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Jüdisches Leben
Zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbestimmung
Alljährlich wird an Jom haScho’a der Opfer der Shoah gedacht; in diesem Jahr fällt der Gedenktag auf den 7. und 8. April. Antisemitismus sei heute in Deutschland zwar „verpönt“, schreibt Laura Cazés, er sei jedoch nie wirklich aufgearbeitet worden. Ein Gastbeitrag.
Laut der jährlich erhobenen Mitgliederstatistik der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sind rund 100 000 Menschen in Deutschland Mitglieder in den bundesweit 104 Jüdischen Gemeinden. Eine weitere, ähnlich hohe Personenzahl ist aus unterschiedlichen Gründen nicht in einer solchen Gemeinde organisiert beziehungsweise generell kein Mitglied. Im Gesamten wird also von schätzungsweise 200 000 Menschen in Deutschland ausgegangen, die sich selbst als jüdisch bezeichnen würden. Gemessen an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik handelt es sich um eine vergleichsweise kleine Minderheit. Und dennoch spielt sie hierzulande eine besondere Rolle.
Selbstverständlich ist dies nicht nur der Fall, weil jüdisches Leben seit 1700 Jahren in Deutschland zu verzeichnen ist und entsprechend viele Spuren im kulturellen Erbe hinterlassen wurden. Sondern vor allem auch, weil sich an der Existenz dieses jüdischen Lebens immer auch Verachtung, Ausgrenzung und Feindbilder konstruiert haben.
Mit der Shoah erreichte der Hass gegen Juden einen der grausamsten und perversesten Tiefpunkte der modernen Menschheitsgeschichte, von der sich die Bundesrepublik Deutschland heute über Schuldbekenntnisse und Verpflichtung zur Erinnerungskultur und der Sicherung jüdischen Lebens reinzuwaschen versucht. Dennoch ist das Sprechen über jüdisches Leben und Judentum heute befangen und von eben diesen aufgeladenen Bildern bestimmt. Hinzu kommt, dass das Sprechen über Jüdinnen und Juden stattfindet, während eigentlich von ihrer Abwesenheit ausgegangen wird. Die Vernichtung ist nach wie vor präsent; dass sich einige einen Schlussstrich unter das geschichtliche Erbe wünschen, hängt damit zusammen.
So ist es nicht verwunderlich, dass Jüdinnen und Juden sofort mit diesen Bildern konfrontiert werden, wenn sie sich als solche zu erkennen geben. Shoah, der Nahostkonflikt und der alltägliche Antisemitismus – plötzlich besonders sichtbar zu sein, bedeutet, dass Jüdinnen und Juden zu Expert:innen für komplexe Themen gemacht werden. Häufig wird entgegnet, dass es doch wichtig sei, dass die Menschen Interesse zeigten. Grundsätzlich stimmt das. Insbesondere für junge Menschen kann dies jedoch eine überfordernde Erfahrung sein. Denn anstatt über die Dinge zu sprechen, die sie im Alltag beschäftigen, müssen sie zunächst die Kompetenzen aufbringen, um anderen Massenvernichtung, einen multilateralen Konflikt und die Struktur von Diskriminierung zu erklären. Sie werden zu „den anderen“ gemacht und sind dabei meist die einzigen im Raum.
Dabei wäre es auch an denjenigen, die genannte Bilder im Kopf haben, deren Entstehung zu hinterfragen, statt sie jüdischen Menschen einfach vor den Latz zu knallen. Für Nicht-Jüd:innen scheint es auch schwer zu akzeptieren zu sein, wenn eine Situation von einer jüdischen Person als antisemitisch wahrgenommen wird. Denn in Deutschland ist Antisemitismus zwar verpönt, wurde aber in seiner gesellschaftlichen Funktion nie wirklich aufgearbeitet.
Deutlich wird das aktuell unter anderem an der Querdenken- und Corona-Leugner-Szene und den damit einhergehenden Verschwörungsideologien, die in ihrer Wirkungsweise nicht off en, aber doch auf Basis antisemitischer Erzählungen funktionieren. Wenn es gesellschaftlich konform ist und in eine normative Erzählung passt, wird gerne vom „christlich-jüdischen Abendland“ gesprochen. Gleichzeitig ist nie so wirklich klar, was an diesem Konstrukt überhaupt jüdisch ist, wenn das Wissen um jüdisches Leben und jüdische Praxis der Gegenwart kaum vorhanden ist.
