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Lee Miller in den Opelvillen

Morbide Schönheit

Lee Millers Arbeit hat sich über fünf Jahrzehnte entwickelt: ein fotografisches Werk, das in seiner thematischen Bandbreite ungewöhnlich ist. Jetzt zeigt eine Ausstellung in den Opelvillen in Rüsselsheim unter dem Titel „Hautnah“ Bilder aus den Jahren 1940 bis 1946.
Experimentelle, surrealistische Fotografie, Mode- und Reisefotografie, Porträts und Reportagen aus dem zweiten Weltkrieg – Millers Oeuvre ist von erstaunlicher Vielgestaltigkeit. Es sind wohl jene in Paris oft in Zusammenarbeit und in wechselseitiger Beeinflussung mit Man Ray entstandenen Werke Lee Millers, die bis heute am bekanntesten sind. Berühmt wurde vor allem die Arbeit der Serie „Electricité“ mit Miller als Modell, doch experimentiert sie bald selbst mit Techniken wie der Solarisation, entdeckt das Absurde im Alltag. Später entstehen faszinierende Porträts, dann Reisefotografien aus Ägypten. Von 1939 an fertigt sie ihre bekannten Reportagen über den Zweiten Weltkrieg. Miller fotografiert die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London, die Befreiung von Paris und die Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald.





Fire Masks, Downshire Hill, London, England 1941 by Lee Miller © Lee Miller Archives England 2021. All Rights Reserved. www.leemiller.co.uk


Doch was zeichnet die 1907 in Poughkeepsie bei New York geborene Fotografin und Fotojournalistin aus, die als junge Frau für den Verleger Condè Nast, für Vanity Fair und Vogue sehr erfolgreich als Model arbeitete und von Künstlern wie Edward Steichen, Horst P. Horst und George Hoyningen-Huene fotografiert wurde? Ihr eigenes fotografisch-bildnerisches Werk ist schwer einzuordnen. Es streckt sich in alle Richtungen, wie auch die rastlose Künstlerin selbst, die einmal über sich gesagt hat: „Aus irgendeinem Grund möchte ich immer lieber woanders hin.“

Als weibliche Kriegskorrespondentin für die Vogue, welche die US-Truppen nach Deutschland begleitete, war sie eine echte Pionierin – und dokumentiert etwa die Einnahme von Adolf Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg. Auch viele Bilder mit Miller als Modell sind bekannt geworden, vor allem die am 30. April 1945, an Hitlers Todestag entstandene Fotografie David E. Schermans, die Miller in Hitlers Badewanne nach der Einnahme Münchens zeigt – ebenfalls zu sehen in den Opelvillen. Es ist ein Bild von größter Symbolkraft: Kurz zuvor hatte Miller selbst in Dachau Leichenberge fotografiert, nun wusch sie sich in der Badewanne des Diktators in dessen Münchener Privatwohnung, der zu dieser Zeit wahrscheinlich schon tot war.

Die bedeutendsten, doch gleichzeitig auch am wenigsten inszenierten, gänzlich auf jede Kunstfertigkeit verzichtenden Aufnahmen gelingen Miller in Dachau und Buchenwald: Das Leid der Gefangenen, die toten SS-Offiziere, die Krematoriums-Öfen – all das hat sich eingeschrieben in die Geschichte der Fotografie, aber auch in die Psyche der Fotografin, die diese Bilder Zeit ihres Lebens nicht mehr los werden kann. Lakonisch notiert sie: „Meine Baedeker-Reise führte mich an viele Plätze, die nicht in meiner Ausgabe von 1913 erwähnt werden – Plätze wie Buchenwald.“





Small tired boy waits at crossroads for transport, lweschtgaass, Bech, Luxembourg 1945 by Lee Miller © Lee Miller Archives England 2021. All Rights Reserved. www.leemiller.co.uk


Es gibt auch andere Bilder in Rüsselsheim zu sehen. Allesamt stammen sie aus den „Lee Miller Archives“. Fotografien voller Eleganz, morbider Schönheit und auch surrealistischem Reiz, wie etwa jenes der beiden Frauen, die sich hinter Augenschutz und Feuermaske verstecken. Am Eingang eines Londoner Luftschutzkellers hat Miller die Beiden 1941 fotografiert – eine hält eine Trillerpfeife geradezu unverschämt lässig in der Hand. In Paris lichtet sie ihre Künstlerfreunde nach der Befreiung ab: Ein wunderbares Bild zeigt sie selbst mit Pablo Picasso in seinem Studio – entstanden ist es im Jahr 1944.

In Frankfurt fotografiert Lee Miller Ende März 1945, kurz nachdem die amerikanischen Truppen einmarschiert waren. In Rüsselsheim zu sehen ist neben anderen bisher noch nie gezeigten Fotografien aus Hessen auch das symbolträchtige Foto „Justice amid the ruins“ mit Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit, auf dem Gerechtigkeitsbrunnen am zerstörten Römer. Das Foto erschien kurz darauf im Vogue-Artikel „Nazi Harvest“.

Miller wird nach dem Krieg nur noch wenige Jahre arbeiten. Zwar entstehen noch Modefotografien, doch die große Zeit der leidenschaftlichen Fotoreporterin ist vorbei. Zurück bleiben ihre Bilder: dunkle, abgründige Bilder einer brüchigen Lebenswelt. Die Schrecken des Krieges legen sich noch in späteren Jahren auf ihre Seele: Sie stirbt, depressiv, alkoholabhängig, im Jahr 1977 in East Sussex an einer Krebserkrankung.

Die Ausstellung ist ein Höhepunkt in diesem Kunstsommer. Schon so lange konnte man im Rhein-Main-Gebiet keine Ausstellung Millers mehr sehen – 1993 zeigte das Fotografie Forum Frankfurt die letzte umfassende Retrospektive. Die Schau in den Opelvillen ist auch Teil der internationalen Triennale RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain.

>> „Lee Miller. Hautnah. Fotografien von 1940 bis 1946“, Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, bis 25. Juli 2021
 
Fotogalerie:
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15. April 2021, 10.35 Uhr
Marc Peschke
 
 
 
 
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