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Bridges Kammerorchester
Längst ohne Fragezeichen
Identität + Integration = Identigration. Die Formel erfüllt das Bridges Kammerorchester auf seiner ersten CD. Wir sprachen mit den Bridges-Geschäftsführerinnen Johanna-Leonore Dahlhoff und Anke Karen Meyer.
JOURNAL FRANKFURT: Nachdem das längst schon zur schönen Tradition gewordene Bridges-Konzert mit großen Orchester im hr-Sendesaal wegen Corona nicht stattfinden konnte, galt eure ganz Konzentration dem Kammerorchester. Können Sie einmal kurz skizzieren, wie Sie die Produktion mit welchen Partnern vorbereitet und wie Sie die Finanzierung gesichert haben?
Johanna-Leonore Dahlhoff: Tatsächlich haben wir es in diesem Corona-Jahr geschafft, alle unsere Projekte an die Umstände anzupassen und weiterlaufen zu lassen: also unsere Ensembles, Workshops, Sessions und sogar den Chor. Unsere Konzentration lag also nicht komplett auf dem Kammerorchester. Allerdings hat die CD-Produktion ab Mitte des Jahres viel unserer Zeit und Energie gebunden. Die CD-Produktion war dieses Jahr eigentlich nicht geplant, sondern durch die besondere Corona-Situation entstanden. Wir hatten das große Glück, dass hr2-Kultur uns sehr schnell nach unserer ersten Anfrage Anfang Juni die Ko-Produktion angeboten hat. Da wegen Corona so viel abgesagt wurde und niemand in den Urlaub gefahren ist, konnten wir das gesamte Orchester inklusive drei (!) Dirigenten sehr kurzfristig für die Aufnahmen Anfang August zusammenbringen. In dieser kurzen Vorlaufzeit von zwei Monaten habe ich die Titelauswahl gemeinsam mit den Dirigenten sowie unseren Komponist*innen/Arrangeur*innen geplant und die Aufnahmesituation mit dem Tonmeister Robin Bös besprochen. Parallel dazu haben Anke Meyer und ich uns um die Finanzierung der Produktion gekümmert.
Anke Karen Meyer: Mit hr2-kultur im Boot waren die entscheidenden Themen jeder CD-Produktion - technische Ausstattung, ein erfahrenes Produktionsteam sowie Mixing und Mastering - in sehr guten Händen. Mit dieser Unterstützung im Rücken haben wir nach geeigneten Fördertöpfen gesucht und mit dem Corona-Kultur-Paket vom Land Hessen auch gefunden. Zusätzlich haben wir auf Crowdfunding gesetzt, denn das eignet sich ganz wunderbar, wenn man so ein schönes Produkt hat. Besonders hilfreich war dabei, dass kulturMut die Crowdfunding-Einnahmen aufgestockt hat. Wir sind begeistert, dass wir dadurch viele CDs bereits vor ihrer Erscheinung verkauft haben. Am Ende wäre die kostspielige CD-Produktion aber nicht ohne die Unterstützung unseres Publikums, persönliche Kontakte und wertvolle Fürsprecher*innen möglich gewesen. Wir sind sehr dankbar, dass wir einen Mäzen und weitere Privatpersonen gewinnen konnten, deren Spenden zusätzlich zu den anderen Förderungen die CD-Finanzierung möglich gemacht haben. Und wenn wir die CD im nächsten Jahr weiterhin erfolgreich verkaufen, haben wir hoffentlich Ende 2021 alle Produktionskosten wieder drin.
Rund 50 Konzerte haben wir in diesem Jahr gespielt. Dazu zählen auch kleinere Straßenkonzerte oder Konzerte bei sozialen Einrichtungen, die wir im Sommer über einen kleinen Fördertopf organisiert haben, um den Musiker*innen in diesem Jahr ein paar Konzerte und damit auch Gagen zu vermitteln. Wir hatten tatsächlich auch Termin-Glück und konnten mit dem Kammerorchester den Großteil der geplanten Tourtermine für dieses Jahr spielen. Rund 40 Konzerte wurden abgesagt, darunter auch das hr-Konzert – es wäre das fünfte Konzert gewesen. Und ebenso viele Anfragen schätze ich mal wurden erst gar nicht gestellt, weil absehbar war, dass sie nicht stattfinden können.
Welche Rolle spielt der Hessische Rundfunk bei Bridges – Musik verbindet?
