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Frankfurter Verein WADI
„Unser Anliegen: den Kreislauf der Gewalt durchbrechen“
Der Frankfurter Verein WADI stärkt Menschen- und Frauenrechte im Nahen Osten. Mitbegründer Thomas von der Osten-Sacken über nachhaltige Projekte, Hilfe zur Eigeninitiative – und wann wenig Geld viel bewirken kann.
JOURNAL FRANKFURT: 1991 sind Sie mit einer Gruppe Gleichgesinnter in den kriegszerstörten Irak gereist. Wie kann man sich die Situation damals vor Ort vorstellen?
Thomas von der Osten-Sacken: Wir waren damals noch Studenten, es war die Zeit nach dem zweiten Golfkrieg, der ja auch hierzulande große Wogen geschlagen hat. Im Südirak erlebten wir eine uns bis dato unbekannte Realität: Was die Herrschaft von Saddam Hussein wirklich bedeutet, in welchem Ausmaß die Menschen leiden. WADI war damals zunächst ein loser Verbund, um Hilfe zu organisieren und koordinieren – schon mit einem gewissen politischen Anspruch: Nicht nur helfen, sondern auch auf Verbrechen aufmerksam machen. So sind wir nach Irakisch-Kurdistan gekommen. Später ist aus dem Verband ein Verein geworden, jetzt sind wir seit April 1993 im Nordirak. Wir arbeiten gemeinsam mit irakisch-kurdischen Kolleginnen und Kollegen, unser längster Mitarbeiter ist seitdem vor Ort dabei.
Ein wichtiger Aspekt für Wadi e.V. sind die Festigung ziviler Strukturen vor Ort und die Hilfe zur Selbstorganisation. Welche Projekte sind Sie dort konkret angegangen?
Man muss dazu sagen, dass die Region zu dieser Zeit komplett abgeschnitten war. Belegt mit einem Doppelembargo. Bitterarm, eine hohe Analphabetenquote, eine sehr schwierige Situation. Unter diesen Umständen haben wir zum Beispiel zusammen mit anderen Organisationen eine große Alphabetisierungskampagne für rund 25.000 bis 30.000 Frauen durchgeführt, die dann später auch zur regulären Schule gehen konnten. Ein weiteres frühes Projekt, gemeinsam mit örtlichen Organisationen, war die Schaffung eines Frauenschutzhauses 1999. Damals gab es ein großes Problem mit Ehrtötungen – ein großes Tabu. Inzwischen wird das Thema auch öffentlich diskutiert. 2000 sind Ehrtötungen in Irakisch-Kurdistan unter Strafe gestellt worden, inzwischen gibt es eine eigene Polizei für diese Fälle. Eine weitere Form von Gewalt, die tief verankert war in der Region, ist die weibliche Genitalverstümmelung (FGM). Auch hiervon wollte 2004 niemand hören – das sei ein rein afrikanisches Problem, hieß es.
Stimmt es, dass anfangs keine der großen Hilfsorganisationen gegen FGM mit ihnen zusammenarbeiten wollte?
Wir mussten ziemlich kämpfen in dieser Zeit. Heute kann das Problem niemand mehr in Frage stellen. Weil die Kampagne eine unglaubliche Resonanz in anderen Ländern erfahren hat. Bald kamen Anfragen aus Iran, Oman, aus Saudi-Arabien, Indonesien, Malaysia: „Wir haben hier dasselbe Problem, aber es wird komplett negiert!“ 2016 hat Unicef endlich gesagt: Weltweit sind 240, nicht 120 Millionen Mädchen betroffen. Eine wirklich mutige Initiative von Kolleginnen und Kollegen einer kleinen Region in Irakisch-Kurdistan hat dafür gesorgt, dass heute über doppelt so viele betroffene Frauen und Mädchen gesprochen wird wie noch vor 10, 15 Jahren.
„Das Prinzip der Gewalt ... ist ein Ausdruck der verheerenden Geschichte dieser Region“
2017 hat der Verein eine Kampagne gegen Gewalt an Schulen und in Familien initiiert. Auch hier spielen Sichtbarmachung und Bewusstwerdung eine zentrale Rolle.
