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Oliver Augst & Stereo Total im Mousonturm
Lou Reed neu erfunden
Beim ersten Rockkonzert seines Lebens wurde der 17-jährige Oliver Augst Zeuge eines Skandals. 40 Jahre später erinnert das Performance-Konzert „Lou Reed in Offenbach“ daran. Augst, Brezel Göring (Stereo Total) und Dramaturgin Charlotte Arens im Interview.
JOURNAL FRANKFURT: Was hat Oliver Augst am 6. März 1979 tatsächlich in die Stadthalle getrieben hat. Der Ruf (und Ruhm) von Lou Reed war es ja, wie zu hören war, nicht?
Oliver Augst: Ich hatte damals eigentlich keine Ahnung, wer Lou Reed ist, ganz vage vielleicht, aber darum ging es auch nicht. Anders meine Tanzstundenpartnerin, die schon alles drauf hatte und in die ich ziemlich verknallt war, und die meinte, dass man da unbedingt gemeinsam hingehen sollte. Für mich war das schon von daher gesehen irre aufregend, aber mehr dazu im Stück!
Wie kamen Sie, Brezel und Françoise, darauf, Lou Reed zum Thema einer Performance zu machen, wie fand da der Austausch statt, der zum Stück geführt hat?
Brezel Göring: Den Anstoß hat Oliver gegeben, der war ja damals Gast bei jenem katastrophalen Konzert in Offenbach. Als er uns davon erzählt hat, war uns sofort klar: Das ist der Stoff für ein Theaterstück. Wir selbst wussten ja bis dahin nicht mal, wer Lou Reed ist.
Oliver Augst: Wir sind miteinander in ständigem Kontakt und Austausch und tüfteln eigentlich permanent an verschiedenen Ideen und Projekten gleichzeitig herum. Ein wichtiger Entstehungsort unserer Projekte ist zum Beispiel die Küche von Françoise und Brezel in ihrer Wohnung in Berlin Kreuzberg. Die Küche - wie so oft - der Ort, wo gebrodelt und gebacken wird. Also, irgendwann kam ich mit der Geschichte von meiner ersten „Begegnung“ mit Lou Reed an - damals in der Offenbacher Stadthalle übrigens nicht das einzige Mal in meinem Leben.
Charlotte Arens: In der persönlichen Erinnerung an dieses Konzert steckt allein so viel drin an Kuriosität, Witz, Persönlichen Bezug, ein Verweis auf die deutsche Nachkriegsgeschichte und auf präpotente Gefühls- und Lebensrealitäten. Schnell war klar „da muss man was mit machen“. Die Umsetzung folgte unmittelbar.
Augst: Ja, Brezel und Françoise waren sofort begeistert. Kaum eine Woche später, das war alles Anfang 2018, schickte mir Françoise die Songtexte, die sie spontan dazu geschrieben hatte sowie die Texte zu den Zeitzeugen von Brezel, bevor noch irgendeine Verwertungsidee im Raum stand! Ich fand das klasse, diese Urenergie, einfach mit einem Projekt zu beginnen, Material herzustellen und erstmal komplett darauf zu pfeifen, ob und wie das jemals umgesetzt würde. Dann war ich am Zug und habe vorgeschlagen, noch im gleichen Sommer das Haus meiner Frau, quasi unser Feriendomizil im Südwesten Frankreichs, zur Verfügung zu stellen, um dort an der musikalischen Umsetzung und den Tonaufnahmen zu arbeiten. Brezel und ich schrieben die Musik, wir sind mit einem Kleinbus vollgeladen mit Musikinstrumenten und dem ganzen Studioequipment runtergefahren, haben das Haus zu einem Proberaum und Tonstudio umfunktioniert, und nach 10 Tagen war alles weitgehend im Kasten.
Arens: Das Album war also da, bevor an eine Umsetzung auf der Bühne, oder an ein Hörspiel gedacht wurde und auch lange bevor Förderung, Produktionspartner und Label gefunden waren.
Augst: Gleichzeitig haben wir während der Produktion dort schön im halbverwilderten Garten herumgelungert, gekocht, Ausflüge gemacht, waren abends am See schwimmen, leckere Weine und andere regionale kulinarische Köstlichkeiten inklusive. Wir haben uns in der Thematik, alle auf verschiedene Weise, wiedergefunden und vollkommen gleichberechtigt individuell verwirklicht. Dass das so in der „ganzheitlichen“ Form als Verbindung von Arbeit, Freundschaft und schönem Leben funktioniert hat, ist ein großes und seltenes Glück und auch so etwas wie ein langgehegter Jugendtraum von mir gewesen.
Arens: Das macht das Album auch aus: ein ungefilterter, sehr unmittelbarer und intuitiver Umgang mit dem Material. Diese Herangehensweise wollen wir auch auf die Umsetzung auf die Bühne und das Hörspiel übertragen.
Als Genre wird „Fiction Feature“ eingeführt – wie viel Realität, wie viel Erfindung ist dabei im Spiel? Wie wurde die realisiert? In Free floating associations; Wurde das Erinnerte einfach „nur" weitergesponnen?
Göring: Alle Musiker haben – unabhängig von der Musik, die natürlich bei jedem anders ist – dieselben Charakterverfehlungen. Wir brauchten nur unsere eigenen Erfahrungen und widersprüchlichen Gefühle etwas überzeichnet wiederzugeben und das Stück war fertig.
