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Widerstand im Nationalsozialismus

Lebenshunger

Am 8. Mai jährt sich der „Tag der Befreiung“. 75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus hat der Journalist Nikolaus Münster das Leben seiner Eltern aufgeschrieben: „Er der Widerstandskämpfer – sie die Wegseherin“.
JOURNAL FRANKFURT: Herr Münster, Ihr Vater Arnold wurde 1935 von den Nazis als Widerstandskämpfer verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Knapp 85 Jahre später haben Sie seine Geschichte aufgeschrieben. Warum?
Nikolaus Münster: Wir Söhne wollten immer wissen, was unser Vater während des Nationalsozialismus erlebt hat. Wir haben immer wieder danach gefragt, aber nie Antworten bekommen. Nach dem Tod meiner Mutter, im Jahr 2010, haben wir die ganzen Briefe und Dokumente aus dieser Zeit erhalten, diese aber zunächst ohne größere Beachtung beiseitegelegt. Erst als 2014 zwei Forscher auf uns zukamen, die bereits enorm viel zu den Hintergründen herausgefunden hatten, habe ich begriffen, dass ich eigentlich der einzige in der Familie bin – mein Bruder ist 2015 verstorben –, der ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellen kann. Wenn ich das nicht angepackt hätte, dann wäre vieles einfach verloren gewesen. Diejenigen, für die ich das gemacht habe, sind vor allem die Söhne meines Bruders.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Acht Jahre Haft unter dem Hakenkreuz“, dass es im Nachkriegsdeutschland keine Auszeichnung war, im Widerstand gewesen zu sein. Wie stand Ihr Vater selbst später zu seinem Kampf gegen die Nazis?
Ich kann bis heute nicht einschätzen, wie er später dazu stand. Es gibt noch zu viele Fragezeichen. Sicher war er nach dem Krieg kein gebrochener Mann, sondern er hat sich zunächst noch als antifaschistischen Kämpfer bezeichnet. Später hat er aufgrund seiner Erfahrungen mit den noch gut funktionierenden Netzwerken der Alt-Nazis den Mantel des Schweigens darübergelegt. Ich glaube nicht, dass er sehr stolz darauf war. Sicher ist, dass er sich acht Jahre seines Lebens beraubt sah und nach dem überstandenen Nationalsozialismus einen sehr ausgeprägten Lebenshunger hatte.

Das spiegelt sich auch in einer Affäre Ihres Vaters wider, die Sie thematisieren.
Von dieser tatsächlich sehr heftigen außerehelichen Liebe meines Vaters habe ich erst aus einem seiner Tagebücher erfahren. Meinen Bruder hat die Entdeckung damals unglaublich empört. Es hat ihn richtig mitgenommen, dass der Vater, der eigentlich so sehr für Rechtmäßigkeit und Korrektheit stand, über Jahre hinweg eine solch intensive Liebe hatte.

„Er der Widerstandskämpfer – sie die Wegseherin“ bezeichnen Sie Ihre Eltern. Das ist eine recht schonungslose Charakterisierung.
Das Buch ist ein Balanceakt. Ich zeige Respekt vor meinen Eltern, formuliere aber auch meine Meinung. Die Kerngeschichte ist zweifellos die Geschichte meines Vaters, aber die Geschichte meiner Mutter ist eben auch sehr interessant. Lillys große Liebe war ein nationalsozialistischer Frauenarzt, der maßgeblich an der Umsetzung des Sterilisationsgesetzes von 1933 beteiligt war. Die Zwangssterilisation wiederum war eine von Arnolds größten Ängsten während der Zeit im Zuchthaus. In meinen Eltern sind extreme Gegensätze aufeinandergeprallt.

Haben Sie durch Ihre Nachforschungen denn letztendlich die Antworten erhalten, die Sie sich zu Lebzeiten Ihres Vaters gewünscht hatten?
Es war schon sehr aufregend, dieses Neuentdecken. Immer wieder tauchten neue Dokumente auf; beispielsweise ein Fragebogen der Universität Greifswald, mit dem meine Mutter nach „Rasse“ untersucht worden ist. In Bezug auf meinen Vater konnte ich erstmals einen Menschen in ihm entdecken. Ich kannte ihn als abwesenden, sehr strengen und in sich zurückgezogenen Mann, der nur wenige Emotionen mir gegenüber gezeigt hat. Ich verstehe jetzt viel, das ist schön. Ich habe eine bessere Vorstellung davon, was für ein Mensch er war und was er geleistet hat als Naturwissenschaftler in seinem Beruf und als Gelehrter, der über Beethoven, Dante und Goethe geforscht hat. Mein Vater hat uns früher nie vermittelt, was für eine internationale Kapazität er als Chemiker war.