Hier haben wir Programme für Schulen entwickelt, die sich selbst als gewaltfrei erklären. Über die Schulen konnte man so die Eltern zu Hause erreichen und zeigen, dass eine andere Form von Erziehung möglich ist. Inzwischen haben wir über 80 Partnerschulen, die dann wieder auf andere Schulen wirken, die mitmachen möchten.
Das Prinzip der Gewalt – Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen Frauen, gegen Tiere, auch die Natur, ist ein Ausdruck der verheerenden Geschichte dieser Region. Deshalb stoßen diese Projekte auf eine enorme Resonanz bei den Menschen vor Ort. Das betrifft sie unmittelbar. Weil sie massive Gewalt erfahren haben, aber selten erlebt, wie man Konflikte anders lösen kann. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist unser Ansatz. In Formen, die fortgeführt werden können: Radiokampagnen, Kampagnen gegen Gewalt oder jetzt auch eine große Umweltkampagne. Diese Projekte brauchen alle vergleichsweise wenig Geld. Aber sie sind sehr erfolgreich und haben einen nachhaltigen Effekt. Auch, weil sie von den Betroffenen als etwas Eigenes empfunden werden.
Ist (zu) viel Geld manchmal also gerade kontraproduktiv?
So verkürzt wäre die Aussage problematisch. Geld ist natürlich wichtig – auch wir sind chronisch unterfinanziert. Viel Geld, dann aber falsch ausgegeben, hilft nicht. Nicht alles, das sich Hilfe nennt, ist automatisch gut. Gerade zu Krisenzeiten fließen plötzlich riesige Mengen in eine bestimmte Region oder in ein Thema, das gerade große mediale Aufmerksamkeit erhält. Nirgendwo gibt es so wenig Kontrolle über Gelder wie im Hilfsbusiness. Da sind Korruption und Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
„Der Nahe Osten hat die letzten 30 Jahre weltpolitisch natürlich enorm geprägt“
Spielt die Region, rund 30 Jahre nach Vereinsgründung, in der hiesigen Öffentlichkeit heute die Rolle, die ihr zusteht? Ist der Nahe Osten im Bewusstsein vieler immer noch ein weißer Fleck?
Jein. Der Nahe Osten hat die letzten 30 Jahre weltpolitisch natürlich enorm geprägt. Gerade die Golfkriege, die die gesamte Region in Aufruhr versetzt haben, waren medial ja äußerst präsent. Im Bewusstsein spielt die Region also durchaus eine Rolle, die darunter liegenden Konflikte aber kaum. Man sieht es gerade in Iran, wo Menschen sagen: Wir haben keine Lust mehr auf diese Islamische Republik – ähnlich wie vor zehn Jahren im Arabischen Frühling.
Das sind die wirklich wichtigen Marksteine, denen aber viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Stattdessen setzt man politisch vor allem auf Stabilität, nicht auf Demokratie, und so wird es auch weitergehen. Das bedeutet eine Fortführung von Gewalt und Brutalität. Bereichert noch von einer ökologischen Katastrophe, die Länder wie Irak oder Syrien ungleich härter treffen wird als Europa. Wir sprechen hier von unserer Nachbarregion! Man tut immer, als ob da Welten zwischen liegen. Es sind nicht die irgendwo anderen. Es sind Menschen, die von der syrisch-türkischen Grenze bis nach Österreich zu Fuß laufen. Die Verzweiflung ist gewaltig. Es mag etwas simpel klingen, aber: Man hat nur gemeinsam eine Zukunft. Und dieses Fenster, in dem die noch möglich ist, schließt sich gerade ganz, ganz schnell. In allen erdenklichen Aspekten.
Über unseren Gesprächspartner: Thomas von der Osten-Sacken wird 1968 geboren. Als freier Publizist und Autor schreibt er schwerpunktmäßig über den Nahen Osten. 1991 reiste er erstmals in den Irak. 1992 erwuchs aus der Arbeit vor Ort die Hilfsorganisation WADI e.V., dessen Geschäftsführer er ist. Der Wunsch, zu helfen, war für den Frankfurter auch politisch begründet: Hilfe ist niemals neutral, lautet ein Leitspruch des Vereins.