Meyer: Bridges ist ja eng verbunden mit dem hr, der ja auch ein bisschen Geburtshelfer war, als die damaligen Initiatorinnen das Angebot bekamen, das erste Bridges-Konzert im hr-Sendesaal zu spielen. Seitdem waren wir jährlich dort und haben guten Kontakt zu den Zuständigen bei hr2-kultur. In diesem Jahr hat es ja leider nicht geklappt mit dem Konzert im April… dafür sind sie nun bei der CD-Produktion involviert und wir sind sehr dankbar über diese tolle Zusammenarbeit.
Dahlhoff: Ohne den Hessischen Rundfunk hätten wir die CD-Produktion in diesem Jahr nicht stemmen können. Das ist ja die erste Bridges-CD-Produktion überhaupt und das gleich mit einem Kammerorchester mit 28 Personen; das ist nochmal was ganz Anderes, als wenn sich eine Band mit vier oder fünf Leuten zusammen in ein Tonstudio einmietet. Da braucht man einfach sehr erfahrene Leute, die ein so junges und musikalisch heterogenes Orchester bei der ersten Aufnahme begleiten.
28 Musiker:innen waren an der Produktion beteiligt – wie kam die Auswahl letzten Endes zustande? Es sind ja Namen der ersten Stunde dabei und auch viele, die später dazu kamen? Und fast alle Kontinente sind jetzt vertreten …
Dahlhoff: Das Bridges-Kammerorchester haben wir Ende 2019 gegründet und es besteht aus einem festen Kern. Da sind Leute dabei, die in der allerersten Bridges-Probe im Januar 2016 dabei waren und Leute, die in den kommenden Jahren dazu kamen. Die Musiker*innen des Kammerorchesters sind überwiegende freiberufliche Musiker*innen bzw. in ihrem Musikstudium in fortgeschrittenen Semestern. Alle waren zur Zeit der Gründung des Kammerorchesters bereits so lange bei Bridges, dass sie gut einschätzen konnten, ob sie sich auf dieses neue, zeitintensive und musikalisch herausfordernde Projekt einlassen wollten. Auf der CD haben wir einen Gast dabei, der kolumbianische Nationalinstrumente spielt; und da unsere Stammcellistin coronabedingt monatelang in Südafrika festsaß, hatten wir für sie einen wunderbaren Ersatz gefunden. Ansonsten ist die Besetzung auf der CD auch die Besetzung, die in den Live-Konzerten des Kammerorchesters auf der Bühne sitzt. Nur bei der Perkussion und bei den Blasinstrumenten haben wir meistens eine kleinere Personenanzahl im Konzert dabei. Und was die Kontinente angeht: Australien und Ozeanien sowie die Antarktis fehlen, aber ansonsten ist mittlerweile jeder Kontinent vertreten.
Wie wichtig war es, bei der Auswahl der zwölf Tracks neben Bearbeitung etwa von Folksongs und Tänzen vor allem Original-Kompositionen aufzunehmen?
Dahlhoff: Die Original-Kompositionen unserer Orchestermitglieder hatten oberste Priorität. Wir haben zuerst diese Stücke ausgewählt und dann Arrangements dazu genommen. Dabei haben wir Wert darauf gelegt, dass wirklich nur Titel auf die CD kommen, die von den Orchestermitgliedern selbst komponiert bzw. arrangiert wurden. Am liebsten hätte ich nur Originalkompositionen auf der CD veröffentlicht, aber das war praktisch nicht umsetzbar. Denn wie gesagt: das Orchester existiert erst seit Ende 2019 und die CD-Produktion war für 2020 gar nicht vorgesehen. Wir hatten nur zwei Monate Zeit für die Planung, das ist für so ein großes Projekt sehr wenig. Daher haben wir auf unsere Kompositionen und Arrangements zurückgegriffen, die bereits existierten, denn wir hätten es einfach nicht geschafft, so schnell noch etwas Neues zu komponieren und einzustudieren. Umso beeindruckter bin ich von der Vielfalt an Klängen, die wir bereits in unserem ersten Jahr für das Kammerorchester entwickelt haben. Diese CD ist ein wunderbarer Einblick in das, womit wir uns aktuell beschäftigen und ein Ausblick auf das, was da noch so kommt.
Die Komposition von Peter Klohmann gab schließlich dem Album seinen Titel. Das Wortschöpfung Identigration wurde ja sozusagen zu einem Leitmotiv, das es auch in der gemeinsamen Arbeit zu erfüllen galt. Trotzdem steht dahinter ein Fragezeichen. Damit setzen Sie sicher nicht Ihre Arbeit in Frage, sondern eher die tägliche Umsetzung in unserer Gesellschaft?
