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Shantel
„Oft ist es die Musik der Marginalisierten, die später zur Popkultur erklärt wird“
Shantel kennen wir als großstädtisches Naturereignis. Auf der Bühne energetisch und intensiv. Im Tonstudio ist er musikalischer Historiker in eigener Sache und schlägt jetzt sein Griechenland-Kapitel auf.
Die Geschichte eines Musikers beginnt oft mit der ersten Klavierstunde, dem ersten Auftritt im Kirchenchor oder mit einem tollen Erlebnis bei einem legendären Konzert. Bei Musiker Shantel beginnt die Geschichte zwei Generationen vor seiner Geburt. Viel wurde schon geschrieben, wie der Frankfurter Stefan Hantel alias Shantel seine familiären Wurzeln mütterlicherseits erforschte, und dabei in die geheimnisvollen Welten der Bukowina eindrang. Die traditionelle Musik erst entdeckte, dann aufsog, danach adaptierte und schließlich sogar deren modernes Gesicht prägte.
Der Bukovina Club ist Legende, und das von Shantel gegründete und geleitete Bucovina Club Orkestar wird weltweit gefeiert und stieß für Shantel selbst die Tür auf für Kollaborationen mit Filmemachern wie Fatih Akin („Auf der anderen Seite“) und Sascha Baron Cohen („Borat“). Auch mit Peter Maffay arbeitete Shantel an Begegnungen der Kulturen und sein früher Hit „Disko Partizani“ wurde vom osteuropäischen Mainstream-Produzenten Filipp Kirkorow gecovert.
Arbeit mit Fatih Akin und Peter Maffay
Auch wenn diese Story weiter geschrieben wird, wurde es für den Künstler Shantel Zeit, die andere Seite des Familienstammbaums zu erforschen. Und auch dort tut sich eine Historie auf, die musikalische Seiten hat, die aufregend, tragisch und exemplarisch für Geschichte ist. Daraus machte Shantel nicht nur sein Album „Metropolis“. Er schrieb auch einen Erklärtext dazu, wie einen historisch-wissenschaftlichen Aufsatz, inklusive Literaturquellen in den Fußnoten.
„Mein Großvater Symeón war, nachdem er seine alte Heimat verloren hatte, als junger Mann einer der ersten Arbeitsmigranten in Deutschland.“ So beginnen die Ausführungen und klar, die Geschichte der Arbeitsmigranten, fälschlicherweise ja als „Gastarbeiter“ bezeichnet, ist für sich schon vielschichtig. Welche Geschichten sie aber vor der Verpflanzung nach Deutschland schon hatten und welche Kultur daraus entstanden war, was sie also in sich trugen, das haben wir bis heute ignoriert.
Erinnerungen an den „Griechischen Blues“ und Roadmovie durch Jugoslawien
Im Fall von Symeón, Shantels Großvater, ist das die Geschichte des Rembetiko. Diese Musikart wird manchmal auch als der „griechische Blues“ bezeichnet und Stefan Hantel hat ganz besondere Erinnerungen aus der Kindheit daran. Auf Autofahrten in die langen Sommerferien lief diese Musik im Tape-Player des grünen Familien-Opel-Asconas. „Unsere langen Reisen im Sommer nach Griechenland waren ein wiederkehrendes Ritual. Ich war noch ein kleines Kind. In den 1980er-Jahren existierte noch das alte Jugoslawien und diese Reisen waren wie ein Roadmovie durch das europäische Hinterland bis zum Mittelmeer.“
Was der junge Teenager Stefan damals spürte, war sicherlich Geborgenheit, Harmonie, die Stärke und Würde, die die Menschen des Rembetiko aus der Musik zogen. Aber die grausame Historie, die dem zugrunde liegt, kann er noch nicht gekannt haben. Heute referiert Shantel: „Mein Großvater war Pontosgrieche, er wurde geboren am Schwarzen Meer, in Samsun im ehemaligen Osmanischen Reich. Mit dem Vertrag von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei endete im Jahr 1922 die 4000 Jahre zurückreichende griechische Zivilisation in Kleinasien.“
Darauf folgte ein Bevölkerungstausch, die griechisch-stämmige Bevölkerung musste weg, siedelte in den Metropolen Griechenlands. Dort natürlich an den Rändern der Städte wie Athen, Piräus und Thessaloniki. Sie wohnten buchstäblich an den Rändern der Metropolen, aber lebten eben auch an den Rändern der Gesellschaft – wie das so oft ist bei Menschen, die migrieren mussten. Außerdem wurden die Neuankömmlinge, die ja wegen ihrer griechischen Kultur die heutige Türkei verlassen mussten, in der neuen Heimat oft als „die Türken“ angesehen.