Augst: Es geht um die Perspektive eines deutschen Kleinstädters, gespiegelt im unerreichbaren amerikanischen Idol – und dann der Aberwitz, dass die „Begegnung" natürlich ausbleibt, was ja dann symbolisch für die Wirklichkeit ist, in der sich unser Kleinstädter nun mal befindet, …und der erst mal auf seine eigenen Beine kommen beziehungsweise sich mit der Normalo-Identität herumschlagen muss..., es geht um die Identität des Nachkriegsgeborenen, in einem Land mit ständigem Fokus auf Amerika, in das Sehnsuchtsjahrzehnt von Love and Peace etc.. übrigens zu einer Zeit, da Deutschland ja quasi noch von amerikanischen Soldaten besetzt war, gerade hier, in der Gegend um Frankfurt, ist man ja mit der unmittelbaren Präsenz der US-Army und am Wochenende mit besoffenen GIs in den Clubs und Regionalzügen aufgewachsen.
Die Geschichte um den 17jährigen auf seinem ersten echten Rockkonzert dient letztlich dazu, an den Rändern und zwischen den Zeilen ein Seelen-Porträt des Künstlers Lou Reed zu fabulieren. Als homosexueller Amerikaner, Superstar, Projektionsfläche, angsteinflößende Überfigur: the Animal of Rock! Das „Konzert" war dann für mich ein heilsamer Schock. Es gab nie eine bessere Art und Weise, mir zu erklären, was Rock 'n' Roll bedeuten könnte. Aber wie funktioniert nun die Erinnerung daran? Natürlich immer sehr subjektiv und, wie man weiß, unscharf ... In der Offenbach Post wurde aufgrund unseres Projekts inzwischen die Geschichte von dem sogenannten Skandalkonzert aufgegriffen und ein Aufruf gestartet an Leute, die damals dabei waren, ihre Erinnerungen mitzuteilen. Das Ergebnis ist erstaunlich. Jeder erinnert sich vor allem, wie ich, an die Bilder der zertrümmerten Bühne, an die Stühle, die durch den Saal geflogen sind und so weiter, den Ablauf des Ganzen hat aber jeder irgendwie ganz anders nacherzählt. Von der Fassung, dass das Konzert eigentlich gar nicht richtig stattfand bzw. gleich am Anfang abgebrochen wurde – so habe auch ich es abgespeichert – bis dazu, dass die Randale erst bei der Zugabe ausgebrochen ist. Aber vielleicht ist das ja alles auch gar nicht so wichtig, hier setzen wir dann mit unserer Feature-Fiktion an, den Zeitzeugen einfach unsere Versionen in den Mund zu legen.
Welche Figuren haben Sie dafür erfunden?
Arens: Vor allem haben wir in gewisser Weise Lou Reed erfunden. Er selbst kommt kaum zu Wort, aber alle sprechen über ihn. So entsteht ein hochspekulatives Porträt.
Göring: Die Figuren sind Personen, wie sie auch in unserem Leben vorkommen: der frustrierte Begleitmusiker aus der zweiten Reihe, der entfremdete Partner, der zuhause ein völlig anderes Leben führt, die neurotische Mutter, die sich etwas anderes von ihrem Kind erhofft hatte... In Lou Reeds Biographie gab es diese Figuren, und sie waren so extrem, dass es filmreif ist.
Augst: ...und Brezel hat ihnen die verschiedenen O-Töne angedichtet. Lou Reed hat in seinen Songs oft über die Menschen seines Umfeldes gesungen, sie zum Thema seiner Lieder gemacht. Wir drehen den Spieß jetzt einfach um, und lassen diese Leute einmal retrospektiv zu Wort kommen. Reeds Songperspektiven werden also dekonstruiert und zurechtgerückt, Szenarien heraufbeschworen, im Probenraum, Backstage, Wohnzimmer, in der Nervenklinik … Im einzelnen sind es der siebzehnjährige Konzertbesucher, die Tourmanagerin Sylvia, und langjährige Ehefrau, Lou Reeds Mama, ein nicht näher definierter Mitmusiker, Nico, Velvet-Underground-Sängerin und Andy-Warhol-Muse, die Drag Queen Rachel, eine weitere Lebensgefährtin Reeds, Maureen Tucker, Velvet-Underground-Schlagzeugerin, verschiedene weitere Konzertbesucher des besagten Stadthallenkonzerts in Offenbach, ein damaliger Einsatz-Polizist sowie der Frankfurter Musik-Journalist, der in der gleichen Nacht das legendäre Foto von Lou Reed in Handschellen schoss. Spätestens hier dreht sich die Sache ganz wunderbar im Kreis, denn eben diesem Journalisten versuchen wir gerade so gut es geht die Fragen zu beantworten. Die eigene Identität wird zur Rolle, das real Erlebte wird zum Bühnenscript und die Erinnerung wird als Plattform mehr interpretiert als minutiös rekonstruiert. Mal auf blöd mal virtuos wird sich an allem bedient, dem musikalischen und biografischen Material, den Instrumenten, den einfachsten Theatermitteln wie bebildernde Kulissen und Kostüme. So wird die Show zur Aneignung, zum Zitat, zur Stilisierung zweier Genres – Rockmusik und Theater.
Hörspielfassungen Augst’scher Produktionen sind ja quasi Standard; diesmal wurde gleich ein Album dazu angedacht? Wie kam es dazu? Lag das am Thema?
Göring: Vinylpressungen unserer Produktionen hat es auch schon vorher gegeben, allerdings immer nur in beinhart limitierten Auflagen, dass selbst Sammler erstmal unsicher in ihr Portemonnaie geschaut haben, ob sie sich das leisten können. Jetzt haben wir ein professionelles Plattenlabel aus (na, woher wohl?): aus Offenbach, das sich um die Veröffentlichung kümmert, und damit gibt es auch ein Produkt, das den esoterischen Bereich des Kunstwerks und Sammlerobjekts verlässt.