Mehr über den Verein und seine Arbeit unter wadi-online.de.
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Dieser Text ist auch in der Dezember-Ausgabe (12/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
Thomas von der Osten-Sacken: Wir waren damals noch Studenten, es war die Zeit nach dem zweiten Golfkrieg, der ja auch hierzulande große Wogen geschlagen hat. Im Südirak erlebten wir eine uns bis dato unbekannte Realität: Was die Herrschaft von Saddam Hussein wirklich bedeutet, in welchem Ausmaß die Menschen leiden. WADI war damals zunächst ein loser Verbund, um Hilfe zu organisieren und koordinieren – schon mit einem gewissen politischen Anspruch: Nicht nur helfen, sondern auch auf Verbrechen aufmerksam machen. So sind wir nach Irakisch-Kurdistan gekommen. Später ist aus dem Verband ein Verein geworden, jetzt sind wir seit April 1993 im Nordirak. Wir arbeiten gemeinsam mit irakisch-kurdischen Kolleginnen und Kollegen, unser längster Mitarbeiter ist seitdem vor Ort dabei.
Ein wichtiger Aspekt für Wadi e.V. sind die Festigung ziviler Strukturen vor Ort und die Hilfe zur Selbstorganisation. Welche Projekte sind Sie dort konkret angegangen?
Man muss dazu sagen, dass die Region zu dieser Zeit komplett abgeschnitten war. Belegt mit einem Doppelembargo. Bitterarm, eine hohe Analphabetenquote, eine sehr schwierige Situation. Unter diesen Umständen haben wir zum Beispiel zusammen mit anderen Organisationen eine große Alphabetisierungskampagne für rund 25.000 bis 30.000 Frauen durchgeführt, die dann später auch zur regulären Schule gehen konnten. Ein weiteres frühes Projekt, gemeinsam mit örtlichen Organisationen, war die Schaffung eines Frauenschutzhauses 1999. Damals gab es ein großes Problem mit Ehrtötungen – ein großes Tabu. Inzwischen wird das Thema auch öffentlich diskutiert. 2000 sind Ehrtötungen in Irakisch-Kurdistan unter Strafe gestellt worden, inzwischen gibt es eine eigene Polizei für diese Fälle. Eine weitere Form von Gewalt, die tief verankert war in der Region, ist die weibliche Genitalverstümmelung (FGM). Auch hiervon wollte 2004 niemand hören – das sei ein rein afrikanisches Problem, hieß es.
Stimmt es, dass anfangs keine der großen Hilfsorganisationen gegen FGM mit ihnen zusammenarbeiten wollte?
Wir mussten ziemlich kämpfen in dieser Zeit. Heute kann das Problem niemand mehr in Frage stellen. Weil die Kampagne eine unglaubliche Resonanz in anderen Ländern erfahren hat. Bald kamen Anfragen aus Iran, Oman, aus Saudi-Arabien, Indonesien, Malaysia: „Wir haben hier dasselbe Problem, aber es wird komplett negiert!“ 2016 hat Unicef endlich gesagt: Weltweit sind 240, nicht 120 Millionen Mädchen betroffen. Eine wirklich mutige Initiative von Kolleginnen und Kollegen einer kleinen Region in Irakisch-Kurdistan hat dafür gesorgt, dass heute über doppelt so viele betroffene Frauen und Mädchen gesprochen wird wie noch vor 10, 15 Jahren.
2017 hat der Verein eine Kampagne gegen Gewalt an Schulen und in Familien initiiert. Auch hier spielen Sichtbarmachung und Bewusstwerdung eine zentrale Rolle.
Hier haben wir Programme für Schulen entwickelt, die sich selbst als gewaltfrei erklären. Über die Schulen konnte man so die Eltern zu Hause erreichen und zeigen, dass eine andere Form von Erziehung möglich ist. Inzwischen haben wir über 80 Partnerschulen, die dann wieder auf andere Schulen wirken, die mitmachen möchten.