Rembetico – Gegenkultur und immaterielles Kulturerbe
Dieser Schmerz kondensiert in der Musik des Rembetiko: Opfer von ethnischer Homogenisierung, Flüchtlinge im eigenen Land. Seit 2004 ist Rembetiko offiziell immaterielles UNESCO Kulturerbe, aber Shantel weiß, dass das nicht immer so war. Rembetiko ist dabei quasi exemplarisch für viele Musikstile, die von unteren Teilen einer Gesellschaft kommen: „Historisch gesehen ist es oftmals die Musik der Marginalisierten, die erst im Nachhinein hegemonial zur relevanten Popkultur ihrer Zeit erklärt wird. Während ihrer Blütezeit leidet sie aber als Gegenkultur unter Repression und Stigma.“
Aber Shantel zieht das jetzt ins Heute und in seine Realität: „Ich verstehe die anhaltende Relevanz des Rembetiko – neben seiner klanglichen Ästhetik – in seinem Potenzial, die Sorgen des urbanen Alltags musikalisch zu übersetzen und in die Freizeit, die Tavernen, das Nachtleben der Metropolen zu bringen.“ Deshalb stellte er ein mobiles analoges Aufnahmestudio zusammen, nannte das „Versuchsanordnung“ und schlug Station auf im Athener Stadtteil Exarcheia.
„Mir war klar, dass ich die analogen Aufnahmen in Exarcheia in Athen machen musste“, verrät Shantel. „Hier pulsiert das Herz städtischer Gegenkultur. Schon in der Vergangenheit bot sich in Exarcheia Raum und Publikum für die Kultur des Rembetiko. Hier konnte ich während der gesamten Aufnahme auf den Spuren vergangener und bestehender kultureller Artefakte städtischer Subkultur wandern.“
Wie eine Orchidee, die aus Dung hervorwächst
Allein das klingt spannend und wir spüren das auf den zehn nagelneuen Tracks auf dem neuen Album „Metropolis“. Alles ganz neue Interpretationen des Rembetiko, die vor Ort entstanden sind. Frisch, aktiv, voller Energie ist diese Musik. Aber der Schmerz, der aus der persönlichen Geschichte rührt, schwingt immer mit. Eben genau die künstlerische Kraft, die oft aus den zitierten Begriffen „Repression“ und „Stigma“ kommt. Wie eine gut riechende Orchidee, die aus einem Haufen Dung emporwächst.
So ist „Metropolis“ ein Shantel-Album, das die Multikultur zelebriert, obwohl es eine einzige Musikrichtung in den Fokus stellt. Aber eben eine Musikrichtung, die exemplarisch ganz viele Kulturen beinhaltet. Und damit reiht sich dieses Werk in das Schaffen von Shantel ein. Schon in den 1990er-Jahren bastelte Shantel - damals noch als DJ Shantel – an seiner Vision. Als Macher des illegalen Clubs Lissania Essay mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel etablierte Stefan Hantel einen Ort, an dem im vierzehntägigen Rhythmus der Underground zelebriert und weiterentwickelt wurde.
