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Demokratie gestalten

An die Freunde der Demokratie

Deutschland stand schon oft am politischen Scheideweg. Mut und Aufbruch wechselten sich mit einer merkwürdigen Unentschlossenheit, nicht selten mit Ängstlichkeit ab. Die Deutschen können beides sein; die Revolution 1848 zeigt das eindrücklich. Ein Gastbeitrag von Ina Hartwig.
Die deutschen Revolutionärinnen und Revolutionäre brachten eine Verfassung hervor, die Maßstäbe setzte. Einige der Verfassungsartikel wie die Meinungs- und Pressefreiheit oder die Gleichheit vor dem Gesetz gingen nahezu wörtlich in die Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik ein. Insbesondere die bisher noch zu wenig beleuchtete Bewegung der Demokratinnen und Demokraten sowie der Linksliberalen stand für die politische Selbstbestimmung ein, etwa durch seine jüdischen Abgeordneten und die vielen Frauen, die nicht als Abgeordnete vertreten waren, aber den politischen Diskurs entscheidend beeinflussten. Friedrich Hecker, Emma Herwegh, Theodor Fontane, Luise-Otto Peters, Gabriel Riesser und Amalia Struve standen zugleich für ein neues Ethos des Politischen: die Repräsentanten des Volks sollten sagen, was sie machen und machen, was sie sagen. Das war vorher anders: Die Lüge war ein probates Mittel, wenn sie nur die Herrschaft der Wenigen oder des Einen festigte.

Die Paulskirchenverfassung hätte eine der modernsten Grundgesetze ihrer Zeit sein können – hätten sich die alten Kräfte, allen voran Preußen, darauf eingelassen und hätten die neuen Kräfte sich nicht spalten lassen. Stattdessen ließ Preußens König Friedrich Wilhelm IV. die Revolution gewaltsam niedergeschlagen und lehnte den vom Paulskirchenparlament noch vergleichsweise vermittelnden Vorschlag einer konstitutionellen Monarchie ab.

Viele Revolutionäre flohen ins Ausland und trugen dort zum Blühen der Demokratie bei, wie in den Vereinigten Staaten, oder sie machten als zersprengte, vereinzelte Bewegung tapfer weiter. Preußens Plan ging auf, es konnte die nationale Karte später ganz für die eigene Sache ausspielen. Die Einigung der meisten deutschen Staaten wurde 1871 unter deutlich anderen politischen Vorzeichen vollzogen. Die dabei verabschiedete Reichsverfassung billigte zwar trotz der weitgehenden Befugnisse für das nun „deutscher Kaiser“ genannte Staatsoberhaupt dem Deutschen Reichstag einige Kompetenzen zu, einen Grundrechtekatalog suchte man dagegen vergeblich.

Es dauerte fast drei Generationen, bis Deutschland wieder eine Demokratie wagte. Dass der Weimarer Republik keine lange Existenz beschieden war, hängt einerseits mit ihren Feinden von rechts und links zusammen. Andererseits standen der Demokratie allzu viele Menschen gleichgültig gegenüber, zu wenige traten als ihre Fürsprecher auf. Einer, der sich leidenschaftlich einsetzte, war Thomas Mann. Mit seinen Reden „Von deutscher Republik“ (1922) und die „Deutsche Ansprache“ (1930) rief er zur Verteidigung der Weimarer Demokratie auf, wo andere bereits den Kopf in den Sand steckten. Auch der Literaturnobelpreisträger sprang damit durchaus über seinen Schatten, denn noch in seiner 1918 erschienenen Schrift „Betrachtungen eines Unpolitischen“ – die alles andere als unpolitisch war – hatte er sich noch zum Kaiserreich und dessen Kriegspolitik bekannt.

Thomas Manns Sinneswandel vollzog sich unter dem Eindruck einer akuten Bedrohung. 1922 zeigte er sich schockiert von politischen Morden, allen voran am deutschen Außenminister Walther Rathenau. 1930 warnte er eindringlich vor der erstarkenden NSDAP, bereits unter den Buhrufen der extremen Rechten. Doch seine schlimmsten Befürchtungen wurden angesichts der Wirklichkeit noch übertroffen. In seinem amerikanischen Exil, von wo Thomas Mann Radioansprachen an die Deutschen sendete, sagte er 1941, dass jene Rede von 1930 einen größeren Dienst am „deutschen Volk“ als seine Literatur darstellte: „Seine Natur überwindend“ sei er „in die politische Arena gestiegen“. Dies diene seinem „Gewissen zu tieferer Beruhigung als alles, was ich mit glücklicherem Gelingen als Künstler ausrichten konnte.“

