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Jüdisches Leben

Orte der Selbstermächtigung

Was macht eine Stadt jüdisch? In der Geschichte Frankfurts stechen gleich mehrere Ereignisse hervor, die eine wichtige Rolle für das politische Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden in Deutschland spielen. Ein Gastbeitrag von Ruben Gerczikow.
„Frankfurt ist die jüdischste Stadt Deutschlands“, dieser Satz scheint besonders im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wieder in aller Munde zu sein. Doch was genau macht eine deutsche Stadt besonders „jüdisch“? Frankfurt hat nicht die meisten jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner, wurde jedoch zweifelsohne geprägt von jüdischen Einflüssen und jüdischer Geschichte. Mit Mayer Amschel Rothschild aus der Judengasse wurde ein Frankfurter zum weltweit bekanntesten Gesicht einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung. Auch das Geburtshaus von Anne Frank, die in Bergen-Belsen von den Nazis ermordet wurde, steht in der Stadt am Main.

Sowohl die Familie Rothschild als auch das Erbe Anne Franks sind in der Mainmetropole heute omnipräsent. Ihre Namen tauchen bei der Google-Suche nach jüdischen Orten neben Synagogen, Museen, Denkmälern, Gemeindezentren oder Friedhöfen immer wieder auf. Jüdische Orte lassen sich heutzutage jedoch nicht nur auf Religion, Kultur oder Geschichte reduzieren. Ich bin in Frankfurt geboren und aufgewachsen, ich bin Jude und seit vielen Jahren politisch aktiv. In dieser Zeit habe ich zahlreiche politische Konflikte erlebt, weil Jüdinnen und Juden in Gruppen oder Bündnissen oftmals vorgeschrieben wird, wie sie ihre jüdische Identität mit ihrem politischen Aktivismus vereinbaren sollen. Widersprechen sie diesen Vorschreibungen erleben sie häufig Diskriminierung, Gewalt oder Unsichtbarkeit im politischen Raum.

Zwei Orte in Frankfurt betrachte ich als jüdisch, obwohl sie auf den ersten Blick nicht explizit mit gesellschaftlichen Erwartungen an „das Judentum“ verknüpft sind. Zum einen handelt es sich hierbei um die Johann Wolfgang Goethe-Universität und zum anderen um das Schauspiel Frankfurt. Der Blick auf diese zwei Orte muss im Bewusstsein jüdischer Partizipation in der postnazistischen Gesellschaft stattfinden, in denen Jüdinnen und Juden explizit eine Position im politischen Diskurs bezogen haben. Im Rahmen eines Vortrages zu jüdischem Widerstand beleuchte ich gemeinsam mit meinem Kollegen Monty Ott die Bedeutung dieser zwei Orte.

Asher Ben-Natan an der Goethe-Universität

Im Jahr 1965 wurde der Shoa-Überlebende und Nazi-Jäger Asher Ben-Natan zum ersten israelischen Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland berufen. Mit seiner Entdeckung des einzigen Fotos des Massenmörders Adolf Eichmann sorgte Ben-Natan maßgeblich für dessen Enttarnung. Im Rahmen seiner diplomatischen Arbeit wurde er im Mai 1968 vom Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland, eingeladen, einen Vortrag an der Goethe-Universität zu halten. Angesichts des andauernden Vietnam-Krieges hatte sich die Stimmung an deutschen Universitäten verschärft. Auf Protestkundgebungen gegen den Krieg wurde unter anderem „Shalom gleich Napalm“ oder „USA-SA-SS“ skandiert.

Auch die Spannungen zwischen Israel und seinen Nachbarländern hielten weiter an und gipfelten 1967 im Sechstagekrieg. Aufgrund der verstärkten Diskurshegemonie palästinensischer und PLO-solidarischer Gruppen an der Frankfurter Universität baten die jüdischen Studierenden Ben-Natan um einen Vortrag „Frieden in Nahost“, der die israelische Seite näher beleuchtete. Die Situation an der Uni für die jüdischen Studierenden und ihren Gast verschlechterte sich zunehmend, sodass Ben-Natan erst ausgeladen wurde und später wieder eingeladen. Seine Wiedereinladung wurde von Seiten der jüdischen Studierenden damit begründet, dass sie um den öffentlichen Diskursraum kämpfen wollten.