Arens: Ich denke es war eher anders herum. Wie vorher schon angesprochen – die Musik entstand sehr spontan und ohne großen konzeptuellen Vorlauf. Da ist nun also ein Album entstanden, aber auch noch so viel mehr Material und Umsetzungsideen. Das Album nicht für sich stehen, sondern als Teil eines Gesamtwerks erscheinen zu lassen, das die Konzertperformance und das Hörspiel mit umfasst, ist auch eine Konsequenz eurer bisherigen vielfältigen Zusammenarbeit. Ihr habt bereits gemeinsam Musik, Bühnenshows und Hörspiele gemacht, zum Beispiel „Der Ernst Neger Komplex“ und „Stadt der 1000 Feuer“
Augst: Klar, die LP, das Analogmedium Vinyl, passt jetzt natürlich wie die Faust aufs Auge. Am Uraufführungsabend, am 13.3. findet anschließend die LP-Release-Party statt. Ich hoffe Brezel wird sich dann auch wieder als DJ einbringen. Aber bis es zu sowas kommt, stecken hier auch langwierige Wege und letztlich das Glück dahinter, nicht irgendein Label für die Veröffentlichung der Schallplatte gefunden zu haben, sondern eines in, ja genau: Offenbach. Sabine-Lydia Schmidt vom Label unbreakmyheart, die beim Offenbacher Kulturamt tätig ist, kam auf mich, ursprünglich wegen einer ganz anderen Sache, zu. Und so hat sich letztlich wieder eine inhaltliche Verbindung ergeben, zurück zum Ort des Geschehens, wovon das ganze Projekt profitiert. Eine weitere unerwartete Schleife ist übrigens, dass das Kulturamt Offenbach inzwischen die damals als Wurfobjekte verwendete Bestuhlung der Stadthalle übernommen hat und nun geplant ist, diese für eine Art Stuhl-Haufen-Skulptur im Foyer des Mousonturms zu verwenden..das authentische Mobiliar wird also in gewisser Weise zum aus- und vorgelagerten Bühnenbild, und die abgeranzten blau-verlebten Plastikstühle werden plötzlich durch unseren Blick musealisiert. Köstlich! Und für das Plattencover verwenden wir ein Foto des damaligen Stadthallenhausmeisters, was er von der zertrümmerten Bühne samt Stuhlhaufen für die Haftpflicht-Versicherung gemacht hatte.
Zwischen Bildungstheater, Performance und Boulevard-Stück... Haben Sie sich inzwischen auf ein Genre eingegroovt oder ist es alles und doch nichts davon?
Arens: Sagen wir mal es ist ein performtes „Konzert“ und wird so ausgestellt. Das hat Anleihen von Livehörspiel und eine Haltung, die an Boulevard und Kabarett erinnern mag. Die Arbeit verweigert gewissermaßen jegliche Zuordnung und bedient sich an Formen, Materialien und Genres. Da ist kein Anspruch irgendwo reinzupassen. Alles und nichts davon triff es vielleicht ganz gut.
Göring: Wir sind ja blutige Anfänger, mit Betonung auf „blutig". Intuitiv erweitern wir jedes Genre, dessen wir uns bedienen durch Regelverletzung. Leider geht unser Anfängertum so weit, dass wir oft nicht mal das Genre und dessen Grenzen kennen.
Augst: Eines meiner letzten Hörspiele drehte sich um den österreichischen Künstler Franz West, der in seinem Oeuvre die Begriffe „Autotheater" oder „Angewandte Kunst" - letzteres hat ja eher einen minderwertigen Beiklang - eingebracht hat. Ich finde diese teils verwirrenden Spiele mit Etiketten für „hohe Kunst" ganz großartig distanzschaffend, erhellend. „Angewandte Kunst" bezeichnet laut West „für Alltagszwecke verwendbare Objekte", also der Gebrauchs-Wert seiner Werke wird in der Konzeption seines künstlerischen Mobiliars durch den Nutz-Wert ersetzt. In diesem Sinn sind also verschiedene Genre-Grenzen fließend zu verstehen, und so könnten wir tatsächlich auch den Begriff des „Bildungstheaters" für uns hinbiegen. Sagen wir mal so: es geht ja bei diesen Sparten-Einordnungen immer auch um Abgrenzung, Verweigerung oder „Résistance gegen die feist funktionierende Welt", wie das zum Beispiel Morton Feldman benennt. Und um Behauptung. Wenn jetzt plötzlich alle Performance machen und jedes hinterletzte Stadttheater mit Multimedia, integrativem Theater, Bürgerbühne, Mitmachtrallala und-einmal-Rudelsingen-für-alle auftrumpft, tut es irgendwie gut, sich mit einem eher unbequemen sperrig-altbacken klingenden Label wie Bildungstheater herum zu schlagen ... Klar, man könnte aber auch ganz einfach Musiktheater sagen, weil wir uns natürlich auch von Oper, Operette und traditionellem Musical abzugrenzen haben, oder „Neues Musiktheater", wie es der Komponist Mauricio Kagel geprägt hat. Das neue Musiktheater ist nicht nur auf den Gesang konzentriert, sondern geht von einer Gleichberechtigung von Text/Musik/Bild/Raum/Klang aus, was auf der Bühne letztlich in Aktion umgesetzt wird. Die Akteure agieren sowohl musikalisch, sprachlich und darstellerisch. So wie wir! Denn ein wichtiger Strang unseres Projekts ist: Alle machen alles. Inhaltlich, formal habe ich ja schon oft auf meine Vorliebe, ohne Regie zu arbeiten, hingewiesen, oft aus der Haltung des Improvisateurs heraus. Hier ist es jetzt anders, eher im Sinne, dass der einzelne nicht Teil einer Band ist (die ja oft sogar sehr hierarchisch organisiert ist), sondern einer Gruppe, Group. Da gibt es phantastische Vorbilder und Ansätze aus der 68er Bewegung oder überhaupt von Künstlergruppen etc. Und so sind wir Tourbus-Fahrer, Köche, Sänger, Techniker, Studiospezialisten, Arrangeure, Instrumentalisten, Schlagzeuger, Gitarristen, Keyboarder, Sampling-Artisten.., Textautoren, Regisseure, Dramaturgen, Hörspielautoren und PR-Texter, Produzenten*innen, alles in einem.
