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Editorial 6/21
Narrative
Antisemitismus beginnt nicht erst mit klaren judenfeindlichen Aussagen oder Handgreiflichkeiten. Er findet sich in den vielen Vorurteilen und Stereotypisierungen, die oft ganz unbedacht geäußert werden, schreibt Chefredakteurin Ronja Merkel in ihrem Editorial.
Wieso wird jemand eigentlich Antisemit? Oder Rassist? Oder Frauenhasser? Sicherlich gibt es einfach grundsätzlich boshafte oder auch dumme Menschen auf dieser Welt. Die wenigsten werden aber wohl mit Vorurteilen oder gar mit einem Hang zu Gewalt geboren. Es ist die Summe unserer Erfahrungen, die uns zu dem Menschen macht, der uns tagtäglich im Spiegel entgegenblickt. Und ich spreche hier nicht von der (völlig falschen) Annahme, dass Menschen, die Schlechtes erleben, selbst schlecht werden. Dass uns bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen prägen, wird aber wohl niemand bestreiten.
„Kinder werden nicht als Judenhasser geboren“, sagte mir Michel Friedman kürzlich in einem Gespräch, das Sie ab Seite 52 in der aktuellen Ausgabe nachlesen können. „Sie sitzen zuhause und hören, was die Erwachsenen erzählen – all die Vorurteile, die beim Abendessen auf den Tisch kommen.“ Eine Erfahrung, die ich bestätigen kann.
Die Stereotypisierung des Juden als reicher Raffzahn, als Herr einer Weltverschwörung, die existierte durchaus auch in meiner Kinderstube. Sie wurde vielleicht nicht so explizit ausgesprochen, aber viele kleine spitzzüngige Bemerkungen über die „kniestiche Jüdde“ (Kölsch für „geizige Juden“) gehörten zu jeder Familienfeier dazu. Ebenso wie das Narrativ, dass jüdische Menschen bis heute verfolgt werden, weil sie Gottes Sohn ans Kreuz gebracht hätten.
Wie krass – und mir fällt kein adäquateres Wort ein – solche Sätze eigentlich sind, wurde mir erst irgendwann in meinen Zwanzigern bewusst. Natürlich bin ich bis dahin nicht als Antisemitin durch die Welt gelaufen, aber ich habe einfach nicht nachgedacht. Und das ist das große Problem: Wir denken nicht nach. Das, was wir gerade jeden Abend in der Tagesschau über den Nahostkonflikt (welch furchtbarer, verniedlichender Begriff ) sehen, ist ein Exzess der Gewalt.
Doch die Verbrechen beginnen viel früher. Und das nicht nur im weit entfernten Gazastreifen, sondern unmittelbar vor unserer Haustür. Oder vielmehr an unserem Abendbrottisch. Das macht uns nicht zwangsläufig zu Antisemiten (oder Rassisten, Homophoben, Mysogonisten), aber doch zu Beteiligten. Aber wissen Sie, was das Gute ist? Wir können ebenso daran beteiligt sein, das Narrativ zu ändern. Ganz einfach, am Abendbrottisch.
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Die Juni-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT erscheint am 27.5.2021. Titelthema: „Eintracht wie immer? Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Ein Verein im Gefühlschaos“
Außerdem im Heft:
Eine Freilichtbühne für Frankfurt – Matthias Pees über den „Sommerbau“
Judenhass ist keine Meinung – Im Gespräch mit Michel Friedman
Warum fragt uns niemand? – Über identitätspolitischen Anti-Rassismus
„Kinder werden nicht als Judenhasser geboren“, sagte mir Michel Friedman kürzlich in einem Gespräch, das Sie ab Seite 52 in der aktuellen Ausgabe nachlesen können. „Sie sitzen zuhause und hören, was die Erwachsenen erzählen – all die Vorurteile, die beim Abendessen auf den Tisch kommen.“ Eine Erfahrung, die ich bestätigen kann.
Die Stereotypisierung des Juden als reicher Raffzahn, als Herr einer Weltverschwörung, die existierte durchaus auch in meiner Kinderstube. Sie wurde vielleicht nicht so explizit ausgesprochen, aber viele kleine spitzzüngige Bemerkungen über die „kniestiche Jüdde“ (Kölsch für „geizige Juden“) gehörten zu jeder Familienfeier dazu. Ebenso wie das Narrativ, dass jüdische Menschen bis heute verfolgt werden, weil sie Gottes Sohn ans Kreuz gebracht hätten.
Wie krass – und mir fällt kein adäquateres Wort ein – solche Sätze eigentlich sind, wurde mir erst irgendwann in meinen Zwanzigern bewusst. Natürlich bin ich bis dahin nicht als Antisemitin durch die Welt gelaufen, aber ich habe einfach nicht nachgedacht. Und das ist das große Problem: Wir denken nicht nach. Das, was wir gerade jeden Abend in der Tagesschau über den Nahostkonflikt (welch furchtbarer, verniedlichender Begriff ) sehen, ist ein Exzess der Gewalt.
Doch die Verbrechen beginnen viel früher. Und das nicht nur im weit entfernten Gazastreifen, sondern unmittelbar vor unserer Haustür. Oder vielmehr an unserem Abendbrottisch. Das macht uns nicht zwangsläufig zu Antisemiten (oder Rassisten, Homophoben, Mysogonisten), aber doch zu Beteiligten. Aber wissen Sie, was das Gute ist? Wir können ebenso daran beteiligt sein, das Narrativ zu ändern. Ganz einfach, am Abendbrottisch.
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Die Juni-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT erscheint am 27.5.2021. Titelthema: „Eintracht wie immer? Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Ein Verein im Gefühlschaos“
Außerdem im Heft:
Eine Freilichtbühne für Frankfurt – Matthias Pees über den „Sommerbau“
Judenhass ist keine Meinung – Im Gespräch mit Michel Friedman
Warum fragt uns niemand? – Über identitätspolitischen Anti-Rassismus
27. Mai 2021, 11.16 Uhr
Ronja Merkel
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. Mehr von Ronja
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