Wie zu erwarten war, wurde die gesamte Veranstaltung von Gegenprotesten und Beleidigungen begleitet. Zu Beginn des Vortrages wurde das Mikrofonkabel zerschnitten, sodass Ben-Natan den Vortrag durch ein Megaphon halten musste. Immer wieder wurde er von den Protestierenden mit Parolen wie „Faschist“ oder „Zionisten raus aus Palästina“ unterbrochen. Für Ben-Natan erweckten diese Parolen Assoziationen mit der nationalsozialistischen Parole „Juden raus“, die er als Verfolgter der Nazis vermehrt hören musste. Bevor sein Vortrag aufgrund des Gegenprotests abgebrochen werden musste, wandte sich Asher Ben-Natan direkt an die Protestierenden: „Es würde ein geschichtliches Ereignis sein, wenn Sie diese Diskussion heute Abend unmöglich machen. Dies nämlich ist in Deutschland das letzte Mal vor 34 Jahren geschehen.“

Obwohl die Veranstaltung abgebrochen werden musste, ließen sich die jüdischen Studierenden nicht entmutigen. Sie hatten sich von der überlegen Diskursmacht nicht einschüchtern lassen und zogen sich nicht zurück. Sie hatten die antiisraelische Hegemonie in Frage gestellt und sich den vorherrschenden Narrativen widersetzt. Zwar verbuchten die jüdischen Studierenden dieses Ereignis als Erfolg, aber nicht wenige Shoa-Überlebende reagierten mit Fassungslosigkeit und Sorge.

Die Fassbinder-Kontroverse

Der Regisseur und Produzent Rainer Werner Fassbinder verfasste im Jahr 1975 das Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dessen Verfilmung im darauffolgenden Jahr erschien. In dem Werk erscheint die Figur eines reichen, skrupellosen und jüdischen Immobilienspekulanten. Fassbinders fiktive Figur wies starke Parallelen zum späteren Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, auf. Im weiteren Verlauf des Stückes trifft der jüdische Immobilienspekulant auf die Figur Hans von Gluck. Von Gluck spricht davon, dass man vergessen habe, ihn zu vergasen. Bereits nach der Buchveröffentlichung sorgten diese Sätze für massive Kritik vonseiten der Jüdischen Gemeinschaft, bevor sich 1985 der Skandal in Frankfurt ereignete.

Im Jahr 1985 wollte der damalige Intendant des Frankfurter Schauspiels, Günther Rühle, „Der Müll, die Stadt und der Tod“ aufführen lassen. Das ignorante Verhalten Rühles gegenüber den antisemitischen Ressentiments in Fassbinders Werk, sorgte für eine aktivistische Politisierung innerhalb der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Jüdische Persönlichkeiten wie Ignatz Bubis, Michel Friedman und Dieter Graumann gingen gemeinsam mit Tausenden Frankfurter:innen auf die Straße. Schlussendlich konnten die engagierten Aktivist:innen mit einer Bühnenbesetzung die Uraufführung verhindern. Ihren Hauptkritikpunkt an Fassbinders Werk verdeutlichten sie mit einem Transparent: „Subventionierter Antisemitismus“.

Der Auftritt Asher Ben-Natans und die Bühnenbesetzung machten die Goethe-Universität und das Schauspiel Frankfurt auch nach der Shoa zu explizit jüdischen Orten. Die Aktionen eröffneten den Raum für jüdische Teilhabe und Sichtbarkeit im politischen Aktivismus und überwanden Widerstände. Sie irritieren das Bild einer schweigenden und isolierten jüdischen Gemeinschaft. Und sie stehen in einer Traditionslinie mit drei jüdischen Veranstaltungen der jüngeren Vergangenheit: die „Diese Alternative ist nicht koscher“-Kundgebung gegen die Gründung der „Juden in der AfD“ auf dem Goetheplatz 2018, die erste Deutsch-Israelische Studierendenkonferenz an der Goethe-Universität 2019 und dem Jewish Women Empowerment Summit 2019 und 2020. Die Ereignisse in Frankfurt am Main in der nahen und fernen Vergangenheit, wie auch die in unserer Gegenwart, nehmen eine wichtige Rolle für das politische Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden in Deutschland ein. Auch deshalb sind sie Orte der Selbstermächtigung.

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Ruben Gerczikow ist Publizist, Vizepräsident der European Union of Jewish Students (EUJS) und war von 2019 bis 2021 Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Seit vielen Jahren recherchiert er zu den Themenfeldern Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologien. Gemeinsam mit Monty Ott hat er zudem das jüdisch-aktivistische Medienprojekt „Laumer Lounge“ gegründet.

Dieser Text ist zuerst in der Mai-Ausgabe (5/2021) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
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19. Mai 2021, 12.18 Uhr
Ruben Gerczikow
 
 
 
 
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