Vor dieser Kulisse ist die Frage danach, ob man jüdisch ist, für die meisten jüdischen Personen in Deutschland auch immer mit einer Identitätsfrage verbunden. Und in Abhängigkeit der Biografie kann sie auch nicht homogen beantwortet werden. Jüdische Lebenswelten sind geprägt von Brüchen, Umwegen, von Heimatlosigkeit und einer Atmosphäre, in der die Frage danach, wo man eigentlich hingehört, in den meisten Fällen weder kollektiv noch abwesend einer öffentlichen Beschauung verhandelt werden kann. Die Fremdwahrnehmung nimmt großen Einfluss darauf, wie Juden in Deutschland – ob anwesend oder nicht – wahrgenommen werden und welchem Bild versucht wird, zu entsprechen. Dabei ist die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft weitaus mehr als eine Religion oder Glaubensgemeinschaft. Die Zugehörigkeit zum Judentum fügt sich zusammen wie eine Matrix aus mehreren Spektren, von denen Religion eines ist. Für manche spielt sie eine große Rolle, für andere weniger.
Etwas hat sich jedoch verändert: Die nicht zu Ende verhandelte Selbstbestimmung wird öffentlicher. Die Unfähigkeit großer Teile der Mehrheitsgesellschaft, jüdischen Menschen den Raum zuzugestehen, den sie sich selbst ausgesucht haben, wird sichtbar gemacht; und zwar von jungen Jüdinnen und Juden selbst. Im Film, im Theater, in der Literatur, auf Social Media. Ein Beispiel ist der Überraschungserfolg „Masel Tov Cocktail“. Der Kurzfilm ist eine ungeschönte, zusammengestauchte und selbstbestimmte Aufarbeitung davon, dass die meisten Jüdinnen und Juden in so ziemlich gar keine Projektion passen. Auch diese Selbstbestimmung ist ein wichtiger Moment im Deutschland nach 1945.
Nun gilt es, die Frage zu beantworten, wie viel Platz es gibt in der postnationalsozialistischen, postmigrantischen Gesellschaft dieses Landes – nicht nur für jüdisches Leben, sondern für alle Geschichten, die in dieses Land gehören und die gehört werden sollten. Die kommenden Jahre werden es zeigen.
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Laura Cazés ist Referentin für Verbandsentwicklung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Von 2017 bis 2019 war sie Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students. Ihre Kernthemen sind die Wahrnehmung jüdischer Lebenswelten in Deutschland, der Einbezug jüdischer Perspektiven in ein intersektionales Verständnis von Feminismus und die Allianzenbildung zwischen marginalisierten Gruppen und Minderheiten.
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 12/2020 des JOURNAL FRANKFURT.
Selbstverständlich ist dies nicht nur der Fall, weil jüdisches Leben seit 1700 Jahren in Deutschland zu verzeichnen ist und entsprechend viele Spuren im kulturellen Erbe hinterlassen wurden. Sondern vor allem auch, weil sich an der Existenz dieses jüdischen Lebens immer auch Verachtung, Ausgrenzung und Feindbilder konstruiert haben.
Mit der Shoah erreichte der Hass gegen Juden einen der grausamsten und perversesten Tiefpunkte der modernen Menschheitsgeschichte, von der sich die Bundesrepublik Deutschland heute über Schuldbekenntnisse und Verpflichtung zur Erinnerungskultur und der Sicherung jüdischen Lebens reinzuwaschen versucht. Dennoch ist das Sprechen über jüdisches Leben und Judentum heute befangen und von eben diesen aufgeladenen Bildern bestimmt. Hinzu kommt, dass das Sprechen über Jüdinnen und Juden stattfindet, während eigentlich von ihrer Abwesenheit ausgegangen wird. Die Vernichtung ist nach wie vor präsent; dass sich einige einen Schlussstrich unter das geschichtliche Erbe wünschen, hängt damit zusammen.
So ist es nicht verwunderlich, dass Jüdinnen und Juden sofort mit diesen Bildern konfrontiert werden, wenn sie sich als solche zu erkennen geben. Shoah, der Nahostkonflikt und der alltägliche Antisemitismus – plötzlich besonders sichtbar zu sein, bedeutet, dass Jüdinnen und Juden zu Expert:innen für komplexe Themen gemacht werden. Häufig wird entgegnet, dass es doch wichtig sei, dass die Menschen Interesse zeigten. Grundsätzlich stimmt das. Insbesondere für junge Menschen kann dies jedoch eine überfordernde Erfahrung sein. Denn anstatt über die Dinge zu sprechen, die sie im Alltag beschäftigen, müssen sie zunächst die Kompetenzen aufbringen, um anderen Massenvernichtung, einen multilateralen Konflikt und die Struktur von Diskriminierung zu erklären. Sie werden zu „den anderen“ gemacht und sind dabei meist die einzigen im Raum.