Dass der Off-Club illegal, also nicht offiziell konzessioniert war, war einerseits wichtig, anderseits auch wieder nicht. Wichtig war der kreative Schmelztigel, der hier, im dritten Stock eines Gründerzeithauses, entstand. Das Punk-Ur-Motto wurde quasi weiterentwickelt und lautete „legal, illegal, gar nicht scheißegal“, denn Musik war zwar zum Tanzen da, aber hatte den Anspruch zu verbinden. Wir üben nachts, wie wir uns den Umgang am Tag in der wahren Welt vorstellen.
Wenn Künstler die Tatsachen selbst ansprechen
Aus dieser Historie hat der Künstler Shantel konsequent sein Werk aufgebaut und ist damit erfolgreicher, als oft anerkannt wird. Als wir miteinander sprechen, sind ihm zu Beginn Zahlen ganz wichtig: „21 Million 91 Tausend 286 Streams bei Spotify – das ist die Zahl für eines meiner letzten Alben ‚Shantology‘. Das ist doch mal eine Zahl für einen Künstler“, sagt er stolz, während er in der dritten Person spricht. „Nenn’ mir bitte einen anderen Künstler aus Frankfurt, der solche Zahlen hat! Und ich geb’ dir mal noch ein Beispiel: ‚Disko Partizani‘ 20 259 000 Streams. Auf YouTube haben das, glaube ich, 15 Millionen Leute angeschaut.“ Anmerkung von mir: Es sind sogar noch mehr.
Alleine ein Tanzvideo aus New York, wo Menschen spontan zu diesem Song tanzen, hat 17 Millionen Aufrufe. Shantel zieht daraus einen Schluss: „Ich erwähne das deswegen, weil wir ja mal darüber gesprochen haben, was eigentlich der Sound of Frankfurt ist? Ist es Techno? Ist es etwas Anderes? Und ich komm mit diesen Zahlen und behaupte, dass der Sound Frankfurts immer ein kosmopolitischer war. Und dass diese Sachen, die ich gemacht habe, auf internationaler Ebene eine derartige Durchschlagskraft entwickelt haben, eben weil sie so vielschichtig, international und politisch sind.“ Perfekt gesagt. Wenn es extern nicht ausreichend anerkannt wird, muss der Künstler solche Tatsachen in der Tat selber mal aussprechen.
Sicht- und Hörbarmachung von Diversität
Somit ist beim aktuellen Metropolis-Projekt seine Band auch wieder anders besetzt als bei früheren Alben. Shantel: „Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Band aus Freundinnen und Freunden von mir besteht.“ Aber er entscheidet immer, wie es weitergeht, wenn sein Name oben auf dem Cover steht: „Die Bandbesetzung war schon immer eine Versuchsanordnung“, verrät er, „weil es immer eine Reflexion meiner eigenen Familiengeschichte ist.
Mir ging es immer um diesen Diskurs, die Identität, die ich als Künstler habe, der in Deutschland geboren ist, in Frankfurt am Main lebt, und der versucht, seine Familiengeschichte musikalisch, künstlerisch hörbar zu machen.“ Es gehe ihm also immer „um Sichtbarmachung, Hörbarmachung von Diversität“.
Und insofern steht das neue, andere Album voll in der Kontinuität des Shantelschen Schaffens. Der Künstler über die verschiedenen Kapitel seiner musikalischen Entwicklung: „Bukovina oder das Istanbul Album oder eben auch die Arbeiten, als ich stärker elektronische Musik gemacht habe, die haben eigentlich alle denselben musikalischen Stammbaum. Im Prinzip speist sich alles aus dieser griechisch-byzantinischen Musikkultur. Also 4000 Jahre hellenistische Musikkultur.“
Shantels Musik: echt Frankfurterisch
Und das hat auch viel mit ihm persönlich zu tun, wie er jetzt gelernt habe. Nach seinen Ausflügen in das ukrainisch-ungarische Grenzgebiet, wo die Bukowina ja heute liegt, hat Shantel nun eine neue Sicht auf sein eigenes Schaffen gewonnen: „Im Grunde genommen war Griechenland für mich immer der Dreh- und Angelpunkt, weil sich darauf immer alles konzentriert hat.“ Und beinahe überrascht findet er, dass das auch allgemein für diese Musik gilt: „Also, wenn man jetzt, Balkan-Musik analysiert, dann wird man immer zu dem Punkt kommen, dass die Harmonien, die Melodien, also die Skalen, die Tonleitern, alle byzantinischen Ursprungs sind. Die sind alle aus dem antiken Griechenland“.
