Foto: „Kolle“ ist kurz für „Kollektiv Leben“. © Harald Schröder
Wohnprojekt „Kolle“ in Frankfurt-Griesheim

Alternative zur anonymen Großstadtwohnung

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Die Nachfrage nach gemeinschaftlichen Wohnformen in Frankfurt ist groß. Der Weg bis zum Einzug in die meist selbstverwalteten Häuser ist trotz guter Zusammenarbeit mit der Stadt oft langwierig und anstrengend.

Lennart Hasche /

Neubau mit Dachterrasse und Skyline-Blick zu einem fairen Preis? Das klingt angesichts des Wohnraummangels und der immer weiter steigenden Mieten geradezu unmöglich. Für 42 Menschen soll das aber ab Sommer 2025 in Griesheim endlich Realität werden. Auf einem Hinterhofgrundstück nahe der A5 entsteht der fünfgeschossige Neubau, der sofort durch seine abgestuften Etagen, die außenliegenden Treppenläufe und Laubengänge auffällt. So besonders wie das Gebäude selbst ist auch das Konzept dahinter: Das gemeinschaftliche Wohnprojekt „Kollektiv Leben“, kurz „Kolle“, will eine Alternative zur anonymen Großstadtwohnung, zu Reihenendhaus und Kleinfamilie schaffen.

Aus dem Wunsch heraus, auch nach dem Berufseinstieg langfristig in Frankfurt und als Freundeskreis zusammenbleiben zu können, machte sich 2017 die damals neunköpfige Gruppe auf die Suche nach möglichen Objekten für ihr Projekt. „Anfangs sind wir mit dem Fahrrad durch Frankfurt gefahren und haben nach leerstehenden Grundstücken und Gebäuden gesucht, rausgefunden, wem die gehören und nachgefragt, ob die vielleicht zum Verkauf stehen“, sagt Fabian Jellonnek, der bereits seit den ersten Treffen dabei ist.

Doch es hagelte Absagen. Erst 2019 und mehr durch Zufall kamen sie über eine Ausschreibung an das aufgrund der starken Lärmbelastung bis dahin brachliegende städtische Grundstück. Bei den sogenannten Konzeptverfahren, die sich explizit an Wohnprojekte richten, werden die Liegenschaften aus dem eigens dafür eingerichteten Fonds nicht wie üblich an den Höchstbietenden vergeben; den Zuschlag erhält die Gruppe mit den besten Ideen.



Fabian Jellonnek © Harald Schröder

Veranstaltungsraum, Werkstatt und Tonstudio im Erdgeschoss

Bei „Kolle“ waren das eine ganze Menge: Neben den beiden großen Terrassen, auf denen Gemüse angebaut und gekocht werden soll, entstehen eine gemeinschaftlich genutzte Sauna und mehrere Gemeinschaftsräume. Die Wohnungen sind modular angelegt, können also, wenn sich Familien oder Wohngemeinschaften vergrößern oder verkleinern, durch den Rückbau einer Flurwand erweitert oder getrennt werden. So wie die WG, die Jellonnek mit acht weiteren Bewohnern beziehen wird und die dafür drei Wohnungen verschaltet haben.

Das Erdgeschoss soll nicht nur der Hausgemeinschaft, sondern vor allem den Frankfurtern offenstehen. Hier plant das Wohnprojekt einen großen Veranstaltungsraum, eine Werkstatt und ein kleines Tonstudio, die zukünftig für Lesungen, Workshops oder Podcast-Aufzeichnungen genutzt und vermietet werden sollen. Daneben werden ein Co-Working-Bereich sowie zwei Beratungsräume eingerichtet, für die sich mit der Beratungsstelle „Faire Mobilität“, die sich für bessere Arbeitsbedingungen europäischer Wanderarbeiter einsetzt, schon eine erste Mieterin gefunden hat.

Projekt kostet mehr als neun Millionen Euro

Bis zum Spatenstich im Sommer 2023 war es ein langer Weg, ein „Mammutprozess“, wie Jellonnek es nennt. Die während der Covid-19-Pandemie stark gestiegenen Baukosten und Zinsen führten dazu, dass das Vorhaben fast gescheitert wäre. Das Geld für die Planung kam anfangs vor allem aus Direktkrediten, private Investitionen von Verwandten und Freunden. „Wir standen kurz vor dem finanziellen Kollaps. Fast hätten wir allen erklären müssen: ,Euer Geld ist verbrannt.‘ Das war eine sehr emotional belastende Phase.“ Letztendlich schaffte es die Gruppe, nochmals Gelder beim Land Hessen und der Stadt Frankfurt zu akquirieren. Wenn alles fertig ist, sind mehr als neun Millionen Euro in das Haus in der Schöffenstraße geflossen.



