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Gespräch mit Mirjam Wenzel – Teil 1

„Die Konfliktgeschichte prägt die DNA dieser Stadt“

Mirjam Wenzel leitet seit 2016 das Jüdische Museum in Frankfurt. Mit dem JOURNAL FRANKFURT hat sie unter anderem über die Unterschiede zwischen jüdischem Leben in Berlin und Frankfurt gesprochen.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Wenzel, denkt man an jüdisches Leben in Deutschland, fällt den allermeisten Menschen zuerst Berlin ein. Dabei versteht sich Frankfurt – beispielsweise durch die Politik artikuliert – als die jüdischste Stadt Deutschlands. Sie haben lange Zeit in Berlin gelebt, dort studiert und am Jüdischen Museum Berlin gewirkt. Was unterscheidet den Berliner Umgang mit jüdischer Kultur von dem in Frankfurt?

Mirjam Wenzel: Ich bin 1992 nach Berlin gekommen und habe erst im Nachhinein realisiert – und das ist vielleicht typisch für jüdisches Leben in den 80er- und frühen 90er-Jahren in Deutschland – mit wie vielen Jüdinnen und Juden ich eigentlich zu tun hatte. Wir haben uns darüber aber überhaupt nicht ausgetauscht. Medial ziemlich präsent war damals die Entdeckung des Scheunenviertels, was jedoch vor allem von Nicht-Juden und Touristen mit Klezmer-Konzerten zelebriert wurde. Jüdisches Leben hingegen war vom Zuzug russischsprachiger Juden geprägt, was zu einer Entwicklung mehrerer Gemeinschaften innerhalb der Gemeinde führte, die untereinander nicht harmonierten.

So spielte die Jüdische Gemeinde in Berlin keine große Rolle, weil sie nicht mit einer Stimme sprach?

Jüdisches Leben spielte in dem damals beginnenden Berliner Stadtmarketing, im Kunst- und Kulturbereich keine besonders große Rolle. Heute gibt es in Berlin eine junge Kunst-, Musik-, Literatur-, Mode- und Theaterszene mit Menschen, die sich dezidiert als Jüdinnen und Juden verstehen – das ist anders als in den Neunzigern – und dies auch so artikulieren, egal ob sie nach dem Religionsgesetz jüdisch sind oder nicht. Ein Großteil von ihnen ist nicht in Berlin aufgewachsen, baut jetzt dort aber eine Infrastruktur auf, die weitverzweigt ist und viele trägt. Es gibt etwa eine eigene israelische Szene mit einem israelischen Magazin, einer hebräischsprachigen Bibliothek und zahlreichen israelischen Salons – eine Wiederentdeckung jüdischer Traditionen von vor 1933 in Berlin. Diese Szene wird getragen von jungen Jüdinnen und Juden, die eine große Medienpräsenz haben, sich aber von der jüdischen Gemeinde fernhalten.

Gibt es für den Unterschied zwischen jüdischem Leben in Berlin und Frankfurt historische Gründe?

In Frankfurt hat man im Unterschied zu Berlin nach 1945 relativ bald eine Infrastruktur aufgebaut, in der traditionelle Institutionen, wie zum Beispiel die Zentrale Wohlfahrtsstelle (ZWST), wiedereröffnet wurden und in der eine Gemeinde entstanden ist, die in den 1980er Jahren anlässlich der geplanten Aufführung des Fassbinder-Stücks in der Öffentlichkeit selbstbewusst artikulierte: „Hier wurde die Grenze der künstlerischen Freiheit überschritten!“. Zudem waren die meisten maßgeblichen jüdischen Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland auch Mitglieder der Frankfurter Gemeinde, wie etwa Dan Diner, Micha Brumlik, Cilly Kugelmann, Salomon Korn und Michel Friedman.

Sehen Sie die Möglichkeit, dass sich von der Gemeinde unabhängige jüdische Szenen und Orte in Zukunft auch in Frankfurt entwickeln werden?

Die jüdische Kulturszene, die in den vergangenen fünfzehn Jahren – also in vergleichsweise kurzer Zeit – in Berlin entstanden ist, ist an sich sehr jung, möglicherweise nur temporär und nicht aus einer längeren Tradition in der Stadt gewachsen. Das ist in Frankfurt grundlegend anders: Hier gibt es zwar eine kleine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die sich nicht unbedingt auf die Gemeinde beziehen und eigene Orte schaffen. Einer dieser Orte ist sicher die Bildungsstätte Anne Frank, ein anderer die Gastronomie im Bahnhofsviertel. Es gibt aber keine jüdische Kulturszene, die sich vollkommen unabhängig von der Gemeinde entwickeln kann und will. Dafür ist diese Stadt zu klein.