Und jetzt haben wir auch kapiert, warum Shantels Musik und ganz besonders das neue Rembetiko-Album echt Frankfurterisch ist.
>> Dieser Text erschien zuerst in der Juni-Ausgabedes JOURNAL FRANKFURT (6/23).
Der Bukovina Club ist Legende, und das von Shantel gegründete und geleitete Bucovina Club Orkestar wird weltweit gefeiert und stieß für Shantel selbst die Tür auf für Kollaborationen mit Filmemachern wie Fatih Akin („Auf der anderen Seite“) und Sascha Baron Cohen („Borat“). Auch mit Peter Maffay arbeitete Shantel an Begegnungen der Kulturen und sein früher Hit „Disko Partizani“ wurde vom osteuropäischen Mainstream-Produzenten Filipp Kirkorow gecovert.
Auch wenn diese Story weiter geschrieben wird, wurde es für den Künstler Shantel Zeit, die andere Seite des Familienstammbaums zu erforschen. Und auch dort tut sich eine Historie auf, die musikalische Seiten hat, die aufregend, tragisch und exemplarisch für Geschichte ist. Daraus machte Shantel nicht nur sein Album „Metropolis“. Er schrieb auch einen Erklärtext dazu, wie einen historisch-wissenschaftlichen Aufsatz, inklusive Literaturquellen in den Fußnoten.
„Mein Großvater Symeón war, nachdem er seine alte Heimat verloren hatte, als junger Mann einer der ersten Arbeitsmigranten in Deutschland.“ So beginnen die Ausführungen und klar, die Geschichte der Arbeitsmigranten, fälschlicherweise ja als „Gastarbeiter“ bezeichnet, ist für sich schon vielschichtig. Welche Geschichten sie aber vor der Verpflanzung nach Deutschland schon hatten und welche Kultur daraus entstanden war, was sie also in sich trugen, das haben wir bis heute ignoriert.
Erinnerungen an den „Griechischen Blues“ und Roadmovie durch Jugoslawien
Im Fall von Symeón, Shantels Großvater, ist das die Geschichte des Rembetiko. Diese Musikart wird manchmal auch als der „griechische Blues“ bezeichnet und Stefan Hantel hat ganz besondere Erinnerungen aus der Kindheit daran. Auf Autofahrten in die langen Sommerferien lief diese Musik im Tape-Player des grünen Familien-Opel-Asconas. „Unsere langen Reisen im Sommer nach Griechenland waren ein wiederkehrendes Ritual. Ich war noch ein kleines Kind. In den 1980er-Jahren existierte noch das alte Jugoslawien und diese Reisen waren wie ein Roadmovie durch das europäische Hinterland bis zum Mittelmeer.“
Was der junge Teenager Stefan damals spürte, war sicherlich Geborgenheit, Harmonie, die Stärke und Würde, die die Menschen des Rembetiko aus der Musik zogen. Aber die grausame Historie, die dem zugrunde liegt, kann er noch nicht gekannt haben. Heute referiert Shantel: „Mein Großvater war Pontosgrieche, er wurde geboren am Schwarzen Meer, in Samsun im ehemaligen Osmanischen Reich. Mit dem Vertrag von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei endete im Jahr 1922 die 4000 Jahre zurückreichende griechische Zivilisation in Kleinasien.“
Darauf folgte ein Bevölkerungstausch, die griechisch-stämmige Bevölkerung musste weg, siedelte in den Metropolen Griechenlands. Dort natürlich an den Rändern der Städte wie Athen, Piräus und Thessaloniki. Sie wohnten buchstäblich an den Rändern der Metropolen, aber lebten eben auch an den Rändern der Gesellschaft – wie das so oft ist bei Menschen, die migrieren mussten. Außerdem wurden die Neuankömmlinge, die ja wegen ihrer griechischen Kultur die heutige Türkei verlassen mussten, in der neuen Heimat oft als „die Türken“ angesehen.