Die Tatsache, dass die Demokratie in Deutschland und Europa heute wieder bedroht ist, bestimmt die kritischen Gedanken unserer Zeit. Rechtsextreme und -populistische Parteien, die Verbreitung von Verschwörungsmythen und sogenannten Fake News, das Grassieren von antijüdischem und rassistischem Hass, die schließlich auch den Boden für den politisch motivierten Terrorismus bereiten, sind nur einige der antidemokratischen Bedrohungen. Omnipräsente, aber ritualisierte Bekenntnisse werden als Gegengift nicht ausreichen. Es braucht die beständige Praxis der Auseinandersetzung, die Teilnahme von allen an demokratischen Verfahren, und es braucht mehr engagierte öffentliche Fürsprecherinnen und Fürsprecher der Demokratie. Ihnen sollten wir eine Bühne bieten. Und wir sollten uns nicht Bange machen lassen.

Trotz des besorgniserregenden Erstarkens extremistischer Parteien sind die Feinde der Demokratie nicht in der Mehrheit. Vielleicht deswegen und weil die Lage unübersichtlich erscheint, wird die Bedrohung von vielen Menschen noch nicht als akut empfunden; Demokratie ist eine gewohnte und daher vermeintlich stabile Selbstverständlichkeit. Für die Demokratie einzustehen bedeutet daher eine ganz praktische und auch eine intellektuelle Herausforderung. Viele Bedrohungen sind komplex und oft latent – die wenigsten Feinde der Demokratie geben sich offen als solche zu erkennen. Auch haben sich die weltpolitischen Rahmenbedingungen grundsätzlich verändert. Standen sich in der westlichen Wahrnehmung während des Kalten Krieges ein demokratisch-marktwirtschaftliches und ein kommunistisch-totalitäres Lager gegenüber, scheint die Demokratie heute keine zwingende Voraussetzung mehr für ein marktorientiertes Wirtschaftssystem zu sein. Vielmehr haben sich autoritäre Staatsformen als durchaus kompatibel mit einem mehr oder weniger freien Markt erwiesen, was eine neuartige Systemkonkurrenz mit sich bringt, deren Besonderheiten sich gerade herausbilden.

Auch aus diesem Grund erfordert der vielgestaltige gesellschaftliche Wandel demokratische Reformen, von denen ich nur zwei zentrale nennen möchte: Demokratie braucht erstens freie Medien. Diese funktionieren heute unter Bedingungen einer digitalen Öffentlichkeit. Qualität und freier Zugang müssen auch künftig gesichert werden. Zweitens braucht Demokratie Durchlässigkeit, damit Menschen unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft gleiche Chancen haben. Dies gilt umso mehr in einer Gesellschaft, die schon viel erreicht hat, aber die sich noch weiter über ihre Realität als Einwanderungsgesellschaft verständigen muss.

Und wir müssen aufpassen, dass Chancen nicht mehr und mehr vererbt werden, sondern die Türen allen, die wollen, offenstehen. Dazu gehört nicht nur die entschlossene Öffnung der Bildungs- und Kultureinrichtungen für Kinder und Jugendliche, sondern auch die Öffnung von Unternehmen, Verbänden, Parlamenten, Theatern und Museen, wenn die repräsentative Demokratie ihr Versprechen der Teilhabe einlösen will.

Das Paulskirchenjubiläum im kommenden Jahr ist ein willkommener Anlass, in Kenntnis der Geschichte den Blick auf unsere politischen Realitäten – von den Dörfern, den Stadtteilen und Städten, von den Regionen bis hin
zu Europa und der globalen Lage – zu schärfen. Wir brauchen mehr Menschen, die „ihre Natur überwinden“, sich von falschen Gewohnheiten befreien und für den überaus komplexen Kampf um die Zukunft der Demokratie engagieren. Wenn das Ergebnis dieses Kampfes eine Demokratie ist, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist, ist dieser Einsatz ebenso bedeutend wie die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 oder die Deutsche Revolution 1848.

Zu der Person:
Dr. Ina Hartwig, geb. 1963 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in Avignon und Berlin. Nach vielen Jahren als verantwortliche Literaturredakteurin der „Frankfurter Rundschau“ (1997-2009) und Herausgeberin des „Kursbuch“ (2002-2005) war sie freischaffende Autorin, Kritikerin und Moderatorin. Im akademischen Jahr 2015/16 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seit Juli 2016 ist sie Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt.

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Dieser Gastbeitrag ist auch im Rahmen unserer „Demokratie gestalten“-Reihe in der Dezember-Ausgabe (12/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
23. Dezember 2022, 10.52 Uhr
Ina Hartwig
 
 
Fotogalerie:
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