Gegen den Schock schocken – wurde das zu einer Art Arbeitsprinzip und wie könnte das auf die heutige Zeit übertragen werden, um sich gegen den Wahnsinn in der Welt zu wehren?
Göring: Absolut. Man darf die Fiktion nicht den doppelmoralischen Politikern und ihrem verlogenen Fake-Dingsbums überlassen. Allerdings besteht unsere Art von Kunst und auch unsere Art von Humor darin, einfach die Wahrheit auszusprechen. Das wird dann als schockierend empfunden.
Arens: Für mich stecken da viele Themen drin, die auch heute noch aktuell sind: Jeder kann sich in seine Jugend hineinversetzen – man weiß nicht, wo man sich zugehörig fühlen soll, ist auf der Suche, passt irgendwo nicht rein, flüchtet sich in Traumwelten, sucht Vorbilder und bricht aus. Erwachsenwerden, Anderssein, Identitätsfragen, das sind Universalthemen, die sowohl in den multiplen Portraits Lou Reeds, aber auch in der Perspektive deines 17-jähigen Ichs oder in der Beziehung vom Fan zu seinem Idol zu finden sind. Aber auch antiquiert erscheinende Themen wie die Konversionstherapie sind absolut relevant. Erst zu Beginn dieses Jahres ist ein Gesetz in Kraft getreten, dass Homosexuelle Menschen vor Konversionstherapien schützen soll. Dass ein solches Gesetz nötig ist, zeigt wie weit verbreitet die Idee ist, dass Homosexualität geschweige denn Transgender, Transidentität oder sich als Non-Binär zu verstehen – als krank und damit zu therapierend verstanden werden. Bemerkenswert, dass das Gesetz denselben Unterpunkt des Paragrafen 3 im Grundgesetz ersetzt, der Homosexualität kriminalisiert hat und erst 1994 abgeschafft wurde.
Augst: Du musst nicht selbst in einer Elektroschocktherapie, dem Monster der Therapeutik, gewesen sein, um die Notwendigkeit zu kennen, gegen ein etabliertes bis verkrustetes und reaktionäres Denken ordentlich aufzumotzen. Bei mir zum Beispiel war es ein von Anfang an vorhandenes Misstrauen meiner Großelterngeneration gegenüber, was der gute Deutsche "früher" bejahte und bejubelte bevor er dann ganz kleinlaut das Entnazifizierungsschreiben unterschrieb. und ab geht es in Richtung Wirtschaftswunder: „und jetzt muss aber auch mal gut sein mit der Vergangenheit, und wir wussten ja von nichts.." Ich habe vor Jahren schon ein Projekt über die Verfolgung von Menschen in NS-Deutschland aus Stadt und Land Offenbach am Mousonturm realisiert.
Lou Reed sagte mal „Elektrizität brachte mich zum Underground. Wenn ich mich retten wollte, musste ich es selber machen. Gegen den Schock: schocken!" Irgendwie hatte ich das für mich schon immer genauso gesehen, der unbarmherzige Einsatz von Feedbackschleifen an meinem Behringer Mischpult, die ganze Noise-Ästhetik, die wir mit der Gruppe Freundschaft in den 90ern den Leuten um die Ohren gehauen haben. Das hatte für mich immer diese gesellschaftskritische Grundposition. Während damals alles auf High-Tech abgefahren ist, die CD und die aufkommende Digitalisierung angebetet wurde, die Hifi-Anlagen in den guten Wohnzimmern um- und aufgerüstet wurden, haben wir an den billigen Mixern die wackligen Regler hochgezogen, bis uns die Ohren gepfiffen haben. Das war Techno im reinsten Sinne, alle Clicks und Noises ungeschönt auszustellen. Das war Elektroschock auf unsere Art und Weise. Im Grunde wurde damals - wie heute mit den Smartphones - mit der sterilen CD-Ästhetik halt nur ein weiteres Bedürfnis von der Krake Kapitalismus künstlich geschaffen, ein Markt kreiert, bis jeder so einen Player hatte und unzählige Tonträger verkauft wurden.., und heute, eigentlich nur ein paar Jahre später, kannst du den ganzen Schrott wegwerfen. Das ist ein Teil des Wahnsinns vielleicht von dem du sprichst? Insofern ist das also auch immer eine Aussage, wenn wir statt CD oder digitaler Veröffentlichung eine „richtige" Schallplatte machen.
Antonin Artaud, der eines meiner Lieblingsdefinitionen von künstlerischer Arbeitsweise hervorgebracht hat, nämlich „Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden“, der große französische Schriftsteller, Theaterautor, Darsteller und Theatertheoretiker, selbst in verschiedenen Heilanstalten in den frühen 1940er Jahren elektrogeschockt, wählte eine „elektrische" Sprache, um gegen die Elektroschocks zu reagieren. Daran möchten wir uns orientieren und auch im augenfällig unterhaltsamen Gewand eines Theaterabends die Finger weiterhin ganz liebreizend auf die Wunden unserer Zeit legen.
Nebenbei, als ich geboren wurde, 1962, wurde Homosexualität in den USA immer noch als „mental disorder", also als Geisteskrankheit eingestuft. Das wurde erst in den 70ern gesetzlich geändert. Wie es danach in den Köpfen der Leute weiterhin aussah und aussieht, möchte ich aber lieber nicht wissen, siehe Stichwort Entnazifizierung in Deutschland oben. Wie man weiß, werden ja weltweit Homosexuelle immer noch in 78 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen strafrechtlich verfolgt, teilweise ist sogar die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Liebe vorgesehen. Wenn das kein Wahnsinn ist, gegen den es sich lohnt, zurück zu elektroschocken?
