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Gespräch über die Trauer
Angesichts des Todes
Wie geht eine Intellektuelle mit den Erschütterungen um, die ihr Leben treffen? Olga Martynova sucht das Gespräch mit ihren Lektüren. Und schlägt damit eine Brücke zur Welt.
Olga Martynova ist eine Frankfurter Schriftstellerin. Olga Martynova ist eine deutschsprachige Schriftstellerin. Olga Martynova ist eine russische Schriftstellerin. All das ist wahr, und all das lässt sich auch ihrem neuen Buch ablesen, das ein eindrucksvolles ist und mit Sicherheit auch ihr persönlichstes, und dessen Thema schon im Titel formuliert wird: „Gespräch über die Trauer“. Ich habe Olga Martynova vor etwa 20 Jahren kennengelernt. Es war eine Verabredung für ein Doppelporträt; zwei russische Schriftsteller, die es nach Frankfurt verschlagen hat: Martynova und ihr Mann Oleg Jurjew. Jurjew war es, der mich seinerzeit bat, erst am Nachmittag zu ihnen zu kommen; „nachts arbeiten und vormittags schlafen wir“.
Ich erinnere mich, dass ich ins Überlegen kam – ob die beiden sich mit einem anstrengenden Zweitjob die Nächte um die Ohren schlagen müssten. Aber nein: „Arbeiten heißt für uns: Schreiben“, sagte Olga Martynova beim Gespräch. Und das ginge bei ihnen am besten in der Nacht. Ende 1990 waren Jurjew und Martynova gemeinsam mit ihrem seinerzeit zweijährigen Sohn Daniel auf Einladung des Berliner Senats mit einer Gruppe russischer Literaten nach West-Berlin gekommen, um Lesungen zu halten. Das Visum galt für drei Monate, und ein Bekannter in Hannover drängte sie, nicht nach Russland in die politischen Wirren zurückzukehren. „Besorg uns eine Wohnung, die wir bezahlen können, und wir bleiben“, antwortete das Paar. Die bezahlbare Wohnung befand sich kurioserweise ausgerechnet in Frankfurt, und so blieben sie, im Frankfurter Ostend, in unmittelbarer Nähe des Zoos. Daniel Jurjew arbeitet mittlerweile selbst als Übersetzer. Und Oleg Jurjew ist tot.
Dieser Verlust ist der Erzählanlass für das „Gespräch über die Trauer“. Jurjew starb am 5. Juli 2018 in Frankfurt am Main. „Gespräch über die Trauer“ ist ein Reflexions- und Trostbuch in Tagebuchform. Es setzt am 3. August 2018 ein mit den Worten: „Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzerfahrung. Vielleicht erlaubt diese Abwesenheit der Gegenwart, den unerträglichen Schmerz zu ertragen. Wozu nur? Später überfährt dich die Gegenwart wie eine Lokomotive. Bis der Trost eintritt, schimmert noch Hoffnung.“ Acht Tage später, am 11. August 2018, ergänzt Olga Martynova: „Die am meisten unerwiderte Liebe ist die Liebe zu einem Gestorbenen.“
Olga Martynova: Gespräch über die Trauer im Hessischen Literaturforum
Der Tonfall ist damit gesetzt. Er ist elegisch, selbstverständlich, zurückhaltend, aber jederzeit klug und assoziativ. Zu der privaten Katastrophe, die über ihr Leben überraschend hereingebrochen ist, kommt nach und nach die politische Katastrophe hinzu, und beide vermischen sich: Der russische Überfall auf die Ukraine sorgt zum einen dafür, dass Olga Martynova nicht mehr an das Grab ihres Mannes nach Russland fahren kann. Zum anderen setzt er aber auch ganz andere Dynamiken, andere Reflexionsprozesse frei: „‚ich lebe seit Olegs Tod mit einer Katastrophe, die andauert, deren Eigenschaft die Dauer bis zum Ende meines Lebens ist. Dieser Krieg ist noch eine Katastrophe, die jetzt da ist und nie verschwinden wird, egal, wie es ausgeht‘, habe ich gestern in einer E-Mail geschrieben.“ Das notiert Olga Martynova kurz nach dem Ausbruch des Kriegs. Mit einem Auszug aus „Gespräch über die Trauer“ war Olga Martynova in diesem Jahr für den Wortmeldungen-Literaturpreis der Crespo Foundation nominiert.
Sie hätte ihn verdient gehabt. Das wird jetzt deutlich, da das Buch in voller Länge vorliegt. 300 Seiten. Und man fragt sich natürlich ein wenig angstvoll: Kann das gut gehen? Dieses Thema, dieser Ton über eine so lange Strecke? Wird das nicht zu privatistisch? Nein, ganz eindeutig nicht. Weil in diesen Gedanken so viel Welt steckt, so viel Literatur und Kunst. Und auch so viele Brückenschläge, Denkangebote. Wenn man nachvollziehen möchte, wie Gelesenes produktiv wird. Olga Martynova tritt in einen Dialog mit ihren Lektüren, aber sie belässt es nicht dabei. Durch das Teilhabenlassen ihrer Leser schlägt sie eine Brücke über den Verlust hinweg. Das mitzuverfolgen, ist berührend und
erhellend.
