich quasi in die reguläre Amtshandlung ein. Und egal, was vorher passiert war oder nachher noch passiert sein könnte: der Fußtritt war nicht nur nicht „arte legis“, es war eine ziemlich brutale (und wegen des Schuhs auch gefährliche) Körperverletzung im Amt.

Misstrauen gegen Gewalt an sich

Misstrauen gegen Staatsgewalt ist nicht identisch mit dem Misstrauen gegen den Staat oder gar gegen sämtliche Polizistinnen und Polizisten. Misstrauen gegen Staatsgewalt bedeutet vielmehr ein Misstrauen gegen Gewaltentäußerungen an sich zu hegen. Die Gewalt des Staates ist, wie oben schon erwähnt, keineswegs immer sauber, sondern sie hat auch eine „schmutzige“ Seite. Im Einsatztraining auf der Matte folgt das Einüben von Überwältigung gesetzten Regeln, und sie werden korrigiert, wenn sie nicht entsprechend angewandt werden.

Wendet das Gewaltmonopol seine Mittel aber im Ernstfall an, besteht die Gefahr, dass es überreagiert oder seine Macht falsch einsetzt. Denn auf der Straße fehlen die Matten und die aufmerksamen Sparringspartner. Nun stehen den Beamtinnen und Beamten nicht mehr die Kollegen gegenüber, sondern möglicherweise renitente Jugendliche, deren Kumpels zuschauen. Oder die Polizisten haben es mit Männern mit viel Testosteron und noch mehr Alkohol in Kopf und Körper zu tun. Diese Menschen folgen dann nicht einfach den in der Polizeischule erlernten Regeln, entgehen der Schmerzzufügung nicht durch Folgsamkeit, sondern sie wehren sich und schlagen um sich. Oder sie schlagen auch zuerst. Oder sie werfen Gegenstände. Dies bewirkt dann meist größere Gewaltanwendung durch die Beamten – eine Prozedur wechselseitiger Grenzüberschreitungen. Und wo die Macht zur Gewaltanwendung sich vereint mit dem Recht auf Gewaltsamkeit, dort ist auch der Missbrauch von Gewalt nicht fern. Oder, wie es die heutige Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, formuliert: „Macht [...] führt ohne entsprechende Schranken und Kontrollen nahezu immer irgendwann zu Machtmissbrauch“.

Deshalb ist es inhaltlich falsch und ehrrührig, die hier nur skizzierten Phänomene kategorisch (um das Wort „pauschal“ zu vermeiden) als „Generalverdacht“ oder als „generelles Misstrauen“ eines „rotweintrinkenden Linksprofessors“ gegen die Polizei zu bezeichnen. Es ist auch nicht so, dass man stets und in gleichem Ausmaß auch die Gewalt der Gegenseite in den Blick nehmen müsste. Natürlich ist Gewalt ein Interaktionsgeschehen. Und sie folgt sozialen Regeln. Aber die eine Gewalt hebt die Untersuchung der andern nicht auf.

Binäres Denken aufgeben

Der reflexartige Verweis auf Einzelfälle blendet daher die strukturellen Bedingungen der Gewaltfrage aus. So lässt sich der Eindruck erwecken, es gebe nur eine kleine Minderheit an schwarzen Schafen innerhalb der Polizei, während die überwiegende Mehrheit der Beamtinnen und Beamten niemals missbräuchlich Gewalt einsetzt. Diese Unfähigkeit, das binäre Denken aufzugeben, scheint mir jedoch das eigentliche Problem des polizeilichen Umgangs mit dem Gewaltthema zu sein. Gleichzeitig erzeugt die institutionelle Verweigerung, sich innerhalb der Polizei mit dem Thema Gewaltmissbrauch auseinanderzusetzen, größere gesellschaftliche Probleme als die konkrete missbräuchliche Gewaltanwendung selbst. Denn diese Weigerung untergräbt den Glauben an die moralische Integrität der Polizei, weil vorgeblich kein Problem besteht, wo viele andere durchaus Probleme sehen. Gerade beim Thema Gewalt muss eine Organisation wie die Polizei bemüht sein, ihr Handeln rechtliche, aber auch moralisch zu legitimieren. Gelingt dies nicht, unterscheidet sie sich in moralischer Hinsicht nicht von jenen, deren Gewalt sie unterbinden oder bezwingen soll. Das aber sollten endlich auch die Gralshüter der „guten Polizei“ anerkennen: Man kann die Auseinandersetzung mit Gewalt durch die Polizei nicht dadurch vermeiden, dass man immer wieder auf die Angriffe auf die Polizei hinweist und nur dann lautstark auftaucht, wenn die Gewalt sich gegen die Polizei richtet.

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Rafael Behr , Jahrgang 1958, Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg, von 1975 bis 1990 Polizeibeamter bei der hessischen Bereitschaftspolizei und im Frankfurter Polizeipräsidium. Nach seinem Psychologie- und Soziologie-Studium an der Goethe-Universität promovierte Behr unter der Überschrift „Cop Culture“ über die Organisationskultur und das Gewaltmonopol der Polizei.


Dieser Text erschien erstmals in der Dezember-Ausgabe (12/2020) des JOURNAL FRANKFURT.


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