Rembetico – Gegenkultur und immaterielles Kulturerbe
Dieser Schmerz kondensiert in der Musik des Rembetiko: Opfer von ethnischer Homogenisierung, Flüchtlinge im eigenen Land. Seit 2004 ist Rembetiko offiziell immaterielles UNESCO Kulturerbe, aber Shantel weiß, dass das nicht immer so war. Rembetiko ist dabei quasi exemplarisch für viele Musikstile, die von unteren Teilen einer Gesellschaft kommen: „Historisch gesehen ist es oftmals die Musik der Marginalisierten, die erst im Nachhinein hegemonial zur relevanten Popkultur ihrer Zeit erklärt wird. Während ihrer Blütezeit leidet sie aber als Gegenkultur unter Repression und Stigma.“
Aber Shantel zieht das jetzt ins Heute und in seine Realität: „Ich verstehe die anhaltende Relevanz des Rembetiko – neben seiner klanglichen Ästhetik – in seinem Potenzial, die Sorgen des urbanen Alltags musikalisch zu übersetzen und in die Freizeit, die Tavernen, das Nachtleben der Metropolen zu bringen.“ Deshalb stellte er ein mobiles analoges Aufnahmestudio zusammen, nannte das „Versuchsanordnung“ und schlug Station auf im Athener Stadtteil Exarcheia.
„Mir war klar, dass ich die analogen Aufnahmen in Exarcheia in Athen machen musste“, verrät Shantel. „Hier pulsiert das Herz städtischer Gegenkultur. Schon in der Vergangenheit bot sich in Exarcheia Raum und Publikum für die Kultur des Rembetiko. Hier konnte ich während der gesamten Aufnahme auf den Spuren vergangener und bestehender kultureller Artefakte städtischer Subkultur wandern.“
Allein das klingt spannend und wir spüren das auf den zehn nagelneuen Tracks auf dem neuen Album „Metropolis“. Alles ganz neue Interpretationen des Rembetiko, die vor Ort entstanden sind. Frisch, aktiv, voller Energie ist diese Musik. Aber der Schmerz, der aus der persönlichen Geschichte rührt, schwingt immer mit. Eben genau die künstlerische Kraft, die oft aus den zitierten Begriffen „Repression“ und „Stigma“ kommt. Wie eine gut riechende Orchidee, die aus einem Haufen Dung emporwächst.
So ist „Metropolis“ ein Shantel-Album, das die Multikultur zelebriert, obwohl es eine einzige Musikrichtung in den Fokus stellt. Aber eben eine Musikrichtung, die exemplarisch ganz viele Kulturen beinhaltet. Und damit reiht sich dieses Werk in das Schaffen von Shantel ein. Schon in den 1990er-Jahren bastelte Shantel - damals noch als DJ Shantel – an seiner Vision. Als Macher des illegalen Clubs Lissania Essay mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel etablierte Stefan Hantel einen Ort, an dem im vierzehntägigen Rhythmus der Underground zelebriert und weiterentwickelt wurde.
Dass der Off-Club illegal, also nicht offiziell konzessioniert war, war einerseits wichtig, anderseits auch wieder nicht. Wichtig war der kreative Schmelztigel, der hier, im dritten Stock eines Gründerzeithauses, entstand. Das Punk-Ur-Motto wurde quasi weiterentwickelt und lautete „legal, illegal, gar nicht scheißegal“, denn Musik war zwar zum Tanzen da, aber hatte den Anspruch zu verbinden. Wir üben nachts, wie wir uns den Umgang am Tag in der wahren Welt vorstellen.
