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Traumhaft
Am Neujahrsmorgen war es, da wurde ich wach und wusste mit dem ersten Lidschlag: „Ab sofort ist nichts mehr so, wie es war.“ Mit dem neuen Jahr war eine neue Ära in meinem Leben angebrochen. Der Grund dafür war mir nächtens widerfahren, und zwar Schlag halb drei. Ich war nämlich wach geworden, weil ich Sensationelles geträumt hatte. Genaugenommen war es wahrscheinlich nur ein Zehntelsekundentraum, eine Art göttliche Eingebung, ein Geistesblitz der besonders genialen Art: Mir war ein Satz gekommen! Ich sprang sofort hoch, suchte Block und Papier und schrieb ihn auf. Dann schlief ich sofort wieder ein und träumte beseelt meinen Ruhm. Mir war nämlich klar: Dieser Satz, er wird den Kern eines Romans bilden, nach dessen Erscheinen die Geschichte der Weltliteratur neu geschrieben werden müsste. Auch das Genre wurde mir eingegeben: Ein Kriegsroman sollte es werden! Da muss man erst mal drauf kommen! Ein Kriegsroman! Michi Herl, der Autor eines der wichtigsten Kriegsromane seit Menschengedenken! Das Werk würde sofort an die Spitze der Bestsellerlisten schnellen und diesen Platz für die nächsten 25 Jahre behaupten. Es würde als 982-minütiger Sandalenfilm erscheinen. Und ich würde in allen maßgeblichen Talkshows sitzen – und zwar immer. Woche für Woche.
Ich würde beim nächsten Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt eine Rede halten – und zwar drei Tage lang. Ununterbrochen. Und alle würden sie an meinen Lippen hängen. Dixihäuschen müssten mitten im Kaisersaal des Römers aufgestellt werden, weil niemand sich traute, den Saal auch nur für fünf Minuten zu verlassen und dadurch Teile meiner Rede zu verpassen. Ich wäre mit Günter Grass befreundet, mit Ulrich Wickert, Helga Beimer, Hugo Müller-Vogg, Knut, Sarah Wiener, Roland Koch, Jürgen Emig, mit Gott und mit den Jacob Sisters. Ich würde immer am Bild-Stammtisch zur Eröffnung der Dippemess sitzen. Der hr würde mir eine Sendung anbieten, zusammen mit Roberto Cappelluti wäre ich jeden Abend zu sehen. Oder vielleicht lieber mit Bärbel Schäfer? Egal, ich dürfte es mir aussuchen. Das Journal Frankfurt ließe mich regelmäßig eine Kolumne schreiben, und dessen Chefredakteur würde sich gelegentlich mit mir betrinken. All dies würde passieren und noch viel mehr. Voller Vorfreude auf mein neues Leben schnellte ich hoch, griff zum Nachttisch und las ihn, den Satz aller Sätze. Ich war überwältigt. Er lautete: „Die feindlichen Truppen drangen ins Land ein, überwältigten 26?000 Hanutas und entwaffelten sie.“
Erschienen im Journal Frankfurt, Ausgabe 03/2009.
Ich würde beim nächsten Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt eine Rede halten – und zwar drei Tage lang. Ununterbrochen. Und alle würden sie an meinen Lippen hängen. Dixihäuschen müssten mitten im Kaisersaal des Römers aufgestellt werden, weil niemand sich traute, den Saal auch nur für fünf Minuten zu verlassen und dadurch Teile meiner Rede zu verpassen. Ich wäre mit Günter Grass befreundet, mit Ulrich Wickert, Helga Beimer, Hugo Müller-Vogg, Knut, Sarah Wiener, Roland Koch, Jürgen Emig, mit Gott und mit den Jacob Sisters. Ich würde immer am Bild-Stammtisch zur Eröffnung der Dippemess sitzen. Der hr würde mir eine Sendung anbieten, zusammen mit Roberto Cappelluti wäre ich jeden Abend zu sehen. Oder vielleicht lieber mit Bärbel Schäfer? Egal, ich dürfte es mir aussuchen. Das Journal Frankfurt ließe mich regelmäßig eine Kolumne schreiben, und dessen Chefredakteur würde sich gelegentlich mit mir betrinken. All dies würde passieren und noch viel mehr. Voller Vorfreude auf mein neues Leben schnellte ich hoch, griff zum Nachttisch und las ihn, den Satz aller Sätze. Ich war überwältigt. Er lautete: „Die feindlichen Truppen drangen ins Land ein, überwältigten 26?000 Hanutas und entwaffelten sie.“
Erschienen im Journal Frankfurt, Ausgabe 03/2009.
31. Januar 2009, 09.19 Uhr
Michi Herl
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