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Tschernobyl

Deckel drauf!

Der Jahrestag der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl hat sich am Montag zum 35. Mal gejährt. Eine Reise zum Reaktor ist inzwischen machbar und sicher. Unser Reporter Jens Prewo hat es gewagt und beschreibt, was er an einem der schlimmsten Orte der Welt erlebt hat.
Es ist einfach ein gutes Gefühl, einen Dämon zu besiegen. Genau das geschieht mit mir, als ich vor diesem elenden Reaktor Nummer Vier in Tschernobyl stehe. Das mag jetzt ein wenig pathetisch klingen, aber seien wir mal ehrlich: Was hat Menschen meiner Generation die Jugend versaut? AIDS und die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986. Erfahren haben wir erst Tage nach der Explosion von Tschernobyl. Ich weiß noch, dass ich bei der ersten Tagesthemen-Meldung babysitten war, bei einer Familie, die damals in der Eschersheimer Landstraße wohnte. Krass, dass mir so etwas überhaupt einfällt! Und ich erinnere mich daran, dass das folgende Mai-Feiertags-Wochenende sehr schön war, mit Freunden war ich im Grüneburgpark. Wir lagen auf der großen Wiese im Norden des Parks, was meine Mutter später absolut schockierend fand.

Das Normale war plötzlich nicht mehr normal. Das grüne Gras im Park war wegen des befürchteten Fallouts potentiell gefährlich. Wir konnten wochenlang nicht mehr das essen, was wir vorher immer auf dem Tisch hatten. Und es gab diese Frage: Wie würde es weitergehen? Daran erinnere ich mich also, als ich nun an diesem Ort stehe. Um den Hals trage ich ein Dosimeter. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich dazu durchgerungen habe, diese kommerzielle Tour nach Tschernobyl zu buchen. Seit mehreren Jahren habe ich als Journalist immer wieder in der Ukraine zu tun, besonders während der Euro-Maidan-Proteste habe ich aus Kiew und anderen Landesteilen berichtet. Den Trip nach Tschernobyl, circa zweieinhalb Stunden nach Norden, konnte man immer buchen (ca. 90 Euro), aber ich hatte mich nie getraut. Bei meiner jetzigen Reise platzen ein paar Termine. So gewinne ich einen freien Tag. Keine Ausreden mehr also. Außerdem ist das Thema Tschernobyl wieder in aller Munde. Natürlich, wie das heutzutage ist, durch eine TV-Serie. HBO und Sky zeichnen in fünf sensationellen Folgen die Geschehnisse nach.

Treffpunkt: Kiew, Bahnhof, 7.30 Uhr in der Früh. Dort warten wir auf die Busse. Wegen des großen Andrangs und weil angeblich am Vortag mehrere Autos kaputt gegangen sind, haben wir nur einen Bus ohne Klimaanlage. Das ist schon ein bisschen schlecht. Schließlich gibt es die Anweisung, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen lange Hosen, geschlossene Schuhe und lange Ärmel tragen müssen. Aber what the fuck, wir sind ja nicht auf einem Vergnügunstrip, denke ich mir. Und bei den Mitreisenden ist eine ganz ähnliche Herangehensweise zu spüren. Alles Pärchen oder kleine Gruppen, mit Menschen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren. Sehr erleichtert bin ich, weil keine dumpfen Katastrophentouristen dabei sind.

Party-Selfie-Stimmung ist keine spürbar. Auch die Tourguides Helen, Elena und Igor geben ihr Wissen auf sehr seriöse Art weiter. Vordringlich geht es erst einmal um die Sicherheit. „Wir werden heute wahrscheinlich eine Dosis von ungefähr drei Mikrosievert abbekommen“, verkündet Elena. Sie selbst leitet so eine Tour ungefähr 20 Mal im Monat und hat gar keine Bedenken. „Drei Mikrosievert, das ist die selbe Dosis, die Sie bei einem normalen Flug in einer Stunde abbekommen.“ Bevor ich Journalist wurde, habe ich Physik studiert und mein Diplom am Institut für Kernphysik in Frankfurt erlangt. Ich war es also gewohnt, täglich mit Dosimeter herumzulaufen und kann die Gefährlichkeit von Strahlung ziemlich gut einschätzen. Übrigens: Die Kernphysiker und Kernphysikerinnen, die ich kennengelernt habe, waren fast zu hundert Prozent gegen die Nutzung der Kernenergie. Einfach, weil sie die Gefahren und Spätfolgen einzuschätzen gelernt haben. Und noch eine Erinnerung: Als wir in den Neunziger Jahren im Frankfurter Institut unsere Detektoren kalibrierten, nutzen wir oft einen sogenannten „Cäsium-137-Peak“. Den gab es vor der Explosion von Tschernobyl nicht, seit 1986 ist er weltweit messbar – und hilft beim Eichen der Geräte.