Die Verhaftung Arnolds bedeutete in gewisser Weise auch das Ende der Karriere Ihres Großvaters Rudolf Münster. Dennoch hat die Familie ungebrochen, trotz der damit verbundenen Gefahren zu Arnold gehalten.
Das ist ein Punkt, der mir auch immer wieder durch den Kopf geht. Rudolf Münster, der damalige Landgerichtspräsident von Münster, schrieb noch während des Nationalsozialismus eine Autobiographie, in der er mehrfach die Nazis scharf verurteilte. Wenn die Gestapo das bei einer Hausdurchsuchung gefunden hätte, hätte das die Familie das Leben kosten können. Rudolf Münster genoss durch seine Position zwar ein hohes Ansehen und war sicher gut vernetzt, aber das war wirklich hochgefährlich. Und mutig. Arnolds Eltern haben für ihren Sohn auf allen Ebenen gekämpft, von den unteren Parteieinheiten bis zur Kanzlei des Führers.

Nun ist Ihre Familie ein Beleg dafür, dass durchaus schon früh Kenntnis über die Ausmaße des Faschismus bestand. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie heute den Satz hören: „Wir haben es doch nicht gewusst.“ Können Sie das ernst nehmen?
Ich habe mich mit diesem Thema ziemlich viel beschäftigt, und je mehr ich mich damit befasse, desto klarer wird mir auch der Verlauf der Debatte in der Bundesrepublik. Es zählte zum Selbstschutz, in der Nachkriegszeit zu sagen, dass nur die paar tausend führenden Köpfe Bescheid gewusst hätten. Um die eigentliche Frage zu beantworten: Nein, ich kann das nicht ernst nehmen. Man hat natürlich gewusst, was vor sich ging. Meine Mutter ist ein gutes Beispiel für das Wegsehen. Viele Menschen haben sich damals hinter vorgehaltener Hand gegenseitig versichert, man sei ja „dagegen“ – nur um dann doch alles genauso zu machen, wie es verlangt wurde.

Was bedeutet diese Feststellung für uns heute? Auch heute versichern wir uns gegenseitig, dass wir gegen Rassismus und Antisemitismus seien, gleichzeitig werden Populisten wie Donald Trump, die Vertreter:innen der AfD oder auch die „Querdenker“ immer präsenter.
(Anm. der Red.: Das Interview wurde kurz vor der Sperrung der Twitter-Konten Donald Trumps im Januar dieses Jahres geführt.)
Für mich ist ein wesentlicher Grund, dass die Dinge so entwickeln konnten, wie wir sie aktuell erleben, im Internet und den sozialen Medien zu finden. Da sehe ich dringenden Handlungsbedarf, auch seitens der Politik. Früher war es kein gesellschaftliches Problem, wenn zehn alte Männer am Stammtisch betrunken rassistische und sexistische Sprüche geklopft haben. Das ist zwar nicht schön, aber als kleines Segment der Gesellschaft aushaltbar. Erst durch die digitale Vernetzung wurde einer neuen Hemmungslosigkeit Tür und Tor geöffnet. Menschen wie Donald Trump provozieren mit ihren Tweets, die um die ganze Welt gehen, Dammbrüche. Dieser in den sozialen Medien gelebte Trumpismus ist die eigentliche Gefahr für unsere Gesellschaft.


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Über Nikolaus Münster: Jahrgang 1951, lernte das journalistische Handwerk beim Wiesbadener Kurier, wechselte dann Anfang der 80er- Jahre als Redakteur zur FAZ und leitete seit Anfang 90er-Jahre für 25 Jahre das Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main.

Sein Buch „Acht Jahre Haft unter dem Hakenkreuz. Zwischen Widerstand und Lebenshunger“ erschien im November 2020 bei Henrich Editionen.



Dieses Interview erschien zuerst in der Februar-Ausgabe 2021 des JOURNAL FRANKFURT.
 
Fotogalerie:
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7. Mai 2021, 10.42 Uhr
Ronja Merkel
 
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. – Mehr von Ronja Merkel >>
 
 
 
 
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