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Foto: Deborah Schnabel © Felix Schmitt/Bildungsstätte Anne Frank
Foto: Deborah Schnabel © Felix Schmitt/Bildungsstätte Anne Frank

Ein Jahr nach Hamas-Angriff

„Keine intuitive Form des Erinnerns an deutschen Schulen“

Deborah Schnabel ist Direktorin der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Ein Interview über den Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel, den erstarkenden Rassismus und die Herausforderungen für die Bildungsstätte.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Schnabel, die Bildungsstätte Anne Frank feiert in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Am 7. Oktober jährt sich außerdem der Überfall der Hamas auf Israel zum ersten Mal. Wie erleben Sie momentan die Zeit und wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Deborah Schnabel: In ihrer Frage steckt bereits ein Teil der Antwort: Wir erleben seit geraumer Zeit eine Gleichzeitigkeit zahlreicher sich überlagernder und gleichsam brisanter gesellschaftspolitischer Krisen und Debatten. Am Wochenende des 7. Oktobers 2023 selbst etwa schauten wir, wie viele andere, gebannt und besorgt auf den Ausgang der Landtagswahlen in Hessen und Bayern, als uns die bestürzenden Nachrichten des verheerendsten antisemitischen Massakers seit der Shoa aus Israel erreichten.

Als Bildungseinrichtung, die gleichermaßen gegen Antisemitismus, wie gegen (antimuslimischen) Rassismus arbeitet, sind wir daher zur Zeit besonders stark gefordert: Das Erstarken der extremen Rechten, ihre rassistischen Deportationsfantasien, die Anfang des Jahres Millionen von Menschen auf die Straße getrieben haben, und die migrationsfeindlichen Diskursverschiebungen, die damit einhergehen, treiben uns in unserer Bildungsarbeit ebenso um, wie die besorgniserregenden Folgen des 7. Oktobers und Gaza-Krieges hierzulande, allen voran der enorme Anstieg von antisemitischem Hass, von Hetze und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in den vergangen Monaten.

Dass wir ausgerechnet in diesen krisenhaften Zeiten unser 30-jähriges Bestehen feiern durften, steht vielleicht ein Stückweit sinnbildlich für diese Gleichzeitigkeiten, mit denen wir es in unserem Arbeitsfeld zu tun haben, zeigt aber in unseren Augen natürlich auch, dass es die Bildungsstätte Anne Frank und ihre Arbeit aktuell mehr braucht denn je.

„Wir stellen uns seit einigen Jahren verstärkt dem digitalen Wandel“

Können Sie uns beschreiben, wie sich die Arbeit der BS Anne Frank in den drei Jahrzehnten verändert hat?  
Zunächst der Transparenz halber: Ich bin erst seit 2020 in der Bildungsstätte und kann deshalb nicht aus erster Hand aus 30 Jahren berichten. Aus vielen Gesprächen mit Kolleg*innen und den Gründungsmitgliedern unseres Vereins weiß ich aber, dass die Bildungsstätte im Laufe der Jahrzehnte nicht nur enorm gewachsen ist, von einem maßgeblich ehrenamtlich getragenen Verein hin zu einer NGO mit heute mehr als 50 hauptamtlichen und vielen freiberuflichen Kräften.

Die Bildungsstätte Anne Frank ist auch inhaltlich enorm gewachsen und im besten Sinne mit der Zeit gegangen, um auf die jeweils neuen Herausforderungen und Debatten unserer Gesellschaft reagieren zu können. So arbeiten wir heute mit sehr unterschiedlichsten Zielgruppen – neben Schüler*innen und Lehrkräften finden beispielsweise auch Mitarbeitende aus Behörden, Unternehmen, Medien oder Kulturinstitutionen ein auf ihre Bedarfe zugeschnittenes Beratungs- und Fortbildungsangebot.

Zudem stellen wir uns seit einigen Jahren verstärkt dem digitalen Wandel, indem wir etwa ein preisgekröntes Mobile-Game entwickelt, unser interaktives Lernlabor „Anne Frank. Morgen mehr.“ fortlaufend aktualisiert oder unsere politische Bildung in den Sozialen Netzwerken stark ausgebaut haben.

