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Debatte ums Bürgergeld
„Arme Menschen werden gegeneinander ausgespielt“
Die Debatte um eine Reform des Bürgergelds wird heftig geführt. Das JOURNAL FRANKFURT hat darüber mit Silke Asmußen vom VdK Hessen-Thüringen gesprochen.
Der Sozialverband VdK Hessen-Thüringen vertritt – in Hessen seit über 75 Jahren – die Interessen behinderter, chronisch kranker, älterer sowie sozial benachteiligter Menschen. Er ist mit mehr als 293 000 Mitgliedern der größte Sozialverband in Hessen und Thüringen. Als gemeinnütziger Verein ist der VdK unabhängig von parteipolitischen, religiösen und weltanschaulichen Interessen. Fundament und Markenzeichen des VdK Hessen-Thüringen auf allen Verbandsebenen bildet das Ehrenamt.
JOURNAL: Die CDU möchte mit ihrem Alternativkonzept zum Bürgergeld höhere Anreize für Arbeit setzen. Gibt es aus Ihrer Sicht durch die Leistungen im Bürgergeld keinen Anreiz mehr zu arbeiten?
Silke Asmußen: Es gibt selbstverständlich Anreize dafür, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, statt Bürgergeld zu beziehen. Arbeit lohnt sich schon rechnerisch. Das Bürgergeld ist dazu da, die Existenz zu sichern. Eine aktuelle Studie des ifo-Instituts bestätigt: Wer arbeitet und alle Sozialleistungen in Anspruch nimmt, die ihm zustehen, verfügt demnach immer über mehr Einkommen als jemand, der nicht arbeitet und nur Sozialleistungen bekommt. Wichtig ist außerdem ein sozialer Aspekt: Für viele Menschen gehört eine Erwerbstätigkeit zu einem erfüllten Leben; ohne Job fühlten sie sich ausgegrenzt.
Wie schätzen Sie diese Debatte ein?
Für den VdK ist es verwunderlich, dass derzeit in Deutschland mehr über Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger als über Steuerhinterziehung gesprochen wird, obwohl dem Staat durch Steuerbetrug nach Schätzungen jedes Jahr Einnahmen in Höhe von 150 Milliarden Euro verloren gehen. Bürgergeldempfänger und -empfängerinnen unter den Generalverdacht zu stellen, den Bezug dieser Leistung einer Arbeit vorzuziehen, lehnt der VdK ab.
Wir wehren uns entschieden dagegen, auf diese Weise Menschen gegeneinander auszuspielen. Einen Hinweis, der diese Behauptung entkräftet, geben auch Zahlen der Arbeitsagentur. Nach Medienberichten, die sich auf diese Daten berufen, haben im Zeitraum Januar bis November 2023 von insgesamt 1,6 Millionen arbeitsfähigen Bürgergeld-Empfängern lediglich 13.838 (0,86 Prozent) weniger Bürgergeld erhalten, weil sie eine Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung, Qualifikation oder eine Maßnahme der Arbeitsagentur nicht aufnehmen oder fortsetzen wollten.
VdK Hessen-Thüringen fordert Mindestlohn von 14 Euro, bessere Vereinbarung von Beruf und Familie und einen inklusiveren Arbeitsmarkt
Wie könnte man aus Ihrer Sicht Arbeit attraktiver machen?
Im sozialpolitischen Forderungskatalog des VdK Hessen-Thüringen sind dazu eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgeführt, etwa eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie, sodass hochqualifizierte Frauen nicht der Familie wegen im Beruf kürzertreten beziehungsweise aussteigen müssen. Derzeit finden auch viele Menschen mit Behinderung trotz guter Ausbildung keine Arbeitsstelle: Um ihr hohes berufliches Potenzial zu nutzen – insbesondere angesichts des aktuellen Fachkräftemangels –, müsste der Arbeitsmarkt inklusiver gestaltet werden.
Darüber hinaus setzen wir uns für eine faire Bezahlung ein, die Erwerbstätige im Alter vor dem Abrutschen in die Armut bewahrt. Wichtige Voraussetzungen dafür sind die Eindämmung des Niedriglohnsektors, ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von mindestens 14 Euro und eine Vergütung nach Tarif. Das Aufstocken eines geringen Erwerbseinkommens durch Sozialleistungen wäre dann nicht mehr erforderlich.
Bürgergeld-Debatte sorgt laut VdK für eine Stigmatisierung der Empfänger von Transferleistungen
Welche Chancen oder Gefahren sehen Sie bezogen auf die Reformvorschläge der CDU für sozial schwache Menschen?
Neben schärferen Sanktionen ist ein Aspekt der Reformvorschläge die Herabsetzung der Grenze für das Schonvermögen. Diese Beseitigung der Schutzbarrieren bei Wohnraum und Ersparnissen sehen wir kritisch: Davon besonders betroffen wären ältere Arbeitnehmer, die sich beruflich neu orientieren müssen. Ihnen würde der Verlust dessen drohen, was sie sich viele Jahre für das Alter aufgebaut haben. Grundsätzlich sorgt die Debatte über eine Bürgergeld-Reform dafür, dass Empfänger von Transferleistungen weiter stigmatisiert werden.
Laut Experten hegen zum Beispiel die größten Bedenken gegen eine Erhöhung des Bürgergelds Menschen, die im Niedriglohnsektor tätig sind und deren Verdienst etwas über dem Bürgergeld liegt. Dies zeigt: Gruppen armer Menschen werden in der Diskussion um das Bürgergeld gegeneinander ausgespielt. Noch einmal: Das lehnt der VdK entschieden ab.
