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Interview mit Moshe Zuckermann

„In Deutschland hat keine gute Aufarbeitung stattgefunden.“

Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und emigrierte in den 60er-Jahren nach Frankfurt. Bereits seit Jahren kritisiert er die israelische Politik und die Instrumentalisierung des Begriffs Antisemitismus.
JOURNAL FRANKFURT: Herr Zuckermann, in Ihrem Buch „Der allgegenwärtige Antisemit“ schreiben Sie, dass sich Deutschland mit einem Israel solidarisiere, das Palästinenser unterdrücke und dass die Debattenkultur zu Antisemitismus vergiftet sei. Können Sie das näher ausführen?

Moshe Zuckermann: Das Buch beschäftigt sich nicht allgemein mit Antisemitismus. Es gibt den Antisemitismus als Bodensatz der deutschen Gesellschaft – und der muss genauso wie Rassismus im Allgemeinen bekämpft werden. Das Problem ist, dass viele Menschen in Deutschland glauben, sie würden den Antisemitismus zu bekämpfen, eigentlich aber den Antisemitismusvorwurf zu ihrem politischen, ideologischen Kampfinstrument gemacht haben, um diejenigen, die sie als Antisemiten betrachten, auszuschalten. Dabei unterscheiden diese Leute nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel. Die drei Begriffe dürfen jedoch auf keinen Fall vermischt werden, sondern müssen im Gegenteil klar getrennt und analysiert werden. Da dies meist nicht geschieht, werden Israelkritiker oft mit Antisemiten gleichgesetzt. So kommt es, dass manche Deutsche mich – einen jüdischen Israeli, mit Eltern, die Auschwitzüberlebende sind – als Antisemiten bezeichnen.

Woher glauben Sie, rührt das? Ist das immer noch ein Ausdruck des deutschen Schuldbewusstseins als Folge des Nationalsozialismus?

Durch den Holocaust ist natürlich eine nie überwundene Sensibilität in Deutschland vorhanden. Daran ist meiner Meinung nach nichts falsch. Wenn aber die dritte Nachkriegs-Generation, die mit den Verbrechen der Vergangenheit nicht mal über Ihre direkten Vorfahren zu tun hat, sich selbst geißelt, frage ich mich schon, ob das so sein muss. Dass eine Israelkritik überhaupt notwendig ist, begründet sich darin, dass Israel sich nicht von Morden an den Palästinensern freisprechen kann und seit 50 Jahren ein Okkupationsregime führt. Wenn man Völker- und Menschenrechten Wert einräumt, sich der europäischen Aufklärung verpflichtet fühlt, muss diese Kritik aber erlaubt sein und darf nicht für den Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert werden – auch, wenn die Israeliten ihre Haltung verteidigen wollen. Zum Umgang mit diesem Thema speziell in Deutschland möchte ich vier Aspekte anführen.

Bitte.

Als erster Aspekt ist die deutsche Politik zu nennen. Nicht zuletzt aufgrund des Abkommens zwischen Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, aber auch durch das aktuelle Auftreten Angela Merkels, hat Deutschland lange anstelle einer freundlich-kritischen Haltung gegenüber Israel einen pathetischen Anti-Antisemitismus praktiziert. Der zweite Aspekt betrifft die deutsche Medienwelt: Axel Springer diente hier als Vorbild, indem der Verlag in seinen Statuten die Verteidigung des „israelischen Volkes“ vorschrieb. Das gilt aber auch für die FAZ, Süddeutsche Zeitung, Zeit und den Spiegel: Sie alle berichten nicht über die alltäglichen Verbrechen der Israelis. Sie gehen also mit der Linie der Politik konform. Als drittes möchte ich die jüdischen Gemeinden und den Zentralrat der Juden in Deutschland nennen. Ab dem Zeitpunkt, als Ignatz Bubis der FDP oder Michel Friedman der CDU beitraten und jüdisch-deutsches Zusammenleben wieder gesellschaftsfähig werden sollte, wurden die jüdischen Gemeinden und der Zentralrat zum Sprachrohr der Israelischen Botschaft. Sie verbreiteten die Propaganda des Regimes und wurden von diesem finanziert. Dies geschah auch, weil deutsche Exiljuden in Israel schlecht angesehen waren und durch eine besonders patriotische Haltung versuchten, ihre Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren. Sie haben mitunter auch die destruktive Antisemitismuskritik vorangetrieben und Israelkritiker verurteilt.