Aber auch, indem wir die Entwicklungen rund um unsere Schwerpunktthemen Antisemitismus und Rassismus im digitalen Raum kontinuierlich analysieren und in Veröffentlichungen und Veranstaltungen einfließen lassen, seien es der Umgang mit Verschwörungserzählungen und Hate Speech, extrem rechte und andere menschenfeindliche Kommunikationsstrategien auf TikTok oder die Herausforderungen und Chancen, die die Künstliche Intelligenz für unsere politische Bildungsarbeit mit sich bringen.

Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank entwickelt eigene Formate auf TikTok

Durch die Einflüsse von Social Media erleben wir, wie viele junge Menschen sich von den Inhalten einer rechten Partei angezogen fühlen. Die Ergebnisse der Landtagswahlen lassen darauf schließen, dass dies auch zu Wahlentscheidungen führt. Wie richtet sich Ihre Bildungsarbeit darauf aus?
Nicht erst seit den aktuellen Landtagswahlen haben wir ein verstärktes Auge auf digitale Trends und insbesondere auch die Kommunikationsstrategien der extremen Rechten auf TikTok und anderen Plattformen.

Zur Europawahl haben wir unsere Analysen bereits im Adhoc-Report „Das TikTok-Universum der (extremen) Rechten“ zusammengefasst, um die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit auf die von den demokratischen Parteien, aber auch von Bildungsinstitutionen oder der Zivilgesellschaft noch dramatisch vernachlässigte Plattform zu lenken, die aktuell Leitmedium junger Menschen ist. Zuvor hatten wir bereits die Schwemme an antisemitischen Inhalten auf TikTok infolge des 7. Oktobers in einem Report in den Blick genommen.

Unsere Bildungsarbeit denken wir bereits seit Jahren konsequent auch digital – das bedeutet, dass wir nicht nur Workshops und Seminare durchführen, sondern auch ein inhaltlich breit aufgestelltes Social-Media-Team haben, das in Zusammenarbeit mit Content-Creator*innen und spezialisierten Agenturen selbst TikToks-, YouTube-Formate oder Instagram-Kampagnen entwickelt, um junge Menschen mit unseren Inhalten zu erreichen.

Info
Die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt ist bundesweit aktiv, um Jugendliche und Erwachsene für Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit zu sensibilisieren – und sie für die aktive Teilhabe an einer offenen, demokratischen Gesellschaft zu stärken. Seit ihrer Gründung 1994 orientiert sich die Bildungsstätte in ihrem vielfältigen Engagement an Anne Franks Wunsch nach einer Welt ohne Hass und Gewalt und der humanistischen Botschaft ihres weltberühmten Tagebuchs.


Schüler und Lehrer scheinen überfordert im Umgang mit dem 7. Oktober

Sie haben den ersten Jahrestag des 7. Oktobers zum Anlass genommen, die aktuellen Bedarfe an Schulen systematisch zu erfassen und die Ergebnisse soeben dazu veröffentlicht. Inwiefern sind der 7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg ein Jahr später noch Thema in den Schulen und wie gehen die Lehrkräfte damit um?
Wir mussten feststellen: Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas scheint es an deutschen Schulen keine intuitive Form des Erinnerns an die Geschehnisse und Opfer des 7. Oktobers zu geben. Mehr als die Hälfte der insgesamt 159 befragten Lehrkräfte gab an, den ersten Jahrestag des 7. Oktobers in der Schule nicht zu thematisieren. Es fehlt ihnen vor allem an zeitlichen und materiellen Ressourcen dafür.

Bildungsreform und digitale Bildungsoffensive vonnöten

Unsere Umfrage bestärkte uns zudem in dem Eindruck, dass der laufende Krieg in Gaza und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung das Gedenken an den 7. Oktober überlagert. Darüber hinaus offenbaren die Ergebnisse eine strukturell bedingte Hilflosigkeit im Umgang mit den digitalen Medien – obwohl Schüler*innen sich ihren Lehrkräften zufolge insbesondere durch die Sozialen Medien und an zweiter Stelle über Familie und Freund*innen über den sogenannten Nahostkonflikt informieren. Und den Antworten zufolge regelmäßig auch problematische Inhalte in der Schule teilen, findet ein pädagogisch gerahmtes Sprechen darüber, was die Jugendlichen im Netz erfahren, kaum statt.

