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Städel Museum: Realistik und Abstraktion

Die Bewahrerin des freien Denkens

Die Ausstellung „Große Realistik und große Abstraktion“ im Städel Museum zeigt die Bedeutung und Autonomie, welche die Zeichnung im 20. Jahrhundert erhielt – einem Zeitalter, das von Umbrüchen und Neuentdeckungen geprägt war.
Eine Zeichnung ist etwas höchst Intimes, zeigt sich darin doch der ganze künstlerische Schaffensprozess, mitsamt aller Fort- und Rückschritte. Während ein Gemälde die vollendete Perfektion, das erhabene Meisterwerk zeigt, offenbart die Skizze Spontanität und Sprunghaftes, möglicherweise auch Zweifel und Verzagen oder aber mutige Selbstsicherheit. Und so stellt die Ausstellung „Große Realistik und große Abstraktion“ im Städel Museum eine Nähe zu den gezeigten Künstlern her, wie man sie selten erlebt. Rund 100 Blätter von über 40 Künstlern zeigen, welche Bedeutung und Autonomie die Zeichnung insbesondere im 20. Jahrhundert erhielt.




Johannes Grützke (1937–2017). © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: © Städel Museum

Der Beginn der Raumfahrt, die Atombombe, zwei Weltkriege, die Trennung und Wiedervereinigung Deutschlands und der damit einhergehende Aufstieg und Niedergang von Imperialismus, Faschismus und Sozialismus stellten die Gesellschaft und damit auch die Kunst vor enorme Herausforderungen. Es war ein Jahrhundert des Suchens und Findens, des Brechens mit alten Mustern und des Neuentdeckens – und die Zeichnung war das Medium, in dem sich eben dieses Suchen und Finden bewältigen ließ.

Den Auftakt der Ausstellung machen zwei Arbeiten von Max Beckmann und Ernst Ludwig Kirchner, die das Städel selbst als „meisterhaft“ anpreist. Meisterhaft sind sie tatsächlich; gleichzeitig voller Gefühl und Kraft. In den Arbeiten zeigt sich die Abwendung von dem bisher an den Akademien Gelehrten und die Erschaffung eines neuen Stils. Es wird nicht mehr nur das offensichtlich Sichtbare gezeigt, sondern vielmehr innere Spannungen und Prozesse an die Oberfläche gebracht. Und das offensichtlich Sichtbare wird so zu Papier gebracht, dass es sich auflöst, verschwimmt und etwas gänzlich Neues entsteht.




Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938). Foto: © Städel Museum

Diese Auseinandersetzung mit neuen Bildsprachen zieht sich durch die gesamte Schau. Was mit Beckmann beginnt, endet mit Richter – dazwischen liegt ein Jahrhundert voller Umbrüche, Unterdrückung und Befreiung. Es ist ein Jahrhundert der Zäsur, in dem die Kunst einmal mehr zur Bewahrerin des freien Denkens wird. Ob Expressionismus und dessen abstrahierende Tendenzen, das Informel oder die Pop Art – sie alle spielen mit den Brüchen und Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts, finden neue Perspektiven und loten die Grenzen der bisher gültigen Wirklichkeit aus. Insofern kommt die Schau im Städel, die neben Beckmann, Kirchner und Richter auch Künstler wie Emil Nolde, Paul Klee, Max Pechstein, August Macke, Karl Otto Götz, Erich Heckel, Georg Baselitz und Thomas Bayrle zeigt, wie ein Paukenschlag daher. Ein Paukenschlag, den man erleben muss. Der Besuch dieser Ausstellung kommt einer Zeitreise gleich, die einen derart mächtigen Sog entfacht, dass man sich am Ende kaum lösen und in das eigene Jahrhundert zurückkehren kann.

>> Ausstellung „Große Realistik und große Abstraktion“, 13.11.2019-16.02.2020, Städel Museum, Schaumainkai 63
 
Fotogalerie:
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14. November 2019, 11.44 Uhr
Ronja Merkel
 
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. – Mehr von Ronja Merkel >>
 
 
 
 
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