>> Lou Reed in Offenbach, Ffm, Mousonturm, 13.+14.3., 20 Uhr/15.3. 18 Uhr, Eintritt: 19,–
Oliver Augst: Ich hatte damals eigentlich keine Ahnung, wer Lou Reed ist, ganz vage vielleicht, aber darum ging es auch nicht. Anders meine Tanzstundenpartnerin, die schon alles drauf hatte und in die ich ziemlich verknallt war, und die meinte, dass man da unbedingt gemeinsam hingehen sollte. Für mich war das schon von daher gesehen irre aufregend, aber mehr dazu im Stück!
Wie kamen Sie, Brezel und Françoise, darauf, Lou Reed zum Thema einer Performance zu machen, wie fand da der Austausch statt, der zum Stück geführt hat?
Brezel Göring: Den Anstoß hat Oliver gegeben, der war ja damals Gast bei jenem katastrophalen Konzert in Offenbach. Als er uns davon erzählt hat, war uns sofort klar: Das ist der Stoff für ein Theaterstück. Wir selbst wussten ja bis dahin nicht mal, wer Lou Reed ist.
Oliver Augst: Wir sind miteinander in ständigem Kontakt und Austausch und tüfteln eigentlich permanent an verschiedenen Ideen und Projekten gleichzeitig herum. Ein wichtiger Entstehungsort unserer Projekte ist zum Beispiel die Küche von Françoise und Brezel in ihrer Wohnung in Berlin Kreuzberg. Die Küche - wie so oft - der Ort, wo gebrodelt und gebacken wird. Also, irgendwann kam ich mit der Geschichte von meiner ersten „Begegnung“ mit Lou Reed an - damals in der Offenbacher Stadthalle übrigens nicht das einzige Mal in meinem Leben.
Charlotte Arens: In der persönlichen Erinnerung an dieses Konzert steckt allein so viel drin an Kuriosität, Witz, Persönlichen Bezug, ein Verweis auf die deutsche Nachkriegsgeschichte und auf präpotente Gefühls- und Lebensrealitäten. Schnell war klar „da muss man was mit machen“. Die Umsetzung folgte unmittelbar.
Augst: Ja, Brezel und Françoise waren sofort begeistert. Kaum eine Woche später, das war alles Anfang 2018, schickte mir Françoise die Songtexte, die sie spontan dazu geschrieben hatte sowie die Texte zu den Zeitzeugen von Brezel, bevor noch irgendeine Verwertungsidee im Raum stand! Ich fand das klasse, diese Urenergie, einfach mit einem Projekt zu beginnen, Material herzustellen und erstmal komplett darauf zu pfeifen, ob und wie das jemals umgesetzt würde. Dann war ich am Zug und habe vorgeschlagen, noch im gleichen Sommer das Haus meiner Frau, quasi unser Feriendomizil im Südwesten Frankreichs, zur Verfügung zu stellen, um dort an der musikalischen Umsetzung und den Tonaufnahmen zu arbeiten. Brezel und ich schrieben die Musik, wir sind mit einem Kleinbus vollgeladen mit Musikinstrumenten und dem ganzen Studioequipment runtergefahren, haben das Haus zu einem Proberaum und Tonstudio umfunktioniert, und nach 10 Tagen war alles weitgehend im Kasten.
Arens: Das Album war also da, bevor an eine Umsetzung auf der Bühne, oder an ein Hörspiel gedacht wurde und auch lange bevor Förderung, Produktionspartner und Label gefunden waren.
Augst: Gleichzeitig haben wir während der Produktion dort schön im halbverwilderten Garten herumgelungert, gekocht, Ausflüge gemacht, waren abends am See schwimmen, leckere Weine und andere regionale kulinarische Köstlichkeiten inklusive. Wir haben uns in der Thematik, alle auf verschiedene Weise, wiedergefunden und vollkommen gleichberechtigt individuell verwirklicht. Dass das so in der „ganzheitlichen“ Form als Verbindung von Arbeit, Freundschaft und schönem Leben funktioniert hat, ist ein großes und seltenes Glück und auch so etwas wie ein langgehegter Jugendtraum von mir gewesen.
Arens: Das macht das Album auch aus: ein ungefilterter, sehr unmittelbarer und intuitiver Umgang mit dem Material. Diese Herangehensweise wollen wir auch auf die Umsetzung auf die Bühne und das Hörspiel übertragen.
Als Genre wird „Fiction Feature“ eingeführt – wie viel Realität, wie viel Erfindung ist dabei im Spiel? Wie wurde die realisiert? In Free floating associations; Wurde das Erinnerte einfach „nur" weitergesponnen?
Göring: Alle Musiker haben – unabhängig von der Musik, die natürlich bei jedem anders ist – dieselben Charakterverfehlungen. Wir brauchten nur unsere eigenen Erfahrungen und widersprüchlichen Gefühle etwas überzeichnet wiederzugeben und das Stück war fertig.
Augst: Es geht um die Perspektive eines deutschen Kleinstädters, gespiegelt im unerreichbaren amerikanischen Idol – und dann der Aberwitz, dass die „Begegnung" natürlich ausbleibt, was ja dann symbolisch für die Wirklichkeit ist, in der sich unser Kleinstädter nun mal befindet, …und der erst mal auf seine eigenen Beine kommen beziehungsweise sich mit der Normalo-Identität herumschlagen muss..., es geht um die Identität des Nachkriegsgeborenen, in einem Land mit ständigem Fokus auf Amerika, in das Sehnsuchtsjahrzehnt von Love and Peace etc.. übrigens zu einer Zeit, da Deutschland ja quasi noch von amerikanischen Soldaten besetzt war, gerade hier, in der Gegend um Frankfurt, ist man ja mit der unmittelbaren Präsenz der US-Army und am Wochenende mit besoffenen GIs in den Clubs und Regionalzügen aufgewachsen.