Zurück zur Tour: Die ist super organisiert. Unsere Daten wurden zuvor an die Behörden übermittelt, sodass wir am Hochsicherheits-Übergang zur Sperrzone schon so eine Art Visum bekommen, mit Barcode. Prypjat ist die Stadt im absoluten Sperrgebiet (zehn Kilometer Umkreis). Das war eine Vorzeigestadt. 1970 gegründet, für die Beschäftigten der kerntechnischen Anlage. Wer hier wohnte, fühlte sich privilegiert und war es in der Sowjetunion auch. „Machen wir aus dem Atom einen Arbeiter, nicht einen Soldaten“, das ist der Slogan, der über dem Hauptplatz in großen, kyrillischen Lettern prangte. Einige Buchstaben sind noch da. So feierte die Propaganda die angeblich friedliche Nutzung der Kernenergie.

Heute ist der Platz vor dem Kulturzentrum ein Wald, streunende verwilderte Hunde inklusive.Wir bleiben auf den Wegen, denn die sind strahlentechnisch sicher. Und gelangen ins Stadion. Die verfallene Tribüne ist noch da. Dort, wo der Fußballplatz war, ist heute ein Wald – ein 33 Jahre alter Wald. Und an dem berühmten Riesenrad, das man oft auf Fotos sieht, demonstriert Tourguide Igor, dass an den unwahrscheinlichsten Orten unverhofft große Strahlung messbar sein kann. Ein bestimmter Teil der gelben Gondel weist die höchste Radioaktivität auf. Das schockiert. Auch zu wissen, dass 45 000 Bewohner und Bewohnerinnen ihre Stadt innerhalb von nur drei Stunden verlassen mussten, löst Beklemmung aus. „Nur drei Tage Evakuierung wurde ihnen versprochen“, sagt der Guide. Daraus wurde für immer. Der Boden in dieser Zone ist verseucht. Darauf zu laufen, bildet keine Gefahr. Aber ein Loch zu graben, wäre schon verhängnisvoll. Viele verstrahlte Gegenstände und Trümmer wurden einfach vergraben. Dieser Ort ist für die Menschheit für immer verloren. Cäsium-137 hat zwar eine Halbwertszeit von 30 Jahren, aber andere Spaltprodukte strahlen noch länger.

Die Beschäftigten, die heute hier ihren Dienst tun, müssen täglich von außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone anreisen. Das sind 2000 Menschen und sie werden nur für den Abbau noch mindestens 30 Jahre lang beschäftigt sein. 30 Jahre, in denen kein Strom erzeugt wird, also null Euro erwirtschaftet werden. Das nur mal am Rande, um die angebliche Wirtschaftlichkeit der Kernenergie zu widerlegen. Trost verspüre ich aber auch. Dass im Sommer die Natur so wuchert, dass überall Wald herrscht, sieht schon mal gut aus. Am meisten beruhigt mich die zweite Schutzhülle, die seit 2017 über dem Reaktor ist. 180 Meter hoch, von einer französischen Firma gebaut, finanziert von ganz Europa – da ist ein Deckel drauf! Sicher zumindest für hundert Jahre, das ist gut. Danach müssen die nachfolgenden Generationen mal gucken, was sie damit anfangen können. Verfluchen werden sie uns ganz bestimmt, aber viel mehr können wir jetzt wohl nicht tun.

Archivbeitrag: Dieser Text erschien zum ersten Mal in der Print-Ausgabe (8/2019) des JOURNAL FRANKFURT.
 
Fotogalerie:
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27. April 2021, 13.16 Uhr
Jens Prewo
 
 
 
 
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