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Festival für kulturelle Diversität

Kanarienvögel der Demokratie

Ein Jahr nach den Morden: Ein dreitägiges, prominent besetztes Literaturfestival in Frankfurt und Hanau erkundet die kulturelle Diversität in der Literatur: „Wir sind hier“.
Am 19. Februar 2020 erschoss Tobias R. aus rassistischen Motiven neun Menschen in der Hanauer Innenstadt. Anschließend tötete er in der Wohnung seiner Eltern zunächst seine Mutter und schließlich sich selbst. Das ist der Tathergang in neutralen Worten. Es lassen sich um dieses schreckliche Geschehen unzählig viele Narrative spinnen. Die Journalistin Ferda Ataman sagte auf der Online-Pressekonferenz von „Wir sind hier. Festival für kulturelle Diversität“ einige bemerkenswerte Sätze: Im Bergbau habe man früher Kanarienvögel in die Schächte geschickt, um den Sauerstoffgehalt zu prüfen, bevor man die Bergleute hinuntergeschickt habe. „Wir sind“, so Ataman, „etwas sensibler für den Sauerstoffgehalt der Demokratie.“

Wobei schon mit der Frage, wer dieses „Wir“ ist, das nächste Problemfeld eröffnet wird. Ataman plädiert für die Abschaffung des Wortes „Migrationshintergrund“. Das mag streitbar sein, doch mit einer Feststellung hat sie ganz sicher recht: „In Hanau hat kein Deutscher neun Migranten erschossen, sondern ein Rassist hat neun Einheimische erschossen.“ Menschen, die Namen hatten und Freund:innen, Kolleg:innen und Mitstreiter:innen in Sportvereinen waren. Darauf wies Karin Wolff, Geschäftsführerin des Kulturfonds Frankfurt RheinMain hin.

Auf diese Feststellung, auf die Einebnung des Unterschieds zwischen „uns“ und „denen“, zielt auch der Titel des Festivals ab, das zum Jahrestag der Hanauer Morde an drei Tagen in Frankfurt und in Hanau stattfinden wird: „Wir sind hier“ – und das eben nicht zu Gast. Das Festival wurde geplant vom Literaturhaus Frankfurt, in diesem Fall unter der Federführung von Benno Hennig von Lange, und von Selma Wels, die bis 2020 den auf Übersetzung aus dem Türkischen spezialisierten binooki Verlag geleitet hat und als Social Media-Aktivistin, Podcasterin und Moderatorin in Frankfurt lebt. Wels war es auch, die anlässlich der Vorstellung der insgesamt vier Veranstaltungen darauf hinwies, dass die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund (Wels benutzt dieses Wort) im Kulturbetrieb nach wie vor zu wünschen übrig ließe. „Wir sind hier“ wird von einem breiten Feld von Geldgebern unterstützt, darunter der Kulturfonds Frankfurt RheinMain, das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und die Stadt Frankfurt. Das Festival wird im Übrigen definitiv stattfinden, zur Not auch ohne Saalpublikum und als reine Streaming-Veranstaltung. Informationen dazu gibt es auf der Webseite des Literaturhauses Frankfurt.

Das Lineup des Festivals ist prominent: Zur Eröffnung am 18. Februar sprechen unter anderem Ferda Ataman und die Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz mit der Kabarettistin und Schauspielerin Idil Baydar über das Thema „Gesellschaft und Rassismus“. Der folgende Abend ist dem Thema „Sichtbarkeiten“ gewidmet. Teilnehmer:innen sind Alice Hasters (das ist jene Autorin, die der Kabarettist Dieter Nuhr in größter Peinlichkeit zu einer Amerikanerin machte, weil er sich offenbar keine schwarzen Deutschen vorstellen kann) und der Moderator Michel Abdollahi. Am Festivalsamstag treffen sich am Nachmittag in Hanau Deniz Utlu, dessen Roman „Gegen Morgen“ ausgezeichnete Kritiken erhielt, und Autor:in Hengameh Yaghoobifarah, die soeben ihren Debütroman „Ministerium der Träume“ veröffentlicht hat und vor nicht allzu langer Zeit von Innenminister Horst Seehofer (CSU) angezeigt wurde, um über die Vielfältigkeit von deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zu sprechen. Zum gleichen Thema treffen sich dann am Samstagabend die frisch gekürte Robert Gernhardt-Preisträgerin Fatma Aydemir, der Lyriker May Czollek und die Autorin Ronya Othmann, deren Roman „Die Sommer“ im vergangenen Jahr viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Moderation übernimmt der Schriftsteller Senturan Varatharajah.




Foto: Sarah Eick

Noch einmal Ferda Ataman: „Unsere Bücher werden oft als Attacken gelesen. Aber eigentlich sind es Liebeserklärungen an unser Land.“ Darüber darf man dann tatsächlich unterschiedlicher Auffassung sein. Was nicht weiter schlimm ist, im Gegenteil, denn produktiver Streit ist im Idealfall Erkenntnis stiftend. Wer Max Czollek oder Hengameh Yaghoobifarah einlädt, lädt keine verkappten Liebeserklärungen, sondern Konfrontation und Provokation ein. Das ist mit Sicherheit gewünscht. Man sollte nur nicht so tun als sei das eine Überraschung. Aber auch eine solche Feststellung ist wiederum abhängig von Perspektive und Hintergrund desjenigen, der sie formuliert. „Wir sind hier.“ Gut so. Auch wenn die Bewusstmachung dessen, was das bedeutet, mit Blessuren verbunden ist.

>> Wir sind hier. Festival für kulturelle Diversität. 18.2.–20.2. Das Programm, Kartenvorverkauf und Zugangsmöglichkeiten zum Livestream finden Sie unter www.literaturhaus-frankfurt.de

Dieser Text ist zuerst in der Februar-Ausgabe (2/21) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
Fotogalerie:
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12. Februar 2021, 12.35 Uhr
Christoph Schröder
 
 
 
 
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