Newsletter
|
ePaper
|
Apps
|
Abo
|
Shop
|
Jobs

Demokratie gestalten

Welche Orte braucht die Demokratie?

Im Alltag reduzieren wir Demokratie oftmals auf institutionelle Gefüge wie Partei, Parlament und Wahllokal. Diese Orte sind elementar, doch für eine Demokratie nicht alles. Was sie auszeichnet ist, dass Menschen sie praktizieren. Ein Gastbeitrag.
Wir sind es gewohnt, Demokratie als Staatsgebilde oder Regierungsform zu verstehen. Wir lernen das schon in der Schule: Demokratie als Herrschaftsorganisation, in Abgrenzung etwa zur Monarchie oder Aristokratie. In den Alltag übersetzt bedeutet dieses Verständnis von Demokratie zumeist, dass man alle fünf Jahre wählen geht und dabei seine politischen Interessen „delegiert“.

Die Orte der Demokratie

Wenn man so über Demokratie redet, läuft man Gefahr, die vielfältigen Räume, die eine Demokratie zu einer gelebten Demokratie machen, aus den Augen zu verlieren. Man reduziert sie auf institutionelle Gefüge: auf Partei, Parlament und Wahllokal. Diese Orte sind elementar – keine Frage. Sie sind ein zentraler Bestandteil der Demokratie, aber sie sind eben nicht alles. Demokratie ist mehr. Sie ist eine Praxis. Der Kollektivsingular – die Demokratie – verdeckt das mitunter. Eigentlich müsste man von Demokratie in der Verbform sprechen, denn was sie auszeichnet, ist ihr Tun oder besser: dass Menschen sie praktizieren. Sie erleben. Anteil nehmen. Sie mitgestalten. Und das niemals alleine, sondern immer schon im Plural. »Acting in concert«, wie Hannah Arendt schrieb.

Eben weil sie nicht feststeht, weil ihr ein grundlegendes Veränderungspotential innewohnt, kann sie sich gegen drohende Gefahren wie den Faschismus wehren und die rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Dunkelstellen ihrer eigenen Vergangenheit (und Gegenwart) aufklären. Demokratie, so könnte man sagen, treibt immer über sich hinaus. Sie verweigert es, sich eine definitive Form zu geben. Mit anderen Worten: Wer Demokratie vollumfassend definieren will, muss immer schon scheitern.

Blickt man mit dieser Einsicht auf die eingangs gestellte Frage, welche Orte eine Demokratie braucht, ist man mit einer paradoxen Konsequenz konfrontiert. Demokratie hat keinen Ort und doch ganz viele. Eben weil Demokratie überall stattfinden kann (und muss), ist sie – potenziell – an jedem Ort. Weil aber kein Ort für sich beanspruchen kann, der einzige zu sein, an dem Demokratie (ver-)wirklich(t) ist, heißt das auch, dass sie nie irgendwo ist. So betrachtet ließe sich auch sagen, dass sie eine Utopie im wörtlichen Sinne ist. Ein U-topos. Ein Nicht-Ort.

Heutzutage schrumpfen die demokratischen Räume. Das hat viele Gründe. Gentrifizierung, Privatisierung, Digitalisierung, Individualisierung – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen Am Ende fehlt es buchstäblich an verfüg- und nutzbaren Räumen.

Hier gilt es zu intervenieren. Denn verliert die Demokratie ihre heterogenen Räume, macht sie sich gewissermaßen handlungsunfähig. Sie braucht diese Orte, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Um die eigene demokratische Selbstwirksamkeit, ihr Praktisch-Werden zu affirmieren. Die Rede vom Utopischen hat dann einen faden Beigeschmack. Sie vertröstet uns gewissermaßen auf ein Morgen, in dem alles besser ist.

Anders-Handeln

Vielleicht könnte man Utopie aber auch anders verstehen. Als konkrete Utopie(n). Dann rücken all diejenigen Orte in den Blick, an denen das Utopische bereits heute real ist. Orte, die alternative Weisen darstellen, wie wir unser soziales und politisches Zusammenleben gestalten können; die Antwort geben auf die Vielzahl der Krisen, die unsere Gesellschaft gegenwärtig durchziehen. Genau genommen sind diese Orte konkreten Utopien, um mit Michel Foucault zu sprechen, Heterotopien. Gegen-, oder Anders-Orte. Sie zeigen auf, dass die Welt so wie sie ist, nicht sein müsste, dass es eine andere Verkörperung gibt. Warum ist das so wichtig? Viele Menschen fühlen sich politisch ohnmächtig. Sie glauben nicht mehr an einen lange propagierten Fortschritt. Dass sich die Dinge ändern können, scheint uns häufig unvorstellbar. Wir müssen das ernst nehmen. Denn diese affektiven Überzeugungen beeinflussen auf signifikante Art und Weise, wir wie unsere Welt wahrnehmen und mit wem wir uns identifizieren. Sie wirken auf unsere Gedankenwelt, schreiben sich ein in unsere Körper. Deswegen ist Demokratie auch immer eine Lebensform, weil sie unsere Leben formt. Nur wenn wir demokratische Orte schaffen, die das Anders-Werden der Demokratie (und damit auch von uns selbst) ermöglichen, können zukunftsfähige demokratische Praktiken und Heterotopien entstehen.