Wir fordern deshalb eine digitale Bildungsoffensive, die alle an Schulen tätigen Personen dazu befähigt, materiell wie kognitiv mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten, um zu verstehen, in welchen digitalen Räumen sich Kinder und Jugendliche wie bewegen und wie man sie dabei unterstützen kann.

Zudem ist die Politik gefragt, das Bildungssystem dahingehend zu reformieren, dass Lehrkräfte die notwendige Zeit aufbringen können, die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit in der Schule aufzufangen. Ob und wie der Nahostkonflikt und andere drängende Fragen in der Schule behandelt werden, darf nicht vom Engagement einer einzelnen Lehrkraft abhängen. Dazu bedarf es auch einer Stärkung außerschulischer Lernorte und Angebote der politischen Bildung – denn allein können Schulen nicht alles richten.

Problem des strukturellen und institutionellen Antisemitismus

Sie hatten bei der Veranstaltung „Let's talk“ über den 7. Oktober, den Krieg und die Folgen für Deutschland" Julia Bernstein eingeladen. Bereits im Vorfeld wurde die Frankfurter  Antisemitismusforscherin Julia Bernstein massiv angefeindet und auch bedroht. Wie kann verhindert werden, dass Forscher, die sich dem Thema Antisemitismus objektiv nähern, selbst zum Opfer von Hetzkampagnen werden?  
Die persönlichen antisemitischen Angriffe gegen Julia Bernstein bedauern wir sehr und verurteilen sie aufs Schärfste. Rund um unsere Fokustage „Let’s Talk“ waren wir dazu intensiv mit unserer Referentin, der Frankfurt University of Applied Sciences, Polizei und Sicherheitskräften im Gespräch.

Letzten Endes konnten wir unsere Veranstaltungen alle ungestört und ohne größere Zwischenfälle durchführen – das ändert aber nichts an der für sie persönlich und viele weitere jüdische Wissenschaftler*innen und Studierende bedrohlichen Situation an den Hochschulen. Hier haben wir es mit einer strukturellen und institutionellen Form des Antisemitismus zu tun, die über den Einzelfall hinausgeht.

Unser Augenmerk sollte auch auf der Art und Weise liegen, wie wir Debatten führen. Wir beobachten vermehrt, dass die Hemmschwelle für antisemitische Anfeindungen im öffentlichen Raum sinkt. Mehr denn je braucht es also Allys, die sich auch öffentlich empathisch und solidarisch zeigen.

„Wir müssen wegkommen von einem einfachen Gut-Böse-Schema im Diskursklima“

Die Veranstaltung war eine Einladung zum offenen Diskurs. Ist dieser momentan denn überhaupt möglich? Wie können wir Diskursräume schaffen, in denen ein Austausch ohne Angst stattfindet?
Ob mit dem Fokus auf Hochschule oder Schulen, beim Austauschtreffen mit NGOs oder bei unseren öffentlichen Abendveranstaltungen: Die Fokustage „Let’s Talk“ haben uns darin bestärkt, dass Dialog und Austausch, auch über inhaltliche Differenzen hinweg möglich und dringend notwendig sind.

Wir müssen wegkommen von einem Diskursklima, in dem nur noch nach einfachem Gut-Böse-Schema operiert wird und ein historisch wie politisch komplexer Konflikt wie in Israel/Palästina reduziert wird auf das Muster eines Fußballspiels, in dem es eine Seite anzufeuern gilt. Wir müssen als Gesellschaft dringend die Fähigkeit zum Perspektivwechsel trainieren, Gleichzeitigkeiten und Unterschiede aushalten – und das gelingt nur, wenn wir Begegnung auch zulassen.

Ich denke, gerade unser ausgebuchtes Abschlussevent von Let’s Talk, das Abendessen „Sparkle of Hope“, bei dem Menschen aus Kultur und Sport, aus der Gastronomie, der Comedyszene, der Nothilfe oder Bildungsarbeit hoffnungsstiftende Beispiele gegeben haben, wo und wie (muslimisch-jüdischer) Dialog aktuell noch funktioniert, hat uns darin bestätigt.

Info
Deborah Schnabel ist seit 2022 Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank.
 
Fotogalerie:
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2. Oktober 2024, 11.00 Uhr
Jasmin Schülke
 
Jasmin Schülke
Studium der Publizistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Oktober 2021 Chefredakteurin beim Journal Frankfurt. – Mehr von Jasmin Schülke >>
 
 
 
 
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