Die Geschichte um den 17jährigen auf seinem ersten echten Rockkonzert dient letztlich dazu, an den Rändern und zwischen den Zeilen ein Seelen-Porträt des Künstlers Lou Reed zu fabulieren. Als homosexueller Amerikaner, Superstar, Projektionsfläche, angsteinflößende Überfigur: the Animal of Rock! Das „Konzert" war dann für mich ein heilsamer Schock. Es gab nie eine bessere Art und Weise, mir zu erklären, was Rock 'n' Roll bedeuten könnte. Aber wie funktioniert nun die Erinnerung daran? Natürlich immer sehr subjektiv und, wie man weiß, unscharf ... In der Offenbach Post wurde aufgrund unseres Projekts inzwischen die Geschichte von dem sogenannten Skandalkonzert aufgegriffen und ein Aufruf gestartet an Leute, die damals dabei waren, ihre Erinnerungen mitzuteilen. Das Ergebnis ist erstaunlich. Jeder erinnert sich vor allem, wie ich, an die Bilder der zertrümmerten Bühne, an die Stühle, die durch den Saal geflogen sind und so weiter, den Ablauf des Ganzen hat aber jeder irgendwie ganz anders nacherzählt. Von der Fassung, dass das Konzert eigentlich gar nicht richtig stattfand bzw. gleich am Anfang abgebrochen wurde – so habe auch ich es abgespeichert – bis dazu, dass die Randale erst bei der Zugabe ausgebrochen ist. Aber vielleicht ist das ja alles auch gar nicht so wichtig, hier setzen wir dann mit unserer Feature-Fiktion an, den Zeitzeugen einfach unsere Versionen in den Mund zu legen.
Welche Figuren haben Sie dafür erfunden?
Arens: Vor allem haben wir in gewisser Weise Lou Reed erfunden. Er selbst kommt kaum zu Wort, aber alle sprechen über ihn. So entsteht ein hochspekulatives Porträt.
Göring: Die Figuren sind Personen, wie sie auch in unserem Leben vorkommen: der frustrierte Begleitmusiker aus der zweiten Reihe, der entfremdete Partner, der zuhause ein völlig anderes Leben führt, die neurotische Mutter, die sich etwas anderes von ihrem Kind erhofft hatte... In Lou Reeds Biographie gab es diese Figuren, und sie waren so extrem, dass es filmreif ist.
Augst: ...und Brezel hat ihnen die verschiedenen O-Töne angedichtet. Lou Reed hat in seinen Songs oft über die Menschen seines Umfeldes gesungen, sie zum Thema seiner Lieder gemacht. Wir drehen den Spieß jetzt einfach um, und lassen diese Leute einmal retrospektiv zu Wort kommen. Reeds Songperspektiven werden also dekonstruiert und zurechtgerückt, Szenarien heraufbeschworen, im Probenraum, Backstage, Wohnzimmer, in der Nervenklinik … Im einzelnen sind es der siebzehnjährige Konzertbesucher, die Tourmanagerin Sylvia, und langjährige Ehefrau, Lou Reeds Mama, ein nicht näher definierter Mitmusiker, Nico, Velvet-Underground-Sängerin und Andy-Warhol-Muse, die Drag Queen Rachel, eine weitere Lebensgefährtin Reeds, Maureen Tucker, Velvet-Underground-Schlagzeugerin, verschiedene weitere Konzertbesucher des besagten Stadthallenkonzerts in Offenbach, ein damaliger Einsatz-Polizist sowie der Frankfurter Musik-Journalist, der in der gleichen Nacht das legendäre Foto von Lou Reed in Handschellen schoss. Spätestens hier dreht sich die Sache ganz wunderbar im Kreis, denn eben diesem Journalisten versuchen wir gerade so gut es geht die Fragen zu beantworten. Die eigene Identität wird zur Rolle, das real Erlebte wird zum Bühnenscript und die Erinnerung wird als Plattform mehr interpretiert als minutiös rekonstruiert. Mal auf blöd mal virtuos wird sich an allem bedient, dem musikalischen und biografischen Material, den Instrumenten, den einfachsten Theatermitteln wie bebildernde Kulissen und Kostüme. So wird die Show zur Aneignung, zum Zitat, zur Stilisierung zweier Genres – Rockmusik und Theater.
Hörspielfassungen Augst’scher Produktionen sind ja quasi Standard; diesmal wurde gleich ein Album dazu angedacht? Wie kam es dazu? Lag das am Thema?
Göring: Vinylpressungen unserer Produktionen hat es auch schon vorher gegeben, allerdings immer nur in beinhart limitierten Auflagen, dass selbst Sammler erstmal unsicher in ihr Portemonnaie geschaut haben, ob sie sich das leisten können. Jetzt haben wir ein professionelles Plattenlabel aus (na, woher wohl?): aus Offenbach, das sich um die Veröffentlichung kümmert, und damit gibt es auch ein Produkt, das den esoterischen Bereich des Kunstwerks und Sammlerobjekts verlässt.