Dahlhoff: Da gibt es einen wichtigen Unterschied, der auch unsere Entwicklung widerspiegelt: als Peter Klohmann das Stück „Identigration?“ 2018 für uns schrieb und das Wort erfand, setzte er dahinter ein Fragezeichen. Dieses Stück war bis zum damaligen Zeitpunkt das Werk in unserer Bridges-Geschichte, dass am radikalsten mit dem Wechselspiel und der Spannung von Identität und Integration spielte und die Spieler*innen dementsprechend herausforderte. Das Fragezeichen stand damals unter anderem auch für die Frage, ob das überhaupt gelingen kann. Zweieinhalb Jahre später nennen wir unsere erste CD ebenfalls „Identigration“, allerdings ohne Fragezeichen. Dafür haben wir einen sehr guten Grund.
Meyer: Manchmal würden wir diese Begriffe am liebsten abschaffen, Integration klingt nach Anpassung – auch wenn wir es als beidseitigen Vorgang verstehen. Was diese Neuschöpfung aber auch ganz praktisch zeigt: man kann Dinge auseinander pflücken und neu zusammensetzen und daraus entsteht etwas ganz Neues! So entsteht Kultur und so ist auch die Orchesterkultur entstanden.
Damit trägt das Bridges-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung der etablierten klassisch europäischen Orchesterkultur bei. So steht es im Booklet. Geht man von den Anfängen des Projektes aus, wo das Laienhafte mancher Ansätze noch Teil eines charmanten Experimentes war, ist das jetzt das selbstbewusste Statement eines zur Professionalität gereiften Ensembles. War das der vorausbestimmte Weg?
Dahlhoff: Hier ist es wichtig, den Gesamtkontext zu sehen: Das Bridges-Kammerorchester setzt sich aus freiberuflichen professionellen Musiker*innen zusammen. Dass wir einmal so ein Orchester gründen, war in der allerersten Probe 2016 zwar noch nicht abzusehen, der Wunsch danach kam aber bereits Mitte 2016 auf und seitdem haben wir dieses zukünftige Orchester grundsätzlich immer mitgedacht und irgendwann immer gezielter darauf hingearbeitet. Und auch wenn man es dem Kammerorchester auf der Bühne meistens nicht mehr ansieht: das charmante Experiment gibt es bei uns nach wie vor in jeder Probe. Das ist auch der Grund dafür, dass ich jede/n neue/n Dirigenten/in vor der ersten Probe eingehend briefe, denn unser Charme kann auch eine große Herausforderung sein. Und bei aller Motivation, mit der die Orchestermitglieder gemeinsam das Kammerorchester weiterentwickeln und sich dadurch nach und nach auch ein erstaunlicher Konsens für den Ablauf von Proben entwickelt, haben wir unseren Ursprung nicht vergessen: In unseren Jam Sessions spielen nach wie vor Profis und Laien wild drauf los und diese Sessions sind oftmals Ursprung unserer Kreativität und stoßen neue Projekte und Ensembles an.
Meyer: Ein vorausbestimmter Weg war ganz sicher, dass es von Anfang an unser Ziel war, dass jede*r einzelne Musiker*in seine/ihre Stärken bei uns zeigen und ausbauen kann und dass das Potential einer unbefangenen, co-kreativen Zusammenarbeit im Vordergrund stehen soll. Von daher kann man das als vorbestimmt sehen. Experiment klingt auch sehr nach einmal ausprobiert und dann wieder zurück zum Alten. Wir wollen auch gerade zeigen bzw. in Frage stellen, ob man dahin zurück muss?
Wir sind große Fans von europäischer Klassik, sehen aber auch, dass dort oft antiquierte Arbeitseinstellungen und Herangehensweisen dominieren. Die Klassikszene ist oft sehr repetitiv, selbstreferentiell und männlich-eurozentristisch geprägt. Dabei birgt das Orchesterspiel soviel Kreativität und wir wollen es einfach nutzen, dass so viele talentierte Menschen zusammenkommen und jede/n Einzelne/n herausfordern - als Individuum und als Teil einer Gemeinschaft.