Dabei wäre es auch an denjenigen, die genannte Bilder im Kopf haben, deren Entstehung zu hinterfragen, statt sie jüdischen Menschen einfach vor den Latz zu knallen. Für Nicht-Jüd:innen scheint es auch schwer zu akzeptieren zu sein, wenn eine Situation von einer jüdischen Person als antisemitisch wahrgenommen wird. Denn in Deutschland ist Antisemitismus zwar verpönt, wurde aber in seiner gesellschaftlichen Funktion nie wirklich aufgearbeitet.
Deutlich wird das aktuell unter anderem an der Querdenken- und Corona-Leugner-Szene und den damit einhergehenden Verschwörungsideologien, die in ihrer Wirkungsweise nicht off en, aber doch auf Basis antisemitischer Erzählungen funktionieren. Wenn es gesellschaftlich konform ist und in eine normative Erzählung passt, wird gerne vom „christlich-jüdischen Abendland“ gesprochen. Gleichzeitig ist nie so wirklich klar, was an diesem Konstrukt überhaupt jüdisch ist, wenn das Wissen um jüdisches Leben und jüdische Praxis der Gegenwart kaum vorhanden ist.
Vor dieser Kulisse ist die Frage danach, ob man jüdisch ist, für die meisten jüdischen Personen in Deutschland auch immer mit einer Identitätsfrage verbunden. Und in Abhängigkeit der Biografie kann sie auch nicht homogen beantwortet werden. Jüdische Lebenswelten sind geprägt von Brüchen, Umwegen, von Heimatlosigkeit und einer Atmosphäre, in der die Frage danach, wo man eigentlich hingehört, in den meisten Fällen weder kollektiv noch abwesend einer öffentlichen Beschauung verhandelt werden kann. Die Fremdwahrnehmung nimmt großen Einfluss darauf, wie Juden in Deutschland – ob anwesend oder nicht – wahrgenommen werden und welchem Bild versucht wird, zu entsprechen. Dabei ist die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft weitaus mehr als eine Religion oder Glaubensgemeinschaft. Die Zugehörigkeit zum Judentum fügt sich zusammen wie eine Matrix aus mehreren Spektren, von denen Religion eines ist. Für manche spielt sie eine große Rolle, für andere weniger.
Etwas hat sich jedoch verändert: Die nicht zu Ende verhandelte Selbstbestimmung wird öffentlicher. Die Unfähigkeit großer Teile der Mehrheitsgesellschaft, jüdischen Menschen den Raum zuzugestehen, den sie sich selbst ausgesucht haben, wird sichtbar gemacht; und zwar von jungen Jüdinnen und Juden selbst. Im Film, im Theater, in der Literatur, auf Social Media. Ein Beispiel ist der Überraschungserfolg „Masel Tov Cocktail“. Der Kurzfilm ist eine ungeschönte, zusammengestauchte und selbstbestimmte Aufarbeitung davon, dass die meisten Jüdinnen und Juden in so ziemlich gar keine Projektion passen. Auch diese Selbstbestimmung ist ein wichtiger Moment im Deutschland nach 1945.
Nun gilt es, die Frage zu beantworten, wie viel Platz es gibt in der postnationalsozialistischen, postmigrantischen Gesellschaft dieses Landes – nicht nur für jüdisches Leben, sondern für alle Geschichten, die in dieses Land gehören und die gehört werden sollten. Die kommenden Jahre werden es zeigen.
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Laura Cazés ist Referentin für Verbandsentwicklung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Von 2017 bis 2019 war sie Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students. Ihre Kernthemen sind die Wahrnehmung jüdischer Lebenswelten in Deutschland, der Einbezug jüdischer Perspektiven in ein intersektionales Verständnis von Feminismus und die Allianzenbildung zwischen marginalisierten Gruppen und Minderheiten.
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 12/2020 des JOURNAL FRANKFURT.
7. April 2021, 12.02 Uhr
Laura Cazés
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