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Fachkräftemangel

Halbe Lehrkräfte auf ganzen Stellen

Immer mehr Kinder drängen an die Schulen, überall fehlt es an Lehrkräften. Gleichzeitig suchen viele Lehramtsstudierende händeringend nach Referendariatsplätzen und zahlreiche pädagogische Fachkräfte wandern aus Hessen ab. Warum?
Das neue Schuljahr ist noch jung, und während in strukturschwächeren Regionen der Republik dramatische Leere in den Lehrerzimmern herrscht, scheint Hessen eine Insel der Glückseligen. „So viele Lehrer wie noch nie“ warb die CDU vergangenes Jahr im Landtagswahlkampf und für dieses Schuljahr kündigt Kultusminister Ralph Alexander Lorz noch einmal 600 neue Stellen in Hessen an. Doch bei den Frankfurter Lehramtsstudierenden mag trotzdem keine Euphorie aufkommen, denn sie warnen vor Kompetenzverlust und Abwertung ihres Berufs. „Die Situation sieht aus wie eine Sanduhr“, erklärt Marie Fritsche von der Fachschaft Lehramt der Goethe-Universität. „Die Universitäten bilden viele Lehrerinnen und Lehrer aus und der Bedarf an den Schulen ist hoch.“ Doch dazwischen gebe es ein Nadelöhr: Den pädagogischen Vorbereitungsdienst, landläufig auch Referendariat genannt. Nach dem Hochschulstudium machen angehende Lehrerinnen und Lehrer ihr erstes Staatsexamen. Dann folgt eigentlich das zweijährige Referendariat, nach dessen Ende mit dem zweiten Staatsexamen die Ausbildung abgeschlossen ist.

Weil der Andrang auf die Referendariatsplätze hoch ist, ist das Vergabe-System kompliziert. Ein Teil der Plätze geht an die besten Absolventinnen und Absolventen eines Jahrgangs. „Da war im letzten Durchgang aber bei 1,3 Schluss“, sagt Fritsche. Mit einer Abschlussnote von 1,4 waren Studierende also schon zu schlecht, um direkt weiterzukommen. Ein Teil der Plätze geht an jene, die besondere Härtefälle wie Pflege oder eigene Kinder geltend machen können, ein Teil wird einfach gelost und der Rest geht an jene, die schon Wartepunkte gesammelt haben, denn spätestens nach zwei Jahren haben Studierende einen Anspruch auf ihren Vorbereitungsdienst – allerdings kann der irgendwo in Hessen stattfinden. Nach dem Hochschulabschluss müssen Studierende also auf gepackten Koffern sitzen, denn der Ruf kann genauso nach Kassel wie in den südlichen Odenwald erfolgen und wer über eine Warteliste nach- rutscht erfährt im schlimmsten Fall erst Tage vor Schuljahresbeginn, wo er in Kürze unter- richten soll.

Wer hier ablehnt, verliert die bisherigen Wartepunkte und steht wieder ganz am Anfang. Deshalb wechseln viele Studierende aus Frankfurt nach dem Studium lieber das Bundesland. Weil diese Situation viele Unsicherheiten mit sich bringe, und angehende Lehrkräfte auch Miete zahlen müssen, gehen zahlreiche angehende Lehrkräfte nach dem ersten Staatsexamen lieber erstmal in die Wirtschaft. „Die kommen dann nur selten wieder zurück an die Schulen“, warnt Fritsche. Es gibt allerdings eine Abkürzung an die Schulen. Denn wer statt einer Verbeamtung auch eine ein- fache Anstellung nimmt, kann deutlich schneller Klassen unterrichten. Bei einem Vertretungsbedarf von sechs Wochen und mehr, zum Beispiel wegen einer Krankheit, sucht das Land Hessen befristete Vertretungskräfte. Diese müssen kein zweites Staatsexamen absolviert haben, sie müssen nicht einmal das Studium an der Universität abgeschlossen haben und können dann trotzdem für weniger Geld schon mal richtigen Unterricht geben. Und das im Zweifel weit länger als ein Schuljahr: Sieben Jahre am Stück beschäftigt das Land Hessen solche Vertretungen maximal.

„Ich studiere Chemie auf Lehramt“ sagt Christian Inturri, der sich ebenfalls in der Fachschaft engagiert. „In meiner ganzen Schulzeit hatte ich immer nur Quereinsteiger und erst ganz am Ende, im Leistungskurs, einen richtig ausgebildeten Chemie-Lehrer. Das ist doch ein seltsamer Zustand.“ Doch für das Land rechne sich diese Praxis, kritisiert Marie Fritsche. Einerseits könne die Landesregierung erfolgreich vermelden, dass kein Unterricht ausfällt, gleichzeitig kann es die ausgefallenen Stunden mit günstigerem Personal vertreten. „Für uns ist das ein komisches Zeichen“, ergänzt Tim Sackreuther aus der Fachschaft. „Wir machen eine komplizierte Ausbildung für unseren Beruf und bekommen gleichzeitig durch solche Angebote die Botschaft, eigentlich könne das jeder machen“, und tatsächlich hat er Kommilitoninnen und Kommilitonen, die noch nicht mal ihr erstes Staatsexamen in der Tasche haben und gleichzeitig schon vor Klassen stehen und Unterricht geben. Was Sackreuther als Student für Gymnasial-Lehramt Deutsch besonders wurmt: Weil besonderer Mangel an den Grundschulen herrscht, bekommen Studierende auf Gymnasial-Lehramt das Angebot, nach dem ersten Staatsexamen in das Referendariat für Grundschule zu wechseln. „Da käme ich dann direkt vor eine Klasse. Ich bin doch gar nicht dafür ausgebildet, Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Das ist doch ein komisches Signal an diejenigen, die Grundschullehramt studieren. Die quälen sich durch ihre Ausbildung, um hinterher zu sehen, dass andere Menschen das auch einfach so machen können.“ „Kann Hessen sich das leisten, Studierende mit der Abschlussnote 1,4 nach Rheinland-Pfalz zu schicken, wenn gleichzeitig teilausgebildete Quereinsteigende hier Unterricht halten?“, fragt Tim Sackreuther. Er warnt davor, dass unfertige Lehrende nicht nur Engpässe überbrücken, sondern gleichzeitig auch Stellen wegnehmen, an denen Eltern eigentlich ordentlich ausgebildete Lehrkräfte erwarten.

„Wir verstehen nicht, warum es da keine Aufregung gibt“, sagt Christian Inturri. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kam zu dem Ergebnis, dass drei von vier Erstsemestern trotz Abitur für ein Hochschulstudium ungeeignet sind. Dass das Niveau an Schulen in Gefahr sei, weil immer mehr Kinder kein Deutsch beherrschen, darüber wird viel geklagt. Ob die sinkende Qualifikation im Lehrerzimmer auch etwas mit diesem Niveauverfall zu tun haben könnte, darüber wird wenig gesprochen. Immerhin, in Wies- baden kommen die Beschwerden an. Neben 600 neuen Stellen wurden in diesem Schuljahr auch 200 zusätzliche Stellen für den pädagogischen Vorbereitungsdienst geschaffen. Das Nadelöhr Referendariat öffnet sich langsam.

Eine Version dieses Artikels erschien zuerst in Ausgabe 10/2019 des JOURNAL FRANKFURT.
 
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30. Oktober 2019, 11.15 Uhr
Jan Paul Stich
 
 
 
 
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