Zudem geht es uns auch um die Sichtweise der Rezipient*innen. Vivaldi ist mitnichten der einzige Klassiker! Aber die anderen Klassiker werden hier einfach nicht gehört oder wertgeschätzt. Da sind wir, was die Klassik angeht schon sehr eurozentristisch. Es gibt ja z.B. auch klassische persische und klassische arabische Musik und vielleicht sollten wir uns etwas mehr öffnen, im Sinne eines unvoreingenommenen Hörerlebnisses.
Es gibt, selbst in der Semi-Klassik, Projekte, die das „Fremdländige“ zugänglicher, verdaulicher präsentieren wollen. Gleich der Einstieg in Ihr Album belegt ja eher, dass Sie vor allem auf Authentizität setzen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich ungeübte Ohren irritiert fühlen könnten? Ist das Teil der „Versuchsanordnung“, wollten Sie eine intensive Auseinandersetzung mit der Musik, deren Inhalte, den Musiker*innen, den Biografien?
Dahlhoff: Tatsächlich bin ich persönlich weder eine Freundin von „Fahrstuhlmusik“, noch von beliebiger Musikberieselung in Cafés. Wenn man heutzutage überhaupt noch eine CD produziert, anstatt seine Musik zu streamen, dann finde ich es wichtig, dass man sich darüber Gedanken macht, was man warum und in welcher Reihenfolge auf so einem Album veröffentlicht. Gemeinsam mit mehreren Orchestermitgliedern habe ich mir deswegen sehr ausgiebig Gedanken über die Reihenfolge gemacht und wir sind am Ende zu dem Schluss gekommen, dass „Silk Road“ von Pejman Jamilpanah das perfekte Eröffnungsstück ist. Gleich der dritte Ton klingt für klassisch-europäisch sozialisierte Ohren ungewöhnlich, denn der Viertelton liegt genau zwischen einer weißen und schwarzen Klaviertaste, kommt also in der westlichen Musiktradition nicht vor und gilt hier als „falsch“. Im weiteren Verlauf schreibt Jamilpanah Akkorde, die weder zum Tongeschlecht Dur noch Moll gehören, sondern genau dazwischen liegen, weil durch den Viertelton die Quinte in zwei gleich große Hälften geteilt ist. Das ist nicht nur für europäische Ohren ungewöhnlich, sondern auch in der traditionellen persischen Musik schreibt man solche Akkorde nicht. Das ist ähnlich revolutionär, wie der Beginn von Beethovens erster Sinfonie mit einem Septakkord – sowas hat man bis dahin einfach nicht gemacht! Damit steht Pejman Jamilpanahs Stück ganz besonders für Aufbruch, „Identigration“ und gemeinsam Neues schaffen, also genau das, worum es uns geht.
Schön ist auch der Titel: Die „Silk Road“ war ja nicht nur eine Route, auf der Europa chinesische Seide erhalten hat, sondern über Jahrhunderte wurde dort in alle Richtungen eine Vielzahl von Waren, Kultur und auch Musik ausgetauscht. „Silk Road“ ist der Name aus europäischer Sicht, da die Seide für Europa das wichtigste Handelsgut war. Aus fernöstlicher Perspektive könnte die Route auch „Glasstraße“ heißen, das zu den wichtigsten Gütern auf dem Weg von West nach Ost gehörte...
Corona erlaubt keine normale Promotion des Albums mit Release-Konzert, gar einer Tournee etc. Wie ist Ihre Strategie, wie wollen Sie das Album und Ihre Arbeit nun weiter publik machen?
Meyer: Ja, ein Release-Konzert im Dezember war mal kurz unser Traum. Aber wir werden unsere Kooperation mit dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain im Jahr 2021 fortführen und das Bridges-Kammerorchester weiter durch das Rhein-Main-Gebiet schicken. Auch für 2022 haben wir schon Anfragen. Und wir werden bei diesen Konzerten und auch bei den Konzerten unserer Ensembles die CD verkaufen.
Dahlhoff: Wie bereits erwähnt: über Crowdfunding haben wir bereits vor Fertigstellung mehr CDs verkauft als erwartet und über unsere üblichen Kanäle erreichen wir auch in Corona-Zeiten unser Publikum, das unsere CDs bestellt und erfreulicherweise auch weiterempfiehlt. Auch ist geplant, dass der Hessische Rundfunk als Kooperationspartner über unsere CD berichten und die Musik senden wird und da hoffen wir natürlich, dass gerade dann Interessierte das Radio einschalten, wenn ein Beitrag über „Identigration“ läuft.