Das Prinzip der Gewalt – Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen Frauen, gegen Tiere, auch die Natur, ist ein Ausdruck der verheerenden Geschichte dieser Region. Deshalb stoßen diese Projekte auf eine enorme Resonanz bei den Menschen vor Ort. Das betrifft sie unmittelbar. Weil sie massive Gewalt erfahren haben, aber selten erlebt, wie man Konflikte anders lösen kann. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist unser Ansatz. In Formen, die fortgeführt werden können: Radiokampagnen, Kampagnen gegen Gewalt oder jetzt auch eine große Umweltkampagne. Diese Projekte brauchen alle vergleichsweise wenig Geld. Aber sie sind sehr erfolgreich und haben einen nachhaltigen Effekt. Auch, weil sie von den Betroffenen als etwas Eigenes empfunden werden.
Ist (zu) viel Geld manchmal also gerade kontraproduktiv?
So verkürzt wäre die Aussage problematisch. Geld ist natürlich wichtig – auch wir sind chronisch unterfinanziert. Viel Geld, dann aber falsch ausgegeben, hilft nicht. Nicht alles, das sich Hilfe nennt, ist automatisch gut. Gerade zu Krisenzeiten fließen plötzlich riesige Mengen in eine bestimmte Region oder in ein Thema, das gerade große mediale Aufmerksamkeit erhält. Nirgendwo gibt es so wenig Kontrolle über Gelder wie im Hilfsbusiness. Da sind Korruption und Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
Spielt die Region, rund 30 Jahre nach Vereinsgründung, in der hiesigen Öffentlichkeit heute die Rolle, die ihr zusteht? Ist der Nahe Osten im Bewusstsein vieler immer noch ein weißer Fleck?
Jein. Der Nahe Osten hat die letzten 30 Jahre weltpolitisch natürlich enorm geprägt. Gerade die Golfkriege, die die gesamte Region in Aufruhr versetzt haben, waren medial ja äußerst präsent. Im Bewusstsein spielt die Region also durchaus eine Rolle, die darunter liegenden Konflikte aber kaum. Man sieht es gerade in Iran, wo Menschen sagen: Wir haben keine Lust mehr auf diese Islamische Republik – ähnlich wie vor zehn Jahren im Arabischen Frühling.
Das sind die wirklich wichtigen Marksteine, denen aber viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Stattdessen setzt man politisch vor allem auf Stabilität, nicht auf Demokratie, und so wird es auch weitergehen. Das bedeutet eine Fortführung von Gewalt und Brutalität. Bereichert noch von einer ökologischen Katastrophe, die Länder wie Irak oder Syrien ungleich härter treffen wird als Europa. Wir sprechen hier von unserer Nachbarregion! Man tut immer, als ob da Welten zwischen liegen. Es sind nicht die irgendwo anderen. Es sind Menschen, die von der syrisch-türkischen Grenze bis nach Österreich zu Fuß laufen. Die Verzweiflung ist gewaltig. Es mag etwas simpel klingen, aber: Man hat nur gemeinsam eine Zukunft. Und dieses Fenster, in dem die noch möglich ist, schließt sich gerade ganz, ganz schnell. In allen erdenklichen Aspekten.
Über unseren Gesprächspartner: Thomas von der Osten-Sacken wird 1968 geboren. Als freier Publizist und Autor schreibt er schwerpunktmäßig über den Nahen Osten. 1991 reiste er erstmals in den Irak. 1992 erwuchs aus der Arbeit vor Ort die Hilfsorganisation WADI e.V., dessen Geschäftsführer er ist. Der Wunsch, zu helfen, war für den Frankfurter auch politisch begründet: Hilfe ist niemals neutral, lautet ein Leitspruch des Vereins.
Mehr über den Verein und seine Arbeit unter wadi-online.de.
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Dieser Text ist auch in der Dezember-Ausgabe (12/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
24. Oktober 2023, 13.00 Uhr
kjc
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23. Dezember 2024
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