Arens: Ich denke es war eher anders herum. Wie vorher schon angesprochen – die Musik entstand sehr spontan und ohne großen konzeptuellen Vorlauf. Da ist nun also ein Album entstanden, aber auch noch so viel mehr Material und Umsetzungsideen. Das Album nicht für sich stehen, sondern als Teil eines Gesamtwerks erscheinen zu lassen, das die Konzertperformance und das Hörspiel mit umfasst, ist auch eine Konsequenz eurer bisherigen vielfältigen Zusammenarbeit. Ihr habt bereits gemeinsam Musik, Bühnenshows und Hörspiele gemacht, zum Beispiel „Der Ernst Neger Komplex“ und „Stadt der 1000 Feuer“
Augst: Klar, die LP, das Analogmedium Vinyl, passt jetzt natürlich wie die Faust aufs Auge. Am Uraufführungsabend, am 13.3. findet anschließend die LP-Release-Party statt. Ich hoffe Brezel wird sich dann auch wieder als DJ einbringen. Aber bis es zu sowas kommt, stecken hier auch langwierige Wege und letztlich das Glück dahinter, nicht irgendein Label für die Veröffentlichung der Schallplatte gefunden zu haben, sondern eines in, ja genau: Offenbach. Sabine-Lydia Schmidt vom Label unbreakmyheart, die beim Offenbacher Kulturamt tätig ist, kam auf mich, ursprünglich wegen einer ganz anderen Sache, zu. Und so hat sich letztlich wieder eine inhaltliche Verbindung ergeben, zurück zum Ort des Geschehens, wovon das ganze Projekt profitiert. Eine weitere unerwartete Schleife ist übrigens, dass das Kulturamt Offenbach inzwischen die damals als Wurfobjekte verwendete Bestuhlung der Stadthalle übernommen hat und nun geplant ist, diese für eine Art Stuhl-Haufen-Skulptur im Foyer des Mousonturms zu verwenden..das authentische Mobiliar wird also in gewisser Weise zum aus- und vorgelagerten Bühnenbild, und die abgeranzten blau-verlebten Plastikstühle werden plötzlich durch unseren Blick musealisiert. Köstlich! Und für das Plattencover verwenden wir ein Foto des damaligen Stadthallenhausmeisters, was er von der zertrümmerten Bühne samt Stuhlhaufen für die Haftpflicht-Versicherung gemacht hatte.
Zwischen Bildungstheater, Performance und Boulevard-Stück... Haben Sie sich inzwischen auf ein Genre eingegroovt oder ist es alles und doch nichts davon?
Arens: Sagen wir mal es ist ein performtes „Konzert“ und wird so ausgestellt. Das hat Anleihen von Livehörspiel und eine Haltung, die an Boulevard und Kabarett erinnern mag. Die Arbeit verweigert gewissermaßen jegliche Zuordnung und bedient sich an Formen, Materialien und Genres. Da ist kein Anspruch irgendwo reinzupassen. Alles und nichts davon triff es vielleicht ganz gut.
Göring: Wir sind ja blutige Anfänger, mit Betonung auf „blutig". Intuitiv erweitern wir jedes Genre, dessen wir uns bedienen durch Regelverletzung. Leider geht unser Anfängertum so weit, dass wir oft nicht mal das Genre und dessen Grenzen kennen.
Augst: Eines meiner letzten Hörspiele drehte sich um den österreichischen Künstler Franz West, der in seinem Oeuvre die Begriffe „Autotheater" oder „Angewandte Kunst" - letzteres hat ja eher einen minderwertigen Beiklang - eingebracht hat. Ich finde diese teils verwirrenden Spiele mit Etiketten für „hohe Kunst" ganz großartig distanzschaffend, erhellend. „Angewandte Kunst" bezeichnet laut West „für Alltagszwecke verwendbare Objekte", also der Gebrauchs-Wert seiner Werke wird in der Konzeption seines künstlerischen Mobiliars durch den Nutz-Wert ersetzt. In diesem Sinn sind also verschiedene Genre-Grenzen fließend zu verstehen, und so könnten wir tatsächlich auch den Begriff des „Bildungstheaters" für uns hinbiegen. Sagen wir mal so: es geht ja bei diesen Sparten-Einordnungen immer auch um Abgrenzung, Verweigerung oder „Résistance gegen die feist funktionierende Welt", wie das zum Beispiel Morton Feldman benennt. Und um Behauptung. Wenn jetzt plötzlich alle Performance machen und jedes hinterletzte Stadttheater mit Multimedia, integrativem Theater, Bürgerbühne, Mitmachtrallala und-einmal-Rudelsingen-für-alle auftrumpft, tut es irgendwie gut, sich mit einem eher unbequemen sperrig-altbacken klingenden Label wie Bildungstheater herum zu schlagen ... Klar, man könnte aber auch ganz einfach Musiktheater sagen, weil wir uns natürlich auch von Oper, Operette und traditionellem Musical abzugrenzen haben, oder „Neues Musiktheater", wie es der Komponist Mauricio Kagel geprägt hat. Das neue Musiktheater ist nicht nur auf den Gesang konzentriert, sondern geht von einer Gleichberechtigung von Text/Musik/Bild/Raum/Klang aus, was auf der Bühne letztlich in Aktion umgesetzt wird. Die Akteure agieren sowohl musikalisch, sprachlich und darstellerisch. So wie wir! Denn ein wichtiger Strang unseres Projekts ist: Alle machen alles. Inhaltlich, formal habe ich ja schon oft auf meine Vorliebe, ohne Regie zu arbeiten, hingewiesen, oft aus der Haltung des Improvisateurs heraus. Hier ist es jetzt anders, eher im Sinne, dass der einzelne nicht Teil einer Band ist (die ja oft sogar sehr hierarchisch organisiert ist), sondern einer Gruppe, Group. Da gibt es phantastische Vorbilder und Ansätze aus der 68er Bewegung oder überhaupt von Künstlergruppen etc. Und so sind wir Tourbus-Fahrer, Köche, Sänger, Techniker, Studiospezialisten, Arrangeure, Instrumentalisten, Schlagzeuger, Gitarristen, Keyboarder, Sampling-Artisten.., Textautoren, Regisseure, Dramaturgen, Hörspielautoren und PR-Texter, Produzenten*innen, alles in einem.