>> Das Interview führte Detlef Kinsler für die Ausgabe 01/2021 des JOURNAL FRANKFURT.
Johanna-Leonore Dahlhoff: Tatsächlich haben wir es in diesem Corona-Jahr geschafft, alle unsere Projekte an die Umstände anzupassen und weiterlaufen zu lassen: also unsere Ensembles, Workshops, Sessions und sogar den Chor. Unsere Konzentration lag also nicht komplett auf dem Kammerorchester. Allerdings hat die CD-Produktion ab Mitte des Jahres viel unserer Zeit und Energie gebunden. Die CD-Produktion war dieses Jahr eigentlich nicht geplant, sondern durch die besondere Corona-Situation entstanden. Wir hatten das große Glück, dass hr2-Kultur uns sehr schnell nach unserer ersten Anfrage Anfang Juni die Ko-Produktion angeboten hat. Da wegen Corona so viel abgesagt wurde und niemand in den Urlaub gefahren ist, konnten wir das gesamte Orchester inklusive drei (!) Dirigenten sehr kurzfristig für die Aufnahmen Anfang August zusammenbringen. In dieser kurzen Vorlaufzeit von zwei Monaten habe ich die Titelauswahl gemeinsam mit den Dirigenten sowie unseren Komponist*innen/Arrangeur*innen geplant und die Aufnahmesituation mit dem Tonmeister Robin Bös besprochen. Parallel dazu haben Anke Meyer und ich uns um die Finanzierung der Produktion gekümmert.
Anke Karen Meyer: Mit hr2-kultur im Boot waren die entscheidenden Themen jeder CD-Produktion - technische Ausstattung, ein erfahrenes Produktionsteam sowie Mixing und Mastering - in sehr guten Händen. Mit dieser Unterstützung im Rücken haben wir nach geeigneten Fördertöpfen gesucht und mit dem Corona-Kultur-Paket vom Land Hessen auch gefunden. Zusätzlich haben wir auf Crowdfunding gesetzt, denn das eignet sich ganz wunderbar, wenn man so ein schönes Produkt hat. Besonders hilfreich war dabei, dass kulturMut die Crowdfunding-Einnahmen aufgestockt hat. Wir sind begeistert, dass wir dadurch viele CDs bereits vor ihrer Erscheinung verkauft haben. Am Ende wäre die kostspielige CD-Produktion aber nicht ohne die Unterstützung unseres Publikums, persönliche Kontakte und wertvolle Fürsprecher*innen möglich gewesen. Wir sind sehr dankbar, dass wir einen Mäzen und weitere Privatpersonen gewinnen konnten, deren Spenden zusätzlich zu den anderen Förderungen die CD-Finanzierung möglich gemacht haben. Und wenn wir die CD im nächsten Jahr weiterhin erfolgreich verkaufen, haben wir hoffentlich Ende 2021 alle Produktionskosten wieder drin.
Rund 50 Konzerte haben wir in diesem Jahr gespielt. Dazu zählen auch kleinere Straßenkonzerte oder Konzerte bei sozialen Einrichtungen, die wir im Sommer über einen kleinen Fördertopf organisiert haben, um den Musiker*innen in diesem Jahr ein paar Konzerte und damit auch Gagen zu vermitteln. Wir hatten tatsächlich auch Termin-Glück und konnten mit dem Kammerorchester den Großteil der geplanten Tourtermine für dieses Jahr spielen. Rund 40 Konzerte wurden abgesagt, darunter auch das hr-Konzert – es wäre das fünfte Konzert gewesen. Und ebenso viele Anfragen schätze ich mal wurden erst gar nicht gestellt, weil absehbar war, dass sie nicht stattfinden können.
Welche Rolle spielt der Hessische Rundfunk bei Bridges – Musik verbindet?
Meyer: Bridges ist ja eng verbunden mit dem hr, der ja auch ein bisschen Geburtshelfer war, als die damaligen Initiatorinnen das Angebot bekamen, das erste Bridges-Konzert im hr-Sendesaal zu spielen. Seitdem waren wir jährlich dort und haben guten Kontakt zu den Zuständigen bei hr2-kultur. In diesem Jahr hat es ja leider nicht geklappt mit dem Konzert im April… dafür sind sie nun bei der CD-Produktion involviert und wir sind sehr dankbar über diese tolle Zusammenarbeit.