DemokratieWagen und Demokratiekonvent als Anders-Orte

Der Verein mehr als wählen e.V. versucht, in Frankfurt solche Anders-Orte zu schaffen. Mit dem regelmäßig stattfindenden Demokratiekonvent, einem gelosten Bürger:innenrat, und dem DemokratieWagen, einem mobilen Erfahrungsraum für demokratische Praxis, sollen Orte (im Plural) etabliert werden, an denen Demokratie anders erlebt und gestaltet werden kann. An beiden Orten geht es um Demokratie in der Verbform, um das aktive Praktizieren und demokratische Mitgestalten unserer Gesellschaft. Während der Demokratiekonvent versucht, mit zufällig ausgewählten Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft gemeinsam Politik zu gestalten (durch Beratung, Diskussion und die Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die Stadtpolitik), ermöglicht es der DemokratieWagen, überall in Frankfurt (und eben nicht nur an den oben erwähnten „altehrwürdigen Orten“) über politische Fragen niedrigschwellig ins Gespräch zu kommen, und Demokratie stärker in unser aller Alltag zu integrieren.

Diese zwei Formate werden für sich alleine das dominante (und aus unserer Sicht verkürzte) Verständnis von Demokratie als Regierungsform nicht aufbrechen können. Aber der Demokratiekonvent und der DemokratieWagen können kleine Keimzellen sein: Orte, an denen eine andere demokratische Praxis aufscheint, die dann von dort weitergetragen wird. Denn darauf kommt es an. Es geht nicht nur darum, neue demokratische Orte zu schaffen, sondern auch und vor allem darum, bestehende Orte zu demokratisieren, sie anders zu gestalten. Demokratie als Lebensform lässt sich eben nicht auf einzelne Orte begrenzen, sie durchdringt alle Orte. Unser Ziel muss es folglich sein, die Orte unseres Alltags – die Schule, den Betrieb, die Universität – zu demokratisieren, sie zu transformieren in Orte gelebter Demokratie.

Zu den Personen: Ben Christian und Dominik Herold sind Ko-Sprecher von mehr als wählen e.V., einer seit 2018 bestehenden und in
Frankfurt am Main ansässigen NGO, die sich mit ihren Formaten für mehr politische Mitbestimmung und Beteiligung einsetzt.
Mit dem Demokratiekonvent, dem DemokratieWagen oder dem Netzwerk Paulskirche engagiert sich mehr als wählen e.V. für ein breites Verständnis von Demokratie als Lebensform.

__________________________________________________________________________

Dieser Text ist als siebter Teil unserer „Demokratie gestalten“-Reihe in der November-Ausgabe (11/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
14. Dezember 2022, 12.31 Uhr
Ben Christian und Dominik Herold
 
 
Fotogalerie:
{#TEMPLATE_news_einzel_GALERIE_WHILE#}
 
 
 
Mehr Nachrichten aus dem Ressort Stadtleben
Ab dem kommenden Jahr soll das Skyline Plaza im Frankfurter Europaviertel für mindestens 35 Millionen Euro modernisiert werden. Im Vordergrund stehen die Bedürfnisse der Besucherinnen und Besucher.
Text: Sina Claßen / Foto: Center-Manager Olaf Kindt (Mitte) mit Nicole Pötsch (links) und Liesa Schrand (rechts) von Pimco Prime Real Estate, einer Tochter der Allianz © red
 
 
 
 
 
 
 
Ältere Beiträge
 
 
 
 
24. September 2024
Journal Tagestipps
Pop / Rock / Jazz
  • Kalandra
    Schlachthof | 20.00 Uhr
  • Ken Carson
    Stadthalle | 20.00 Uhr
  • Luvre47
    Batschkapp | 20.00 Uhr
Klassik / Oper/ Ballett
  • Fratopia – Festival der Entdeckungen
    Alte Oper | 15.00 Uhr
  • Franz Liszt Chamber Orchestra
    Casals Forum | 19.45 Uhr
  • Klassik trifft Jazz
    Frankfurter Hof | 19.00 Uhr
Theater / Literatur
  • Fräulein Müller bitte zum Matriarchat
    Stalburg Theater | 20.00 Uhr
  • Paula Fürstenberg
    Literaturhaus Villa Clementine | 19.30 Uhr
  • Die Frau, die gegen Türen rannte
    Theater Moller-Haus | 11.00 Uhr
Kunst
  • Die Routen der Migration
    Instituto Cervantes | 19.00 Uhr
  • Filmisches Sehen und Filmisches Erzählen
    DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum | 11.00 Uhr
  • Bruder Moenus
    Stoltze-Museum der Frankfurter Sparkasse | 10.00 Uhr
Kinder
  • Opernkarussell
    Neue Kaiser | 09.30 Uhr
  • Wo ist Feenland?
    Theaterhaus | 10.00 Uhr
  • Löwenmut & Hasenherz
    BockenheimBibliothek | 17.00 Uhr
Freie Stellen