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Rainer Weiss über Frankfurt
„Für jede Überraschung gut“
Am vergangenen Freitag wurde der Verleger Rainer Weiss mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Für seine Dankesrede und für uns hat er aufgeschrieben, weshalb er Frankfurt zu Beginn nicht mochte und wie Boris Becker es schließlich geschafft hat, das zu ändern.
Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen: Als ich am späten Abend des 31. März 1985 in Frankfurt am Main ankam, um am Folgetag, dem 1. April, meine Arbeit im Suhrkamp Verlag anzutreten, konnte ich nicht ahnen, dass diese Stadt meine Stadt werden, dass sie mir ihr zunächst unfreundliches Gesicht, wie es mir schien, mit jedem Jahr mehr und immer ausdrucksstärker zuwenden würde.
Ich erinnere mich noch, wie ich nach 23 Uhr auf der Suche nach einem ersten Bier durch Alt-Bornheim irrte, mich fremd und einsam fühlte und mich das Gefühl übermannte, etwas unendlich Falsches getan zu haben. Natürlich fand ich in diesem Zustand eines geradezu archaischen Abgewiesenseins keine mir zusagende Kneipe und ich kehrte mit trockener Kehle in das Pfarrhaus der Evangelischen Kirchengemeinde Bornheim zurück, in dem ich die nächsten Wochen meine Nächte zu verbringen gedachte. Der überaus freundliche Hausherr, Pfarrer Konrad Elsässer, den ich aus längst vergangenen Studientagen in Heidelberg kannte, hatte mir ein Zimmer angeboten, um von hier aus mein vor mir stehendes Leben in Frankfurt starten zu können.
Ich gab mir fortan alle Mühe, jeden Tag in den U-Bahnhof Bornheim-Mitte hinabzusteigen, obschon die dortige Untergrundluft, die mich entfernt an ältliches Katzenstreu erinnerte, meine Laune nicht wirklich zu erhellen vermochte, um schließlich im U-Bahnhof Westend die Treppen nach oben zu nehmen, wo mich alsbald das Suhrkamp-Haus erwartete. Ich weiß noch, dass mich in den ersten Wochen Dutzende Male der Gedanke überfiel, wieder nach München zurückzukehren, wo ich viele Freunde und nicht zuletzt meine dreieinhalbjährige Tochter Karline bei ihrer Mutter zurückgelassen hatte. Denn in Frankfurt kannte ich niemanden und meine neuen Kollegen sahen mich, wie ich fand, eher böse an. Dass es in den nächsten Wochen jeden Tag regnete, feucht und kalt war und der Frühling in diesem Jahr 1985 ausfiel, stimmt zwar nicht, aber ich empfand es so.
Erst im Juli änderte sich alles grundlegend, und zwar durch ein Wunder, das nicht nur mich, sondern ganz Deutschland überfiel. Ich saß im Zimmer meines am Nachmittag des 7. Juli abwesenden Pfarrerfreundes, sah fern und wurde Zeuge, wie ein rotblonder 17-Jähriger namens Boris Becker um 17.26 Uhr seinen Matchball gegen Kevin Curren verwandelte und – ein deutscher Junge, ein badisches Geschöpf wie ich – Wimbledon gewann. Ich weiß noch, dass es mich kurz danach nicht mehr in der Wohnung hielt und ich nach draußen eilte, wo ich das überschäumende Glück bei einem Apfelwein, der mir plötzlich zu schmecken begann, mit mir unbekannten Menschen teilte, die ich zu meinem eigenen Erstaunen als Brüder und Schwestern wahrnahm. Und ohne es damals bemerkt zu haben, kann ich heute sagen: An diesem Julitag 1985 war ich in Frankfurt angekommen.
Es sind nun 34 Jahre her seit jenem Tag, und ich kann sagen, dass ich in all diesen Jahren hier – auch in schwierigen Zeiten – nie daran gedacht habe, Frankfurt wieder zu verlassen. Ich habe in dieser Stadt wunderbare Freunde, außerordentlich interessante, gescheite und neugierige Menschen gefunden, vieles Denkwürdige erlebt, mich beruflich etabliert und darüber hinaus mit großer Entschiedenheit einen Schwur gebrochen, nämlich den: nie im Leben heiraten zu wollen. Frankfurt, so kann ich sagen, ist eben für jede Überraschung gut.