Dahlhoff: Ohne den Hessischen Rundfunk hätten wir die CD-Produktion in diesem Jahr nicht stemmen können. Das ist ja die erste Bridges-CD-Produktion überhaupt und das gleich mit einem Kammerorchester mit 28 Personen; das ist nochmal was ganz Anderes, als wenn sich eine Band mit vier oder fünf Leuten zusammen in ein Tonstudio einmietet. Da braucht man einfach sehr erfahrene Leute, die ein so junges und musikalisch heterogenes Orchester bei der ersten Aufnahme begleiten.
28 Musiker:innen waren an der Produktion beteiligt – wie kam die Auswahl letzten Endes zustande? Es sind ja Namen der ersten Stunde dabei und auch viele, die später dazu kamen? Und fast alle Kontinente sind jetzt vertreten …
Dahlhoff: Das Bridges-Kammerorchester haben wir Ende 2019 gegründet und es besteht aus einem festen Kern. Da sind Leute dabei, die in der allerersten Bridges-Probe im Januar 2016 dabei waren und Leute, die in den kommenden Jahren dazu kamen. Die Musiker*innen des Kammerorchesters sind überwiegende freiberufliche Musiker*innen bzw. in ihrem Musikstudium in fortgeschrittenen Semestern. Alle waren zur Zeit der Gründung des Kammerorchesters bereits so lange bei Bridges, dass sie gut einschätzen konnten, ob sie sich auf dieses neue, zeitintensive und musikalisch herausfordernde Projekt einlassen wollten. Auf der CD haben wir einen Gast dabei, der kolumbianische Nationalinstrumente spielt; und da unsere Stammcellistin coronabedingt monatelang in Südafrika festsaß, hatten wir für sie einen wunderbaren Ersatz gefunden. Ansonsten ist die Besetzung auf der CD auch die Besetzung, die in den Live-Konzerten des Kammerorchesters auf der Bühne sitzt. Nur bei der Perkussion und bei den Blasinstrumenten haben wir meistens eine kleinere Personenanzahl im Konzert dabei. Und was die Kontinente angeht: Australien und Ozeanien sowie die Antarktis fehlen, aber ansonsten ist mittlerweile jeder Kontinent vertreten.
Wie wichtig war es, bei der Auswahl der zwölf Tracks neben Bearbeitung etwa von Folksongs und Tänzen vor allem Original-Kompositionen aufzunehmen?
Dahlhoff: Die Original-Kompositionen unserer Orchestermitglieder hatten oberste Priorität. Wir haben zuerst diese Stücke ausgewählt und dann Arrangements dazu genommen. Dabei haben wir Wert darauf gelegt, dass wirklich nur Titel auf die CD kommen, die von den Orchestermitgliedern selbst komponiert bzw. arrangiert wurden. Am liebsten hätte ich nur Originalkompositionen auf der CD veröffentlicht, aber das war praktisch nicht umsetzbar. Denn wie gesagt: das Orchester existiert erst seit Ende 2019 und die CD-Produktion war für 2020 gar nicht vorgesehen. Wir hatten nur zwei Monate Zeit für die Planung, das ist für so ein großes Projekt sehr wenig. Daher haben wir auf unsere Kompositionen und Arrangements zurückgegriffen, die bereits existierten, denn wir hätten es einfach nicht geschafft, so schnell noch etwas Neues zu komponieren und einzustudieren. Umso beeindruckter bin ich von der Vielfalt an Klängen, die wir bereits in unserem ersten Jahr für das Kammerorchester entwickelt haben. Diese CD ist ein wunderbarer Einblick in das, womit wir uns aktuell beschäftigen und ein Ausblick auf das, was da noch so kommt.
Die Komposition von Peter Klohmann gab schließlich dem Album seinen Titel. Das Wortschöpfung Identigration wurde ja sozusagen zu einem Leitmotiv, das es auch in der gemeinsamen Arbeit zu erfüllen galt. Trotzdem steht dahinter ein Fragezeichen. Damit setzen Sie sicher nicht Ihre Arbeit in Frage, sondern eher die tägliche Umsetzung in unserer Gesellschaft?
Dahlhoff: Da gibt es einen wichtigen Unterschied, der auch unsere Entwicklung widerspiegelt: als Peter Klohmann das Stück „Identigration?“ 2018 für uns schrieb und das Wort erfand, setzte er dahinter ein Fragezeichen. Dieses Stück war bis zum damaligen Zeitpunkt das Werk in unserer Bridges-Geschichte, dass am radikalsten mit dem Wechselspiel und der Spannung von Identität und Integration spielte und die Spieler*innen dementsprechend herausforderte. Das Fragezeichen stand damals unter anderem auch für die Frage, ob das überhaupt gelingen kann. Zweieinhalb Jahre später nennen wir unsere erste CD ebenfalls „Identigration“, allerdings ohne Fragezeichen. Dafür haben wir einen sehr guten Grund.