Info
Olga Martynova: Gespräch über die Trauer. S. Fischer Verlag, 304 S., 25 €, Lesung: Frankfurt, Hessisches Literaturforum, 28.9., 19.30 Uhr, Eintritt: 5 €/8 €/12 €
Ich erinnere mich, dass ich ins Überlegen kam – ob die beiden sich mit einem anstrengenden Zweitjob die Nächte um die Ohren schlagen müssten. Aber nein: „Arbeiten heißt für uns: Schreiben“, sagte Olga Martynova beim Gespräch. Und das ginge bei ihnen am besten in der Nacht. Ende 1990 waren Jurjew und Martynova gemeinsam mit ihrem seinerzeit zweijährigen Sohn Daniel auf Einladung des Berliner Senats mit einer Gruppe russischer Literaten nach West-Berlin gekommen, um Lesungen zu halten. Das Visum galt für drei Monate, und ein Bekannter in Hannover drängte sie, nicht nach Russland in die politischen Wirren zurückzukehren. „Besorg uns eine Wohnung, die wir bezahlen können, und wir bleiben“, antwortete das Paar. Die bezahlbare Wohnung befand sich kurioserweise ausgerechnet in Frankfurt, und so blieben sie, im Frankfurter Ostend, in unmittelbarer Nähe des Zoos. Daniel Jurjew arbeitet mittlerweile selbst als Übersetzer. Und Oleg Jurjew ist tot.
Dieser Verlust ist der Erzählanlass für das „Gespräch über die Trauer“. Jurjew starb am 5. Juli 2018 in Frankfurt am Main. „Gespräch über die Trauer“ ist ein Reflexions- und Trostbuch in Tagebuchform. Es setzt am 3. August 2018 ein mit den Worten: „Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzerfahrung. Vielleicht erlaubt diese Abwesenheit der Gegenwart, den unerträglichen Schmerz zu ertragen. Wozu nur? Später überfährt dich die Gegenwart wie eine Lokomotive. Bis der Trost eintritt, schimmert noch Hoffnung.“ Acht Tage später, am 11. August 2018, ergänzt Olga Martynova: „Die am meisten unerwiderte Liebe ist die Liebe zu einem Gestorbenen.“
Der Tonfall ist damit gesetzt. Er ist elegisch, selbstverständlich, zurückhaltend, aber jederzeit klug und assoziativ. Zu der privaten Katastrophe, die über ihr Leben überraschend hereingebrochen ist, kommt nach und nach die politische Katastrophe hinzu, und beide vermischen sich: Der russische Überfall auf die Ukraine sorgt zum einen dafür, dass Olga Martynova nicht mehr an das Grab ihres Mannes nach Russland fahren kann. Zum anderen setzt er aber auch ganz andere Dynamiken, andere Reflexionsprozesse frei: „‚ich lebe seit Olegs Tod mit einer Katastrophe, die andauert, deren Eigenschaft die Dauer bis zum Ende meines Lebens ist. Dieser Krieg ist noch eine Katastrophe, die jetzt da ist und nie verschwinden wird, egal, wie es ausgeht‘, habe ich gestern in einer E-Mail geschrieben.“ Das notiert Olga Martynova kurz nach dem Ausbruch des Kriegs. Mit einem Auszug aus „Gespräch über die Trauer“ war Olga Martynova in diesem Jahr für den Wortmeldungen-Literaturpreis der Crespo Foundation nominiert.
Sie hätte ihn verdient gehabt. Das wird jetzt deutlich, da das Buch in voller Länge vorliegt. 300 Seiten. Und man fragt sich natürlich ein wenig angstvoll: Kann das gut gehen? Dieses Thema, dieser Ton über eine so lange Strecke? Wird das nicht zu privatistisch? Nein, ganz eindeutig nicht. Weil in diesen Gedanken so viel Welt steckt, so viel Literatur und Kunst. Und auch so viele Brückenschläge, Denkangebote. Wenn man nachvollziehen möchte, wie Gelesenes produktiv wird. Olga Martynova tritt in einen Dialog mit ihren Lektüren, aber sie belässt es nicht dabei. Durch das Teilhabenlassen ihrer Leser schlägt sie eine Brücke über den Verlust hinweg. Das mitzuverfolgen, ist berührend und
erhellend.
Olga Martynova: Gespräch über die Trauer. S. Fischer Verlag, 304 S., 25 €, Lesung: Frankfurt, Hessisches Literaturforum, 28.9., 19.30 Uhr, Eintritt: 5 €/8 €/12 €
25. September 2023, 09.19 Uhr
Christoph Schröder
Christoph Schröder
Christoph Schröder studierte in Mainz Germanistik, Komparatistik und Philosophie. Seine Interessensschwerpunkte liegen auf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem Literaturbetrieb. Er ist Dozent für Literaturkritik an der Goethe-Universität Frankfurt. Mehr von Christoph
Schröder >>
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Text: Jasmin Schülke / Foto: © Bernd Kammerer
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