Sie wollten noch einen vierten Aspekt ausführen.

Genau. Viertens will ich eine Gruppe nennen, die ich Antideutsche nenne. Dies sind häufig ehemalige Linke, die mit dem Zerfall des Kommunismus eine neue Identität suchten und sie in genau der Antisemitismuskritik fanden, mit der sie in der Politik und den Medien gut aufgehoben waren. Ihr Einfluss ist so stark geworden, dass es für Leute wie mich schwierig geworden ist, überhaupt einen Vortrag zu halten.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Bei einer Rede von mir zu Ehren eines deutsch-jüdischen Professors, der emeritiert wurde, hielt ich einen Vortrag über den Vergleich von Antisemitismus und Antizionismus. Im Anschluss an den Vortrag sagte mir einer der Zuhörer, ein Pfarrer, ich spräche ihm aus der Seele. Er würde sich nicht trauen, diese Themen so direkt anzusprechen, weil er Angst habe, als Antisemit bezeichnet zu werden. Da wurde mir zum ersten Mal klar, wie bedrohlich dieser neue Diskurs sein kann und wie die Instrumentalisierung des Begriffs Antisemitismus zum Einschüchterungsmittel geworden ist.

Wir erleben derzeit eine hitzige Flüchtlingsdebatte, die sich immer weiter zuspitzt und in einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit unter den Deutschen manifestiert. Müssen wir im Zusammenhang mit Islamkritik und Islamfeindlichkeit ähnliches erwarten, wie Sie es gerade im Kontext mit Antisemitismus und Israelkritik geschildert haben?

Nach zwei Weltkriegen gibt es gute Gründe für die Deutschen, immer wieder zu hinterfragen, wo sie gerade stehen. Sie wissen sicherlich, dass aktuell auch vermehrt Juden in die AfD eintreten – mit dem Islam hat man einen gemeinsamen Feind. In Deutschland hat nach dem Nationalsozialismus keine gute Aufarbeitung stattgefunden. Es gibt zu viele Menschen, die aus Angst heraus eine Front herstellen und einen sinnvollen Diskurs verhindern – und damit sowohl Antisemitismus als auch Islamfeindlichkeit fördern.

Glauben Sie, dass sich der Nationalsozialismus in Deutschland wiederholen könnte?

Nein. Es gab und wird auch immer einen Bodensatz faschistischen Gedankenguts geben, aber es wird nicht zum vierten Reich kommen. In dem Maße, wie es damals möglich war, kann es heute nicht passieren. Auf der anderen Seite hätte ich auch nicht geglaubt, dass ein Donald Trump oder Victor Orbán möglich sei oder dass die AfD so stark werden würde. Deutschland ist allerdings im Gegensatz zu anderen Ländern so traumatisiert, dass gewisse Dinge nicht mehr denkbar sind. Solche Aussagen sind natürlich immer hypothetisch, daher ist die Frage schwierig zu beantworten. Man sollte das Prinzip Hoffnung nicht überstrapazieren. Ich bin ein alter Mann von 70 Jahren, ich kann mir nicht leisten, nicht positiv zu sein, aber ich weiß, dass ich sich während meiner verbleibenden Lebenszeit nichts mehr am Nahostkonflikt ändern wird. Dennoch: Für mich als Marxist ist wichtig, dass der Kampf weitergehen muss.

Über Moshe Zuckermann: Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main, wo er auch studierte. Später lehrte er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006 und 2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern.

Das Buch „Der allgegenwärtige Antisemit“ ist im Westend Verlag erschienen und kostet 20€.
 
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8. November 2018, 07.39 Uhr
Ronja Merkel
 
 
 
 
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