Meyer: Manchmal würden wir diese Begriffe am liebsten abschaffen, Integration klingt nach Anpassung – auch wenn wir es als beidseitigen Vorgang verstehen. Was diese Neuschöpfung aber auch ganz praktisch zeigt: man kann Dinge auseinander pflücken und neu zusammensetzen und daraus entsteht etwas ganz Neues! So entsteht Kultur und so ist auch die Orchesterkultur entstanden.
Damit trägt das Bridges-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung der etablierten klassisch europäischen Orchesterkultur bei. So steht es im Booklet. Geht man von den Anfängen des Projektes aus, wo das Laienhafte mancher Ansätze noch Teil eines charmanten Experimentes war, ist das jetzt das selbstbewusste Statement eines zur Professionalität gereiften Ensembles. War das der vorausbestimmte Weg?
Dahlhoff: Hier ist es wichtig, den Gesamtkontext zu sehen: Das Bridges-Kammerorchester setzt sich aus freiberuflichen professionellen Musiker*innen zusammen. Dass wir einmal so ein Orchester gründen, war in der allerersten Probe 2016 zwar noch nicht abzusehen, der Wunsch danach kam aber bereits Mitte 2016 auf und seitdem haben wir dieses zukünftige Orchester grundsätzlich immer mitgedacht und irgendwann immer gezielter darauf hingearbeitet. Und auch wenn man es dem Kammerorchester auf der Bühne meistens nicht mehr ansieht: das charmante Experiment gibt es bei uns nach wie vor in jeder Probe. Das ist auch der Grund dafür, dass ich jede/n neue/n Dirigenten/in vor der ersten Probe eingehend briefe, denn unser Charme kann auch eine große Herausforderung sein. Und bei aller Motivation, mit der die Orchestermitglieder gemeinsam das Kammerorchester weiterentwickeln und sich dadurch nach und nach auch ein erstaunlicher Konsens für den Ablauf von Proben entwickelt, haben wir unseren Ursprung nicht vergessen: In unseren Jam Sessions spielen nach wie vor Profis und Laien wild drauf los und diese Sessions sind oftmals Ursprung unserer Kreativität und stoßen neue Projekte und Ensembles an.
Meyer: Ein vorausbestimmter Weg war ganz sicher, dass es von Anfang an unser Ziel war, dass jede*r einzelne Musiker*in seine/ihre Stärken bei uns zeigen und ausbauen kann und dass das Potential einer unbefangenen, co-kreativen Zusammenarbeit im Vordergrund stehen soll. Von daher kann man das als vorbestimmt sehen. Experiment klingt auch sehr nach einmal ausprobiert und dann wieder zurück zum Alten. Wir wollen auch gerade zeigen bzw. in Frage stellen, ob man dahin zurück muss?
Wir sind große Fans von europäischer Klassik, sehen aber auch, dass dort oft antiquierte Arbeitseinstellungen und Herangehensweisen dominieren. Die Klassikszene ist oft sehr repetitiv, selbstreferentiell und männlich-eurozentristisch geprägt. Dabei birgt das Orchesterspiel soviel Kreativität und wir wollen es einfach nutzen, dass so viele talentierte Menschen zusammenkommen und jede/n Einzelne/n herausfordern - als Individuum und als Teil einer Gemeinschaft.
Zudem geht es uns auch um die Sichtweise der Rezipient*innen. Vivaldi ist mitnichten der einzige Klassiker! Aber die anderen Klassiker werden hier einfach nicht gehört oder wertgeschätzt. Da sind wir, was die Klassik angeht schon sehr eurozentristisch. Es gibt ja z.B. auch klassische persische und klassische arabische Musik und vielleicht sollten wir uns etwas mehr öffnen, im Sinne eines unvoreingenommenen Hörerlebnisses.
Es gibt, selbst in der Semi-Klassik, Projekte, die das „Fremdländige“ zugänglicher, verdaulicher präsentieren wollen. Gleich der Einstieg in Ihr Album belegt ja eher, dass Sie vor allem auf Authentizität setzen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich ungeübte Ohren irritiert fühlen könnten? Ist das Teil der „Versuchsanordnung“, wollten Sie eine intensive Auseinandersetzung mit der Musik, deren Inhalte, den Musiker*innen, den Biografien?
