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Deutsche Nationalbibliothek
Ein Mann mit vielen Rollen
Marcel Reich-Ranicki war Holocaust-Überlebender, Literaturpapst, Heimatloser und Charismatiker. Nun ist ihm eine Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek gewidmet. Dabei geht der Blick sowohl auf seine beispiellose Karriere als auch auf den Menschen dahinter.
Ganz am Ende der Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek steht eine lederne Sitzgruppe: drei Sessel und ein Zweisitzer. Fünf Plätze für vier Personen – die Aufteilung der Platzverhältnisse in der legendär gewordenen Originalfassung der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ spricht für sich. Auf dem Doppelsitzer hing, saß, lümmelte stets Marcel-Reich-Ranicki, immer etwas in Schieflage, die Hosenbeine nach oben gerutscht, aber immer mit Kniestrümpfen, so dass man niemals seine nackten Beine zu sehen bekam (vielen Dank dafür!). Wenn er etwas besonders Bedeutsames zu sagen hatte, hievte er sich an den beiden Sitzlehnen nach oben, beugte sich vor, den Zeigefinger drohend und belehrend zugleich erhoben und feuerte eine rhetorische Salve ab, die meistens saß.
So kannte das Publikum Marcel Reich-Ranicki in einer seiner Rollen, der des Medienstars, des Literaturpapstes, des einflussreichsten Kritikers der Nachkriegszeit. Wer ihn wirklich kannte? Seine Ehefrau Teofila, die er im Warschauer Getto kennenlernte und die ihm zu seinem 21. Geburtstag eine Kladde schenkte mit von ihr handschriftlich eingetragenen Gedichten aus Erich Kästners lyrischer Hausapotheke und ergänzt mit Zeichnungen von eigener Hand. Vielleicht kannten ihn auch einige enge Freunde und Wegbegleiter aus der langen Frankfurter Zeit. Die Schriftstellerin Eva Demski, die nicht weit entfernt von Reich-Ranicki lebte und noch heute lebt, im Dichterviertel selbstverständlich, wo sonst?
Die Ausstellung im ersten Stock der Deutschen Nationalbibliothek ist nicht allzu groß, aber reich an Informationen, Perspektiven und Zeitdokumenten von höchstem Wert. Kuratiert wurde die Ausstellung von Uwe Wittstock, dem Frankfurter Literaturkritiker, den Reich-Ranicki seinerzeit zur FAZ holte, und Sylvia Asmus, der Leiterin des Deutschen Exilarchivs. Die Ausstellung zeigt Reich-Ranicki in seinen Rollen als Zeitzeugen, Heimatsuchenden, Kritiker, Literaturvermittler, Freund, Medienstar und als Juden. Und in keiner dieser Einzelrollen wird man den Menschen dahinter erkennen; ein ungefähres Bild ergibt sich nur in der Gesamtschau.
Reich-Ranicki, 1920 in Pommern geboren, in Berlin aufgewachsen, Überlebender des Warschauer Gettos. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er in einer Doppelrolle als Konsul und Agent für den polnischen Geheimdienst. Seine anfängliche Sympathie für den Kommunismus war ein Resultat der simplen Tatsache, dass die Rote Armee ihm das Leben gerettet hatte. Doch Reich-Ranicki war zu nonkonformistisch, um in einem solchen System zu funktionieren. 1959 siedelten er, seine Ehefrau Teofila und der in London geborene Sohn Andrew in die Bundesrepublik um. Dort begann eine beispiellose Karriere im Literaturbetrieb, die, wie die Ausstellung zeigt, immer wieder dann an Grenzen stieß, wenn Institutionen im Spiel waren: die Gruppe 47 beispielsweise oder auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied Reich-Ranicki niemals werden durfte.
Wie auch schon die große Ausstellung im Holzhausenschlösschen im Jahr 2000 hat die aktuelle Ausstellung einen merkwürdigen Effekt: Sie macht einem diesen komplizierten Menschen Reich-Ranicki wesentlich sympathischer als es einem der Medienstar und Kritiker mit seinen apodiktischen Urteilen und seinen frauenfeindlichen Sprüchen jemals hätte sein dürfen. Die Zeitschrift „EMMA“ kürte ihn gleich mehrfach zum Sieger in der Rubrik „Pascha des Monats“. Auch solche kuriosen Schnipsel finden sich in den Vitrinen der Ausstellung. Vor allem aber auch hoch spannende Briefwechsel mit Zeitgenossen, Freunden, Kollegen, Schriftstellern; Heinrich Böll oder Walter Jens. Letzterer war über Jahrzehnte hinweg einer der engsten Freunde Reich-Ranickis, bevor man sich im großen Literaturstreit über den Umgang mit ostdeutschen Schriftstellern überwarf und Jens’ Sohn Tilman die bis dahin geheime Tätigkeit Reich-Ranickis für den polnischen Geheimdienst aufdeckte. Die Ausstellung ist eine Fundgrube an Zitaten zu Themen wie Heimat, Religion und über die Stadt Frankfurt. Seine Heimat, so sagte Reich-Ranicki es oft, sei die Literatur. Sonst nichts. Und man hat es ihm jedes Mal geglaubt.
>> Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen; Deutsche Nationalbibliothek, Adickesallee 1, bis 14.1.23, Mo–Fr 9–21.30, Sa 10–17.30 Uhr, Eintritt frei
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Dieser Text ist zuerst in der August-Ausgabe (8/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
So kannte das Publikum Marcel Reich-Ranicki in einer seiner Rollen, der des Medienstars, des Literaturpapstes, des einflussreichsten Kritikers der Nachkriegszeit. Wer ihn wirklich kannte? Seine Ehefrau Teofila, die er im Warschauer Getto kennenlernte und die ihm zu seinem 21. Geburtstag eine Kladde schenkte mit von ihr handschriftlich eingetragenen Gedichten aus Erich Kästners lyrischer Hausapotheke und ergänzt mit Zeichnungen von eigener Hand. Vielleicht kannten ihn auch einige enge Freunde und Wegbegleiter aus der langen Frankfurter Zeit. Die Schriftstellerin Eva Demski, die nicht weit entfernt von Reich-Ranicki lebte und noch heute lebt, im Dichterviertel selbstverständlich, wo sonst?
Die Ausstellung im ersten Stock der Deutschen Nationalbibliothek ist nicht allzu groß, aber reich an Informationen, Perspektiven und Zeitdokumenten von höchstem Wert. Kuratiert wurde die Ausstellung von Uwe Wittstock, dem Frankfurter Literaturkritiker, den Reich-Ranicki seinerzeit zur FAZ holte, und Sylvia Asmus, der Leiterin des Deutschen Exilarchivs. Die Ausstellung zeigt Reich-Ranicki in seinen Rollen als Zeitzeugen, Heimatsuchenden, Kritiker, Literaturvermittler, Freund, Medienstar und als Juden. Und in keiner dieser Einzelrollen wird man den Menschen dahinter erkennen; ein ungefähres Bild ergibt sich nur in der Gesamtschau.
Reich-Ranicki, 1920 in Pommern geboren, in Berlin aufgewachsen, Überlebender des Warschauer Gettos. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er in einer Doppelrolle als Konsul und Agent für den polnischen Geheimdienst. Seine anfängliche Sympathie für den Kommunismus war ein Resultat der simplen Tatsache, dass die Rote Armee ihm das Leben gerettet hatte. Doch Reich-Ranicki war zu nonkonformistisch, um in einem solchen System zu funktionieren. 1959 siedelten er, seine Ehefrau Teofila und der in London geborene Sohn Andrew in die Bundesrepublik um. Dort begann eine beispiellose Karriere im Literaturbetrieb, die, wie die Ausstellung zeigt, immer wieder dann an Grenzen stieß, wenn Institutionen im Spiel waren: die Gruppe 47 beispielsweise oder auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied Reich-Ranicki niemals werden durfte.
Wie auch schon die große Ausstellung im Holzhausenschlösschen im Jahr 2000 hat die aktuelle Ausstellung einen merkwürdigen Effekt: Sie macht einem diesen komplizierten Menschen Reich-Ranicki wesentlich sympathischer als es einem der Medienstar und Kritiker mit seinen apodiktischen Urteilen und seinen frauenfeindlichen Sprüchen jemals hätte sein dürfen. Die Zeitschrift „EMMA“ kürte ihn gleich mehrfach zum Sieger in der Rubrik „Pascha des Monats“. Auch solche kuriosen Schnipsel finden sich in den Vitrinen der Ausstellung. Vor allem aber auch hoch spannende Briefwechsel mit Zeitgenossen, Freunden, Kollegen, Schriftstellern; Heinrich Böll oder Walter Jens. Letzterer war über Jahrzehnte hinweg einer der engsten Freunde Reich-Ranickis, bevor man sich im großen Literaturstreit über den Umgang mit ostdeutschen Schriftstellern überwarf und Jens’ Sohn Tilman die bis dahin geheime Tätigkeit Reich-Ranickis für den polnischen Geheimdienst aufdeckte. Die Ausstellung ist eine Fundgrube an Zitaten zu Themen wie Heimat, Religion und über die Stadt Frankfurt. Seine Heimat, so sagte Reich-Ranicki es oft, sei die Literatur. Sonst nichts. Und man hat es ihm jedes Mal geglaubt.
>> Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen; Deutsche Nationalbibliothek, Adickesallee 1, bis 14.1.23, Mo–Fr 9–21.30, Sa 10–17.30 Uhr, Eintritt frei
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Dieser Text ist zuerst in der August-Ausgabe (8/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
11. August 2022, 11.56 Uhr
Christoph Schröder
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