Gegen den Schock schocken – wurde das zu einer Art Arbeitsprinzip und wie könnte das auf die heutige Zeit übertragen werden, um sich gegen den Wahnsinn in der Welt zu wehren?
Göring: Absolut. Man darf die Fiktion nicht den doppelmoralischen Politikern und ihrem verlogenen Fake-Dingsbums überlassen. Allerdings besteht unsere Art von Kunst und auch unsere Art von Humor darin, einfach die Wahrheit auszusprechen. Das wird dann als schockierend empfunden.
Arens: Für mich stecken da viele Themen drin, die auch heute noch aktuell sind: Jeder kann sich in seine Jugend hineinversetzen – man weiß nicht, wo man sich zugehörig fühlen soll, ist auf der Suche, passt irgendwo nicht rein, flüchtet sich in Traumwelten, sucht Vorbilder und bricht aus. Erwachsenwerden, Anderssein, Identitätsfragen, das sind Universalthemen, die sowohl in den multiplen Portraits Lou Reeds, aber auch in der Perspektive deines 17-jähigen Ichs oder in der Beziehung vom Fan zu seinem Idol zu finden sind. Aber auch antiquiert erscheinende Themen wie die Konversionstherapie sind absolut relevant. Erst zu Beginn dieses Jahres ist ein Gesetz in Kraft getreten, dass Homosexuelle Menschen vor Konversionstherapien schützen soll. Dass ein solches Gesetz nötig ist, zeigt wie weit verbreitet die Idee ist, dass Homosexualität geschweige denn Transgender, Transidentität oder sich als Non-Binär zu verstehen – als krank und damit zu therapierend verstanden werden. Bemerkenswert, dass das Gesetz denselben Unterpunkt des Paragrafen 3 im Grundgesetz ersetzt, der Homosexualität kriminalisiert hat und erst 1994 abgeschafft wurde.
Augst: Du musst nicht selbst in einer Elektroschocktherapie, dem Monster der Therapeutik, gewesen sein, um die Notwendigkeit zu kennen, gegen ein etabliertes bis verkrustetes und reaktionäres Denken ordentlich aufzumotzen. Bei mir zum Beispiel war es ein von Anfang an vorhandenes Misstrauen meiner Großelterngeneration gegenüber, was der gute Deutsche "früher" bejahte und bejubelte bevor er dann ganz kleinlaut das Entnazifizierungsschreiben unterschrieb. und ab geht es in Richtung Wirtschaftswunder: „und jetzt muss aber auch mal gut sein mit der Vergangenheit, und wir wussten ja von nichts.." Ich habe vor Jahren schon ein Projekt über die Verfolgung von Menschen in NS-Deutschland aus Stadt und Land Offenbach am Mousonturm realisiert.
Lou Reed sagte mal „Elektrizität brachte mich zum Underground. Wenn ich mich retten wollte, musste ich es selber machen. Gegen den Schock: schocken!" Irgendwie hatte ich das für mich schon immer genauso gesehen, der unbarmherzige Einsatz von Feedbackschleifen an meinem Behringer Mischpult, die ganze Noise-Ästhetik, die wir mit der Gruppe Freundschaft in den 90ern den Leuten um die Ohren gehauen haben. Das hatte für mich immer diese gesellschaftskritische Grundposition. Während damals alles auf High-Tech abgefahren ist, die CD und die aufkommende Digitalisierung angebetet wurde, die Hifi-Anlagen in den guten Wohnzimmern um- und aufgerüstet wurden, haben wir an den billigen Mixern die wackligen Regler hochgezogen, bis uns die Ohren gepfiffen haben. Das war Techno im reinsten Sinne, alle Clicks und Noises ungeschönt auszustellen. Das war Elektroschock auf unsere Art und Weise. Im Grunde wurde damals - wie heute mit den Smartphones - mit der sterilen CD-Ästhetik halt nur ein weiteres Bedürfnis von der Krake Kapitalismus künstlich geschaffen, ein Markt kreiert, bis jeder so einen Player hatte und unzählige Tonträger verkauft wurden.., und heute, eigentlich nur ein paar Jahre später, kannst du den ganzen Schrott wegwerfen. Das ist ein Teil des Wahnsinns vielleicht von dem du sprichst? Insofern ist das also auch immer eine Aussage, wenn wir statt CD oder digitaler Veröffentlichung eine „richtige" Schallplatte machen.
Antonin Artaud, der eines meiner Lieblingsdefinitionen von künstlerischer Arbeitsweise hervorgebracht hat, nämlich „Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden“, der große französische Schriftsteller, Theaterautor, Darsteller und Theatertheoretiker, selbst in verschiedenen Heilanstalten in den frühen 1940er Jahren elektrogeschockt, wählte eine „elektrische" Sprache, um gegen die Elektroschocks zu reagieren. Daran möchten wir uns orientieren und auch im augenfällig unterhaltsamen Gewand eines Theaterabends die Finger weiterhin ganz liebreizend auf die Wunden unserer Zeit legen.
Nebenbei, als ich geboren wurde, 1962, wurde Homosexualität in den USA immer noch als „mental disorder", also als Geisteskrankheit eingestuft. Das wurde erst in den 70ern gesetzlich geändert. Wie es danach in den Köpfen der Leute weiterhin aussah und aussieht, möchte ich aber lieber nicht wissen, siehe Stichwort Entnazifizierung in Deutschland oben. Wie man weiß, werden ja weltweit Homosexuelle immer noch in 78 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen strafrechtlich verfolgt, teilweise ist sogar die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Liebe vorgesehen. Wenn das kein Wahnsinn ist, gegen den es sich lohnt, zurück zu elektroschocken?
>> Lou Reed in Offenbach, Ffm, Mousonturm, 13.+14.3., 20 Uhr/15.3. 18 Uhr, Eintritt: 19,–
21. Februar 2019, 14.11 Uhr
Detlef Kinsler
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