Dann war Ihre Zeit in Berlin sicherlich auch von einem völlig anderen Arbeiten geprägt, als es Ihre jetzige Position in Frankfurt erfordert. Sie waren genau zu der Zeit in Berlin, als diese jungen jüdischen Entwicklungen an Dynamik zugenommen haben.

Genau, diese Entwicklung ist Teil meiner eigenen Biographie: Ich habe 2001 das deutsch-israelische Medienkunst-Festival „Novalog“ in Berlin und Tel Aviv initiiert und kuratiert. Zu diesem Zeitpunkt lebte nur ein junger israelischer Künstler in Berlin, der als Safy Sniper in seinem Atelier eine Bar betrieb. Das kann man sich heute nicht vorstellen, aber genau so war es! Zwei Jahre später co-kuratierte ich mit einigen israelischen Kuratorinnen und Kuratoren an der Berliner Gesellschaft für Bildende Kunst eine Ausstellung über den Umgang zeitgenössischer israelische Künstler mit der Shoah. Damals fing es schon an, dass meine kuratorischen Partnerinnen und Partner gerne in Berlin bleiben wollten. Durch den Zuzug von immer mehr jungen Israelis nach Berlin wurde auch die jüdische Kultur der russischsprachigen Einwanderer, Stichwort: Russendisko, immer präsenter in der Stadt.

Sind jüdische Kultur und jüdisches Leben also nur Labels, die sich über die Zeit hinweg durchgesetzt haben?

Das würde ich so nicht sagen. Aber wir leben auf jeden Fall in einer Zeit, in der die ganzen Identitätsdiskurse – die Frage der Herkunft und des familiären Hintergrunds – eine viel größere Rolle spielen, als in der fröhlichen Postmoderne vor zwanzig Jahren. Dementsprechend besteht auch ein größeres öffentliches Interesse an jüdischem Leben in der Gegenwart und an Personen, die keine öffentlichen Ämter innehaben, aber bereit sind, sich öffentlich als Jüdinnen und Juden zu artikulieren.

Aber in Frankfurt konnte man als Jüdin oder Jude doch schon früher über die eigene Herkunft und Familie sprechen.

Die Frankfurter Jüdische Gemeinde wurde von Überlebenden und deren Nachkommen aufgebaut und geprägt. Viele von ihnen mussten sich gegenüber der eigenen Familie und anderen dafür rechtfertigen, dass sie in Deutschland lebten, und schämten sich dafür. Auch deshalb waren die offensive Erklärung der Bühnenbesetzung an die Frankfurter Öffentlichkeit 1985 und das ein Jahr später eröffnete Jüdische Gemeindezentrum von so großer Bedeutung: „Wir wollen hier bleiben! Und fordern Respekt ein!“.

Welche Rolle nimmt Frankfurt in den Debatten um jüdisches Leben in der deutschen Gesellschaft nach 1945 ein?

In Frankfurt fanden alle maßgeblichen Auseinandersetzungen um einen angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, dem jüdisch-deutschen Kulturerbe und dem linken Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland statt: der Auschwitz-Prozess, der Fassbinder-Streit und der Börneplatz-Konflikt. Diese Konfliktgeschichte, in der es um die Möglichkeit ging, als Jüdin und Jude überhaupt hier leben zu können, prägt die DNA dieser Stadt. Und diese wird auch von der Politik angenommen, die heute sagt: „Ja, natürlich gehört jüdisches Leben zu Frankfurt!“ – und das muss auch so sein, denn es wurde erstritten. In Berlin hingegen fanden derartige Auseinandersetzungen nicht statt. Alles, was öffentlich zugänglich war und „jüdisch“ anmutete, erlangte in den letzten 20 Jahren eine gewisse mediale Aufmerksamkeit und spielt heute eine große Rolle im Image von Berlin. Das jüdische Leben ist bunt, kreativ und sexy in dieser Stadt der Möglichkeiten, zugleich aber kommt es zu proportional deutlich mehr antisemitischen Übergriffen als in Frankfurt.

Das Gespräch führte Moritz Post.

Mirjam Wenzel, 46, in Frankfurt geboren und im Hochtaunuskreis aufgewachsen, seit 2016 Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main

Das Interview mit Mirjam Wenzel erscheint als Teil unserer Reportagereihe „Gesicht zeigen! Warum Antisemitismus und Rassismus in Frankfurt keinen Platz haben“. In den kommenden zwei Wochen veröffentlichen wir an dieser Stelle Gespräche mit verschiedenen Akteuren, die sich im Kampf gegen Diskriminierung engagieren. Die aktuelle Print-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT widmet sich diesem Thema in einer 22-seitigen Porträtstrecke.
 
Fotogalerie:
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24. Januar 2019, 10.10 Uhr
Moritz Post
 
 
 
 
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