Wenn Künstler die Tatsachen selbst ansprechen
Aus dieser Historie hat der Künstler Shantel konsequent sein Werk aufgebaut und ist damit erfolgreicher, als oft anerkannt wird. Als wir miteinander sprechen, sind ihm zu Beginn Zahlen ganz wichtig: „21 Million 91 Tausend 286 Streams bei Spotify – das ist die Zahl für eines meiner letzten Alben ‚Shantology‘. Das ist doch mal eine Zahl für einen Künstler“, sagt er stolz, während er in der dritten Person spricht. „Nenn’ mir bitte einen anderen Künstler aus Frankfurt, der solche Zahlen hat! Und ich geb’ dir mal noch ein Beispiel: ‚Disko Partizani‘ 20 259 000 Streams. Auf YouTube haben das, glaube ich, 15 Millionen Leute angeschaut.“ Anmerkung von mir: Es sind sogar noch mehr.
Alleine ein Tanzvideo aus New York, wo Menschen spontan zu diesem Song tanzen, hat 17 Millionen Aufrufe. Shantel zieht daraus einen Schluss: „Ich erwähne das deswegen, weil wir ja mal darüber gesprochen haben, was eigentlich der Sound of Frankfurt ist? Ist es Techno? Ist es etwas Anderes? Und ich komm mit diesen Zahlen und behaupte, dass der Sound Frankfurts immer ein kosmopolitischer war. Und dass diese Sachen, die ich gemacht habe, auf internationaler Ebene eine derartige Durchschlagskraft entwickelt haben, eben weil sie so vielschichtig, international und politisch sind.“ Perfekt gesagt. Wenn es extern nicht ausreichend anerkannt wird, muss der Künstler solche Tatsachen in der Tat selber mal aussprechen.
Sicht- und Hörbarmachung von Diversität
Somit ist beim aktuellen Metropolis-Projekt seine Band auch wieder anders besetzt als bei früheren Alben. Shantel: „Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Band aus Freundinnen und Freunden von mir besteht.“ Aber er entscheidet immer, wie es weitergeht, wenn sein Name oben auf dem Cover steht: „Die Bandbesetzung war schon immer eine Versuchsanordnung“, verrät er, „weil es immer eine Reflexion meiner eigenen Familiengeschichte ist.
Mir ging es immer um diesen Diskurs, die Identität, die ich als Künstler habe, der in Deutschland geboren ist, in Frankfurt am Main lebt, und der versucht, seine Familiengeschichte musikalisch, künstlerisch hörbar zu machen.“ Es gehe ihm also immer „um Sichtbarmachung, Hörbarmachung von Diversität“.
Und insofern steht das neue, andere Album voll in der Kontinuität des Shantelschen Schaffens. Der Künstler über die verschiedenen Kapitel seiner musikalischen Entwicklung: „Bukovina oder das Istanbul Album oder eben auch die Arbeiten, als ich stärker elektronische Musik gemacht habe, die haben eigentlich alle denselben musikalischen Stammbaum. Im Prinzip speist sich alles aus dieser griechisch-byzantinischen Musikkultur. Also 4000 Jahre hellenistische Musikkultur.“
Und das hat auch viel mit ihm persönlich zu tun, wie er jetzt gelernt habe. Nach seinen Ausflügen in das ukrainisch-ungarische Grenzgebiet, wo die Bukowina ja heute liegt, hat Shantel nun eine neue Sicht auf sein eigenes Schaffen gewonnen: „Im Grunde genommen war Griechenland für mich immer der Dreh- und Angelpunkt, weil sich darauf immer alles konzentriert hat.“ Und beinahe überrascht findet er, dass das auch allgemein für diese Musik gilt: „Also, wenn man jetzt, Balkan-Musik analysiert, dann wird man immer zu dem Punkt kommen, dass die Harmonien, die Melodien, also die Skalen, die Tonleitern, alle byzantinischen Ursprungs sind. Die sind alle aus dem antiken Griechenland“.
Und jetzt haben wir auch kapiert, warum Shantels Musik und ganz besonders das neue Rembetiko-Album echt Frankfurterisch ist.
>> Dieser Text erschien zuerst in der Juni-Ausgabedes JOURNAL FRANKFURT (6/23).
18. Juni 2023, 11.35 Uhr
Jens Prewo
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23. Dezember 2024
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