Dahlhoff: Tatsächlich bin ich persönlich weder eine Freundin von „Fahrstuhlmusik“, noch von beliebiger Musikberieselung in Cafés. Wenn man heutzutage überhaupt noch eine CD produziert, anstatt seine Musik zu streamen, dann finde ich es wichtig, dass man sich darüber Gedanken macht, was man warum und in welcher Reihenfolge auf so einem Album veröffentlicht. Gemeinsam mit mehreren Orchestermitgliedern habe ich mir deswegen sehr ausgiebig Gedanken über die Reihenfolge gemacht und wir sind am Ende zu dem Schluss gekommen, dass „Silk Road“ von Pejman Jamilpanah das perfekte Eröffnungsstück ist. Gleich der dritte Ton klingt für klassisch-europäisch sozialisierte Ohren ungewöhnlich, denn der Viertelton liegt genau zwischen einer weißen und schwarzen Klaviertaste, kommt also in der westlichen Musiktradition nicht vor und gilt hier als „falsch“. Im weiteren Verlauf schreibt Jamilpanah Akkorde, die weder zum Tongeschlecht Dur noch Moll gehören, sondern genau dazwischen liegen, weil durch den Viertelton die Quinte in zwei gleich große Hälften geteilt ist. Das ist nicht nur für europäische Ohren ungewöhnlich, sondern auch in der traditionellen persischen Musik schreibt man solche Akkorde nicht. Das ist ähnlich revolutionär, wie der Beginn von Beethovens erster Sinfonie mit einem Septakkord – sowas hat man bis dahin einfach nicht gemacht! Damit steht Pejman Jamilpanahs Stück ganz besonders für Aufbruch, „Identigration“ und gemeinsam Neues schaffen, also genau das, worum es uns geht.
Schön ist auch der Titel: Die „Silk Road“ war ja nicht nur eine Route, auf der Europa chinesische Seide erhalten hat, sondern über Jahrhunderte wurde dort in alle Richtungen eine Vielzahl von Waren, Kultur und auch Musik ausgetauscht. „Silk Road“ ist der Name aus europäischer Sicht, da die Seide für Europa das wichtigste Handelsgut war. Aus fernöstlicher Perspektive könnte die Route auch „Glasstraße“ heißen, das zu den wichtigsten Gütern auf dem Weg von West nach Ost gehörte...
Corona erlaubt keine normale Promotion des Albums mit Release-Konzert, gar einer Tournee etc. Wie ist Ihre Strategie, wie wollen Sie das Album und Ihre Arbeit nun weiter publik machen?
Meyer: Ja, ein Release-Konzert im Dezember war mal kurz unser Traum. Aber wir werden unsere Kooperation mit dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain im Jahr 2021 fortführen und das Bridges-Kammerorchester weiter durch das Rhein-Main-Gebiet schicken. Auch für 2022 haben wir schon Anfragen. Und wir werden bei diesen Konzerten und auch bei den Konzerten unserer Ensembles die CD verkaufen.
Dahlhoff: Wie bereits erwähnt: über Crowdfunding haben wir bereits vor Fertigstellung mehr CDs verkauft als erwartet und über unsere üblichen Kanäle erreichen wir auch in Corona-Zeiten unser Publikum, das unsere CDs bestellt und erfreulicherweise auch weiterempfiehlt. Auch ist geplant, dass der Hessische Rundfunk als Kooperationspartner über unsere CD berichten und die Musik senden wird und da hoffen wir natürlich, dass gerade dann Interessierte das Radio einschalten, wenn ein Beitrag über „Identigration“ läuft.
>> Das Interview führte Detlef Kinsler für die Ausgabe 01/2021 des JOURNAL FRANKFURT.
4. Januar 2021, 11.20 Uhr
Detlef Kinsler
Detlef Kinsler
Weil sein Hobby schon früh zum Beruf wurde, ist Fotografieren eine weitere Leidenschaft des Journal-Frankfurt-Musikredakteurs, der außerdem regelmäßig über Frauenfußball schreibt. Mehr von Detlef
Kinsler >>
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Text: Katharina J. Cichosch / Foto: © Lebohang Kganye, Ke bala buka ke apere naeterese II, 2013
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17. November 2024
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