Noch im Rohbau © Harald Schröder

Auch Mario Como kennt die Herausforderungen. Er ist Projektleiter in der Koordinations- und Beratungsstelle des Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen und berät Gruppen in den laufenden Konzeptverfahren. Der gemeinnützige und von der Stadt geförderte Verein feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Jubiläum, hat sich etabliert: „Wir sind Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft, für die Stadt und für die Verwaltung geworden. Diese Scharnierstelle übernehmen wir gerne.“

Como, selbst Bewohner eines Hausprojekts im Bahnhofsviertel, weiß, warum gemeinschaftliche Wohnprojekte bei der Verwaltung oft auf Zurückhaltung stoßen: „Die Ämter kennen die Arbeit mit Investoren und Architekten, da gibt es ganz klare Vorgaben. Eine Gruppe, die viel diskutieren muss, bei denen Aushandlungsprozesse länger brauchen, das verschreckt die Verwaltung erst einmal.“

Como: „Mehr Grundstücke, mehr Liegenschaften, mehr Förderung!“

Zudem zeigten sich die Ämter teils unflexibel, etwa bei der Erschließung von Grundstücken oder beim Umgang mit dem Denkmalschutz. Ein weiterer Faktor sei der aufgrund der gestiegenen Bodenwerte hohe Erbpachtzins, den die Wohnprojekte an die Stadt entrichten müssen. Im Vergleich zu anderen Städten gäbe es laut Como in Frankfurt dennoch viel politischen Willen, den inzwischen rund 30 Wohnprojekten noch weitere folgen zu lassen. So sieht der 2020 von den Stadtverordneten verabschiedete Baulandbeschluss vor, 15 Prozent der Flächen in Neubaugebieten gemeinschaftlichen und genossenschaftlichen Wohnformen zur Verfügung zu stellen.

Luft nach oben gibt es trotzdem. Während in Frankfurt nur etwa alle zwei Jahre neue Liegenschaften an Wohnprojekte vergeben werden können, ist die Schlagzahl in Freiburg oder Tübingen deutlich höher. Die Stadt München kommt den Gruppen entgegen, indem sie den hohen Erbpachtzinsen durch gedeckelte Bodenwerte entgegensteuern. Auch gegen den Leerstand, etwa in der Berger Straße oder beim Paradieshof, müsse die Stadt aktiv werden. Comos Appell: „Mehr Grundstücke, mehr Liegenschaften, mehr Förderung!“



Das „Lilaluftschloss“ auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Naxos-Union © Harald Schröder

Wohnen auf dem ehemaligen Naxosgelände

Die Gruppe „W.I.R.“ – kurz für „Wohnen im Ruhestand“– hat es bereits geschafft. Neun Frauen und ein Mann wohnen seit Januar 2020 gemeinsam auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Naxos-Union. Sie alle wollten nicht alleine altern, haben ihre Stadtwohnungen gegen 50 Quadratmeter im Wohnprojekt getauscht. Mit „Kolle“ haben sie nicht nur die Dachterrasse mit Blick auf die Bankentürme gemein; auch sie haben lange für ihr eigenes Haus gekämpft. „Angefangen haben die ersten mit 50, ich bin mit 60 dazugestoßen und mit 70 bin ich eingezogen“, berichtet Renate Aßmus und lacht. Aus ihrer Sicht hatte der lange Vorlauf aber auch sein Gutes: „Wir hatten ganz intensiv miteinander zu tun, uns gut kennengelernt und schon bestimmte Kämpfe ausgefochten.“

Birgit Clemens, die als eine der Letzten zur Gruppe gestoßen ist, ergänzt: „Die, die jetzt eingezogen sind, wussten, auf welche Menschen sie sich einlassen. Dadurch ist das Zusammenleben auch so stabil.“ Als sich die Gruppe 2009 im Rahmen der Neugestaltung des Naxosgeländes auf das Grundstück bewarb, waren sie so etwas wie ein Pilotprojekt. Mittlerweile ist die Nachfrage enorm. Wöchentlich erhalte Clemens Anfragen von Menschen, die sich über gemeinschaftliches Wohnen im Alter informieren wollen. Älteste Interessentin: knapp unter 90 Jahren.



Auf der gemeinschaftlich genutzten Dachterrasse treffen sich die Bewohnerinnen, um das Miteinander zu pflegen. © Harald Schröder

Clemens: „Eine macht den Rotkohl, eine macht die Gans und dann isst man alles gemeinsam auf“

Besonders das Miteinander, die gegenseitige Verlässlichkeit, schätzen die Bewohnerinnen sehr. Wenn jemand krank wird, kaufen die anderen für sie ein, erledigen Apothekengänge. Zu Nikolaus stellen sie sich untereinander Kleinigkeiten vor die Tür. Das gemeinsame Gänseessen wird auf das Haus verteilt: „Eine macht den Rotkohl, eine macht die Gans und dann trifft man sich im Gemeinschaftsraum und isst alles gemeinsam auf“, erzählt Clemens. „Ich mach den Salat!“, fügt Aßmus fröhlich hinzu. Einen Auszug kann sich keine der Bewohnerinnen vorstellen.

In Griesheim hofft man derweil auf den baldigen Einzug. In der Nachbarschaft wurde das Projekt laut Jellonek bisher gut an- und aufgenommen: „Unsere direkten Nachbarn haben sich teilweise schon Sorgen gemacht und uns angeschrieben: ,Hey, bei euch passiert seit zwei Wochen nichts mehr. Was ist da los?‘“ Vorurteilen begegne er gelassen: „Man wird natürlich schnell in so ein Hippie-Klischee reingepackt. Dass es nicht so ist, merken die Leute ja dann, wenn es ans Zusammenleben kommt. Das kann man gut weglächeln,“ sagt Jellonnek und grinst.


Foto: „Kolle“ ist kurz für „Kollektiv Leben“. © Harald Schröder
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