Würde die „Neue Grundsicherung“ einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten?
Kritisch in dem Zusammenhang zu bewerten wäre etwa eine politisch gesetzte Begrenzung bei den Regelsätzen. Das Bürgergeld soll das Existenzminimum sicherstellen, und das ist verfassungsrechtlich geschützt. Eine Kürzung der Leistungen um 60 Prozent oder mehr ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, das hat das Bundesverfassungsgericht 2019 entschieden.
Silke Asmußen © privat
Info
Silke Asmußen ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit beim Sozialverband VdK Hessen-Thüringen
JOURNAL: Die CDU möchte mit ihrem Alternativkonzept zum Bürgergeld höhere Anreize für Arbeit setzen. Gibt es aus Ihrer Sicht durch die Leistungen im Bürgergeld keinen Anreiz mehr zu arbeiten?
Silke Asmußen: Es gibt selbstverständlich Anreize dafür, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, statt Bürgergeld zu beziehen. Arbeit lohnt sich schon rechnerisch. Das Bürgergeld ist dazu da, die Existenz zu sichern. Eine aktuelle Studie des ifo-Instituts bestätigt: Wer arbeitet und alle Sozialleistungen in Anspruch nimmt, die ihm zustehen, verfügt demnach immer über mehr Einkommen als jemand, der nicht arbeitet und nur Sozialleistungen bekommt. Wichtig ist außerdem ein sozialer Aspekt: Für viele Menschen gehört eine Erwerbstätigkeit zu einem erfüllten Leben; ohne Job fühlten sie sich ausgegrenzt.
Wie schätzen Sie diese Debatte ein?
Für den VdK ist es verwunderlich, dass derzeit in Deutschland mehr über Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger als über Steuerhinterziehung gesprochen wird, obwohl dem Staat durch Steuerbetrug nach Schätzungen jedes Jahr Einnahmen in Höhe von 150 Milliarden Euro verloren gehen. Bürgergeldempfänger und -empfängerinnen unter den Generalverdacht zu stellen, den Bezug dieser Leistung einer Arbeit vorzuziehen, lehnt der VdK ab.
Wir wehren uns entschieden dagegen, auf diese Weise Menschen gegeneinander auszuspielen. Einen Hinweis, der diese Behauptung entkräftet, geben auch Zahlen der Arbeitsagentur. Nach Medienberichten, die sich auf diese Daten berufen, haben im Zeitraum Januar bis November 2023 von insgesamt 1,6 Millionen arbeitsfähigen Bürgergeld-Empfängern lediglich 13.838 (0,86 Prozent) weniger Bürgergeld erhalten, weil sie eine Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung, Qualifikation oder eine Maßnahme der Arbeitsagentur nicht aufnehmen oder fortsetzen wollten.
Wie könnte man aus Ihrer Sicht Arbeit attraktiver machen?
Im sozialpolitischen Forderungskatalog des VdK Hessen-Thüringen sind dazu eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgeführt, etwa eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie, sodass hochqualifizierte Frauen nicht der Familie wegen im Beruf kürzertreten beziehungsweise aussteigen müssen. Derzeit finden auch viele Menschen mit Behinderung trotz guter Ausbildung keine Arbeitsstelle: Um ihr hohes berufliches Potenzial zu nutzen – insbesondere angesichts des aktuellen Fachkräftemangels –, müsste der Arbeitsmarkt inklusiver gestaltet werden.
Darüber hinaus setzen wir uns für eine faire Bezahlung ein, die Erwerbstätige im Alter vor dem Abrutschen in die Armut bewahrt. Wichtige Voraussetzungen dafür sind die Eindämmung des Niedriglohnsektors, ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von mindestens 14 Euro und eine Vergütung nach Tarif. Das Aufstocken eines geringen Erwerbseinkommens durch Sozialleistungen wäre dann nicht mehr erforderlich.
Welche Chancen oder Gefahren sehen Sie bezogen auf die Reformvorschläge der CDU für sozial schwache Menschen?
Neben schärferen Sanktionen ist ein Aspekt der Reformvorschläge die Herabsetzung der Grenze für das Schonvermögen. Diese Beseitigung der Schutzbarrieren bei Wohnraum und Ersparnissen sehen wir kritisch: Davon besonders betroffen wären ältere Arbeitnehmer, die sich beruflich neu orientieren müssen. Ihnen würde der Verlust dessen drohen, was sie sich viele Jahre für das Alter aufgebaut haben. Grundsätzlich sorgt die Debatte über eine Bürgergeld-Reform dafür, dass Empfänger von Transferleistungen weiter stigmatisiert werden.
Laut Experten hegen zum Beispiel die größten Bedenken gegen eine Erhöhung des Bürgergelds Menschen, die im Niedriglohnsektor tätig sind und deren Verdienst etwas über dem Bürgergeld liegt. Dies zeigt: Gruppen armer Menschen werden in der Diskussion um das Bürgergeld gegeneinander ausgespielt. Noch einmal: Das lehnt der VdK entschieden ab.
Würde die „Neue Grundsicherung“ einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten?
Kritisch in dem Zusammenhang zu bewerten wäre etwa eine politisch gesetzte Begrenzung bei den Regelsätzen. Das Bürgergeld soll das Existenzminimum sicherstellen, und das ist verfassungsrechtlich geschützt. Eine Kürzung der Leistungen um 60 Prozent oder mehr ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, das hat das Bundesverfassungsgericht 2019 entschieden.
Silke Asmußen © privat
Silke Asmußen ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit beim Sozialverband VdK Hessen-Thüringen
5. April 2024, 15.21 Uhr
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26. November 2024
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