Über Rainer Weiss: Jahrgang 1949, Studium der Philosophie und Literaturgeschichte. Von 1978 bis 1984 tätig beim Piper Verlag, 1985 bis 2006 beim Suhrkamp Verlag: zunächst als Lektor, dann als Leiter des Theaterverlags, Pressesprecher, Programmdirektor und schließlich Programmgeschäftsführer der Verlage Suhrkamp und Insel. 2008 gründete er den Verlag Weissbooks.w in Frankfurt. 2017 zog er sich aus dem operativen Geschäft zurück und widmet sich heute vor allem seinem Engagement im Kreisligaverein FC Gudesding, dessen 1. Vorsitzender er ist.
Ich erinnere mich noch, wie ich nach 23 Uhr auf der Suche nach einem ersten Bier durch Alt-Bornheim irrte, mich fremd und einsam fühlte und mich das Gefühl übermannte, etwas unendlich Falsches getan zu haben. Natürlich fand ich in diesem Zustand eines geradezu archaischen Abgewiesenseins keine mir zusagende Kneipe und ich kehrte mit trockener Kehle in das Pfarrhaus der Evangelischen Kirchengemeinde Bornheim zurück, in dem ich die nächsten Wochen meine Nächte zu verbringen gedachte. Der überaus freundliche Hausherr, Pfarrer Konrad Elsässer, den ich aus längst vergangenen Studientagen in Heidelberg kannte, hatte mir ein Zimmer angeboten, um von hier aus mein vor mir stehendes Leben in Frankfurt starten zu können.
Ich gab mir fortan alle Mühe, jeden Tag in den U-Bahnhof Bornheim-Mitte hinabzusteigen, obschon die dortige Untergrundluft, die mich entfernt an ältliches Katzenstreu erinnerte, meine Laune nicht wirklich zu erhellen vermochte, um schließlich im U-Bahnhof Westend die Treppen nach oben zu nehmen, wo mich alsbald das Suhrkamp-Haus erwartete. Ich weiß noch, dass mich in den ersten Wochen Dutzende Male der Gedanke überfiel, wieder nach München zurückzukehren, wo ich viele Freunde und nicht zuletzt meine dreieinhalbjährige Tochter Karline bei ihrer Mutter zurückgelassen hatte. Denn in Frankfurt kannte ich niemanden und meine neuen Kollegen sahen mich, wie ich fand, eher böse an. Dass es in den nächsten Wochen jeden Tag regnete, feucht und kalt war und der Frühling in diesem Jahr 1985 ausfiel, stimmt zwar nicht, aber ich empfand es so.
Erst im Juli änderte sich alles grundlegend, und zwar durch ein Wunder, das nicht nur mich, sondern ganz Deutschland überfiel. Ich saß im Zimmer meines am Nachmittag des 7. Juli abwesenden Pfarrerfreundes, sah fern und wurde Zeuge, wie ein rotblonder 17-Jähriger namens Boris Becker um 17.26 Uhr seinen Matchball gegen Kevin Curren verwandelte und – ein deutscher Junge, ein badisches Geschöpf wie ich – Wimbledon gewann. Ich weiß noch, dass es mich kurz danach nicht mehr in der Wohnung hielt und ich nach draußen eilte, wo ich das überschäumende Glück bei einem Apfelwein, der mir plötzlich zu schmecken begann, mit mir unbekannten Menschen teilte, die ich zu meinem eigenen Erstaunen als Brüder und Schwestern wahrnahm. Und ohne es damals bemerkt zu haben, kann ich heute sagen: An diesem Julitag 1985 war ich in Frankfurt angekommen.
Es sind nun 34 Jahre her seit jenem Tag, und ich kann sagen, dass ich in all diesen Jahren hier – auch in schwierigen Zeiten – nie daran gedacht habe, Frankfurt wieder zu verlassen. Ich habe in dieser Stadt wunderbare Freunde, außerordentlich interessante, gescheite und neugierige Menschen gefunden, vieles Denkwürdige erlebt, mich beruflich etabliert und darüber hinaus mit großer Entschiedenheit einen Schwur gebrochen, nämlich den: nie im Leben heiraten zu wollen. Frankfurt, so kann ich sagen, ist eben für jede Überraschung gut.
Über Rainer Weiss: Jahrgang 1949, Studium der Philosophie und Literaturgeschichte. Von 1978 bis 1984 tätig beim Piper Verlag, 1985 bis 2006 beim Suhrkamp Verlag: zunächst als Lektor, dann als Leiter des Theaterverlags, Pressesprecher, Programmdirektor und schließlich Programmgeschäftsführer der Verlage Suhrkamp und Insel. 2008 gründete er den Verlag Weissbooks.w in Frankfurt. 2017 zog er sich aus dem operativen Geschäft zurück und widmet sich heute vor allem seinem Engagement im Kreisligaverein FC Gudesding, dessen 1. Vorsitzender er ist.
2. September 2019, 08.24 Uhr
Rainer Weiss
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31. März 2025
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